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Renaissance der Religionen

Für Peter Sloterdijk sind Religionen spirituelle Übungsräume, verlässliche Turnhallen des Geistes. Der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho sieht im Menschen das zeremonielle Tier. Sie trafen sich auf Schloss Neuhardenberg und sprachen über eine Renaissance der Religionen.

Von Arno Orzessek | 22.10.2012
    Es war der Moderator Manfred Osten, der das intellektuelle Gipfeltreffen zwischen Peter Sloterdijk und Thomas Macho sogleich in entspannte Soirée-Atmosphäre tauchte.

    Und zwar, indem er die Anekdote zum besten gab,

    "wonach ein gläubiger Christ heute zwar noch in den Himmel kommt, aber dort nicht mehr von Petrus empfangen wird, sondern von Luzifer persönlich, mit der Bemerkung: ‚Auch wir haben hier längst fusioniert.’"

    Gott oder Teufel - die einst eminenteste Unterscheidung im christlichen Abendland juckt in der säkularisierten Gesellschaft nur noch eine Minderheit. Gleichwohl werden in den "religiösen Hobbykellern" - ein Wort Manfred Ostens - jede Menge individuelle Werkstücke des Glaubens, der Spiritualität und der Esoterik angefertigt.

    Weshalb Thomas Macho diagnostizierte:

    "Wenn es eine Renaissance gibt, dann keine Renaissance der Religionen, auch wenn das gelegentlich behauptet wurde, sondern - diffus und anders und noch zu präzisieren - eine Renaissance des Religiösen."

    Peter Sloterdijk deutete die Geschichte der jüdisch-christlichen Religion als Herrschaft einer Angstagentur, die weltlichen Rechtssystemen einst überweltlichen Nachdruck verschafft hat, und behauptete:

    "Dass seit 2500 Jahren Religion in Europa nur ein anderes Wort ist für Phobokratie. Das heißt, die Seelenlenkung oder Herrschaft des Menschen durch die Furcht. Wenn der Eid-Leistende die Folgen des Meineids nicht fürchtet wie die ewige Hölle, dann wird er eben falsch schwören... Die Hölle beziehungsweise das Jenseits ist ein Teil des Rechtssystems. Heute würde man sagen, die Hölle ist ein Verfassungsorgan."
    Womit es natürlich längst vorbei ist:

    "Weil die Kirchen selber die furchtherrschaftliche Herangehensweise an das Glaubensbedürfnis der Menschen, überhaupt auch die Moral der Menschen so gut wie vollständig aufgegeben haben. Es gibt noch Angstsekten, aber es gibt keine Furchtkirchen mehr."-

    Mit Kontroversen wollten Sloterdijk und Macho das Publikum nicht unterhalten. Einig waren sie sich auch darin, dass Rituale und Zeremonien, ehemals die Hauptstücke des religiösen Lebens, mittlerweile höchst profanen Tätigkeiten religiöse Inbrunst verleihen.

    "Vor Kurzem war ein toller, richtig fescher Aufsatz im Spiegel über Shopping als Religion. Und man liest das und sagt: Okay, stimmt! Und zwar weil der Verfasser, wenn er mal diesen Blick entwickelt hat, quasi ethnographischen Blick, entdeckt tatsächlich neues Ritualverhalten. Und sobald man Ritualisierungen entdeckt, ist man ganz nahe bei dem Stoff, aus dem die sogenannten Religionen sind."

    Religion ohne höheres Wesen, Religion ohne Kirche, Shopping als Religion - was orthodoxen Gläubigen der schiere Frevel ist, ist Sloterdijk durchaus genehm.

    "Man kann sich zum ersten Mal positiv darüber Rechenschaft ablegen, dass Religiosität im Grunde so etwas Ähnliches ist wie Musikalität oder wie Sinn für Lyrik. Und wehe dem, der glaubt, dass sei eine herabsetzende Charakterisierung. Denn: Wir haben nichts Besseres."
    Auch ohne Spekulation auf Jenseitiges, so Thomas Macho, erfüllt religiöse Sensibilität einen guten Zweck im menschlichen Bewusstseinshaushalt.

    "Das ist, dass man im Religiösen in ein Verhältnis einzutreten versucht zu dem, was nicht einfach gesagt, berechnet, abgebildet und dargestellt werden kann."

    Es war eine Debatte ganz ohne politische Schärfe, so leicht und weich, wie draußen das erlesene Oktoberlicht. Folgt man Sloterdijk und Macho, bleibt den säkularen Menschen von der alten Religion immerhin noch die religiöse Gestimmtheit übrig. Das Publikum dankte für diese Erkenntnis mit viel Applaus.