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Renaissance der Dokumentation

Dokumentation zeigt Reales, und Spielfilm zeigt Erfundenes - diese klassische Definition weicht beim Film immer weiter auf. Und nicht nur das ändert sich. Der Dokumentarfilm, nicht nur der historische, gewinnt immer mehr an Bedeutung - sowohl in Zahlen als auch ästhetisch.

Von Rüdiger Suchsland |
    2008 erlebte der Dokumentarfilm seine Renaissance als Kunstform. Vor vier Jahren hatte zwar schon der Amerikaner Michael Moore mit Fahrenheit 9/11 in Cannes die Goldene Palme gewonnen - doch der Film selbst war plumper Agitprop, witzig und sympathisch vielleicht, aber auch politisch und ästhetisch naiv.

    Das ist jetzt ganz anders: Im Vergleich zur Dominanz des mehr oder weniger gepflegten Mainstream im auch europäischen Spielfilm entpuppte sich der Dokumentarfilm in dem vergangenen zwölf Monaten als das eigentliche innovative Genre:

    Sphärische Klänge ertönen, die im Hirn des Zuhörers sofort auf die unendlichen Weiten des Weltraums verweisen. Interkosmos heißt ein Film des US-amerikanischen Regisseurs Jim Finn. Darin dokumentiert er ein geheimes Raumfahrtprojekt der DDR in den 70er Jahren - das es nie gab. Aber ähnlich wie Good Bye Lenin spinnt der Film eine mögliche DDR-Geschichte - und enthüllt auf diese Weise manche Wahrheit.

    Interkosmos ist eine Fake-Doku, eine Dokumentation, die nur vortäuscht, eine zu sein.
    Etwas anders ist es mit seinem neuesten Film: La trinchera luminosa. Der zeigt in einem Frauengefängnis eine Gruppe von Gefangenen der peruanischen Maoistenguerilla "Leuchtender Pfad".

    Natürlich konnte Finn ein solches Gefängnis nicht besuchen. Aber alle Sätze, die er seinen Figuren in den Mund legt, auch alle Propagandaphrasen, sind authentisch. Das Ergebnis ist ein beklemmendes Zeugnis von Ideologie und Verbohrtheit.

    Finns Filme - jahrelang Geheimtips unter Eingeweihten, die 2008 bei Retrospektiven seines Werks auf Festivals in Buenos Aires, Vancouver und im spanischen Gijon einen Durchbruch erlebten - sind völlig erfunden, und doch dokumentieren sie etwas.

    Was ist wahr, was ist falsch, was ist echt, und was ist künstlich? Noch immer glauben manche, solche Fragen dürfe man in einem Dokumentarfilm nicht stellen. Denn ein Dokumentarfilm hat selbstverständlich Authentisches zu zeigen, eben: zu dokumentieren. Tatsächlich ist es genau umgekehrt: Bei einer Fiktion weiß man, dass sie fiktiv ist. Bei einem Dokumentarfilm muss der Betrachter erst herausfinden, welche Bilder authentisch sind, welche gestellt.

    Im Jahr 2008 nun gab es einige Filme, die das Problem der Bilder im Dokumentarfilm weitaus origineller lösten, zeigten, dass es auch anders geht: Beim Filmfestival in Cannes lief On Time And The City, ein großartiger subjektiver Bewusstseinsstrom aus Filmausschnitten vom britischen Spielfilmregisseur Terrence Davis über seine Heimatstadt Liverpool. Der Film wurde gefeiert, blieb aber danach eher unbeachtet.

    Anders erging es Waltz With Bashir, der gleichfalls in Cannes Premiere hatte. Vor wenigen Wochen gewann der in Deutschland produzierte Dokumentarfilm einen Europäischen Filmpreis - zur Zeit läuft er noch in den deutschen Kino. Waltz With Bashir ist der erste vollständige Zeichentrick-Dokumentarfilm der Welt.

    Zeichentrick und Dokumentarfilm - das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Der israelische Regisseur Ariel Folman nutzt die Technik, um seine Träume und seine oft unfertigen, vagen, gelegentlich surrealen Erinnerungsbilder an die persönliche Erfahrung im Libanonkrieg darzustellen - und um das Nichtdokumentierte dem Vergessen zu entreißen, ihm Bilder zurückzugeben: Dem Massaker von Sabra und Shatila, das Folman miterlebte, und von dem es kaum Filmaufnahmen gibt.

    In Frankreich läuft gerade ein anderer, neuer Dokumentarfilm, der ebenfalls vom Libanon erzählt, aber einen völlig anderen Zugang wählt: Je Veut Voir - Ich will sehen, heißt er und stammt von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige, zwei Libanesen aus Beirut. Ihnen ist ein regelrechter Coup gelungen: Keine Geringere als Catherine Deneuve willigte ein, ohne Geld mit ihnen im kriegsversehrten Beirut zu drehen.

    In dem Film spielt die Deneuve - sich selbst. Sie fährt im Auto durch die Trümmerlandschaft von Beirut, und während sich in ihrem immer noch schönen Gesicht die Ruinen spiegeln, stellt sie neugierige Fragen zu den Verhältnissen, lernt, dass auch Trümmer ihre Geschichte haben, und manche Ruine in Beirut eben schon 30 Jahre alt ist.

    Die Deneuve plaudert aber auch mal mit ihrem Mitfahrer über ihre Filme oder die Arbeit mit Größen wie Bunuel. Sie bleibt also immer sie selbst - ein irgendwie auch entrückter Star - , und gaukelt so dem Zuschauer nie irgendeine gemeinsame Ebene vor, die es gar nicht geben kann - weder mit ihnen, noch mit den Menschen im Libanon. Denn die Deneuve wird bald wieder aus Beirut abfliegen, die meisten Menschen aber müssen zwischen den Ruinen leben.

    "Wir wollten keine weinenden Frauen und Kinder zeigen, wie das so viele Filme tun", sagt Khalil Joreige, "nicht weil es das nicht gäbe. Im Gegenteil: Das gibt es zuviel. Wir wollten dem Voyeurismus entfliehen, zu dem der Krieg uns zwingt, und neue Bilder finden."

    Indem die beiden Filmemacher in Ruinen filmten, reflektieren sie über das Filmen in Ruinen. Und ein Filmstar wie Catherine Deneuve wird zum Medium eines Dokumentarfilms und der Frage: Was kann man überhaupt sehen, wenn man einen Dokumentarfilm sieht?

    Immerhin rund 90 Dokumentarfilme kamen 2008 in die deutschen Kinos - ein recht hoher Anteil gemessen an 600 Filmstarts insgesamt. Gerade in Deutschland, wo künstlerisch interessante Spielfilme zuletzt etwas rarer waren, war 2008 für den Dokumentarfilm ein gutes Jahr:

    Ob Hartmut Bitomsky mit Staub, Alexander Riedel mit Draussen bleiben, Football Under Cover von Ayat Najafi und David Assmann - sie alle sind visuell und erzählerisch originelle Beispiele dafür, dass die wahren Innovationen des Kinos derzeit im Dokumentarfilm stattfinden.

    Der originellste deutsche Dokumentarfilm war aber: Lenin kam nur bis Lüdenscheid, Richard David Prechts Biografie einer Jugend als Kommunistenkind in Westdeutschland. Auch hier dienen künstliche, im Stil alter Super-8-Homevideos nachinszenierte Bilder zur Darstellung von Wirklichkeit. Auch hier geht es um Erinnerung. Denn nicht anders als einige der besten Spielfilme, bewegt auch die Dokumentarfilmer die Suche nach der verlorenen Zeit.