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Renaissance des Labyrinths

Anders als im Irrgarten gibt es im Labyrinth nur einen Weg. Wer ihm folgt, gelangt automatisch ins Zentrum. In vielen Kulturen gilt es daher als ein Sinnbild für das Leben.

Von Johanna Risse |
    Fischerhude, bei Bremen. Helge Burggrabe schreitet über den Vorplatz eines Kindergartens. Die Pflastersteine bilden einen großen Kreis, gegliedert in vier Vierteln, aus elf konzentrischen Bahnen. Helge Burggrabe läuft Bahn für Bahn durch 28 Haarnadelkurven in das Kreisinnere und landet in der Mitte: in einer sechsblättrigen Rose. Es ist die typische Form eines mittelalterlichen Bodenlabyrinthes, wie es etwa noch heute in der berühmten Kathedrale von Chartres in Frankreich zu finden ist. Der Komponist und Buchautor Helge Burggrabe hat es in Bremen nachgebaut. Labyrinthe faszinieren ihn schon seit vielen Jahren – und nicht nur ihn:

    "Die Renaissance dieser Labyrinthe ist seit 30, 40 Jahren im Gange. Davor war das eigentlich ein Symbol, was von der Bildfläche verschwunden ist. Meine Beobachtung ist, dass an vielen Stellen gerade neue Labyrinthplätze entstehen, weil es anscheinend wieder wichtig geworden ist für uns heutige Menschen."

    Auch die Mitglieder der Kirchenwerkstatt der katholischen Gemeinde Sankt Stephan in Brühl hatten vor zwei Jahren die Idee, in ihrer Kirche ein Labyrinth zu bauen.

    Die Bänke in Sankt Stephan sind weggeräumt, auf dem Boden: eine riesige Holzplatte, darauf aufgetragen: ein christliches Labyrinth, ähnlich wie in Chartres. Fünf Wochen ist es hier begehbar. Markus Dörstel, Pastoralreferent der Gemeinde:

    "Das Ziel christlich-gemeindlichen Arbeitens ist, Gottesbeziehungen herzustellen. Und das ist im Letzten auch das, was wir uns von dem Labyrinth erhoffen. Früher war es ja so, dass Kirchenlabyrinthe, so wie man sie aus der Zeit des Mittelalters kennt, da war in der Mitte eine Christusdarstellung. Und das ist der Gedanke, der beim Gehen im Labyrinth immer da ist."

    Auch in einer der ältesten überhaupt erhaltenen Kathedralen, der Reparatusbasilika in El Asnam in Algerien gibt es ein Bodenlabyrinth. Zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert entstanden in christlichen Kirchen vor allem in Italien und Nordfrankreich immer mehr solcher Labyrinthe. Neben Notre-Dame in Chartres beherbergen auch Kathedralen in d’Amiens und Siena noch heute begehbare Fußbodenlabyrinthe. Ihre Form entstand aus einer der Urformen des Labyrinthes, dem kretischen Labyrinth.

    Es ist der Ort des griechischen Heldenmythos von Theseus und dessen Kampf mit dem stierähnlichen Minotaurus im Labyrinth-Gefängnis. Königstochter Ariadne hatte Theseus einen roten Faden in das Labyrinth-Gefängnis mitgegeben, damit er nach dem Kampf mit Minotaurus den Weg zum Ausgang wiederfinden würde. Der Theseus-Mythos wurde später im Christentum als Geschichte für die Rettung des Menschen ausgelegt, sagt Labyrinth-Experte Helge Burggrabe.

    "Im christlichen Kontext wurde Theseus als Präfiguration Christi gesehen. Christus ist der neue Theseus. Das heißt also die Mitte des Labyrinths, die vorchristlich das Böse war, vielleicht auch gefährlich, ist jetzt durch Jesus Christus nicht mehr gefährlich. Sondern wir können uns getrost auf den Weg machen, denn in der Mitte wartet Christus auf uns, das ist die christliche Deutung. Wieder einmal wurde ein vorchristliches Symbol mit christlichem Inhalt verbunden, weil es unmittelbare Anknüpfungspunkte gab."

    Anknüpfungspunkte boten auch die Form. Aus den sieben Bahnen des kretischen Labyrinths werden elf Umgänge, die die Unvollkommenheit des Menschen symbolisieren. Vollkommen ist die Mitte – die zwölfte Bahn – eine heilige Zahl.
    Pendelbewegungen – hin und zurück, Umwege, die dennoch unbeirrt zum Ziel, zur Mitte führen – der labyrinthische Weg wurde im Christentum zum Pilgerweg umgedeutet. Die Linien zu durchschreiten, versprach Erlösung. Für Arme ersetzte es die Pilgerreise ins Heilige Land. In den gotischen Kirchen befindet sich das Labyrinth daher immer im Eingangsbereich, auf dem Weg zum Altar. Das Kirchenlabyrinth in Chartres kommt auf die stattliche Weglänge von rund 260 Metern. Den tieferen Sinn der Labyrinth-Begehung versucht Komponist Helge Burggrabe auch mit seiner Musik hörbar zu machen.

    "Das Chartres-Labyrinth hat elf Umgänge, und diese elf bedeutet Arbeit. Und zwar hat man auch das Wort "labor intus" dafür gebraucht, die innere Arbeit, und das ist eigentlich auch die Erfahrung, die man macht: das gebaute Prinzip Umweg, und diese Mühsal kann man auch hörbar machen, wir haben ja in unserer Musik die elf Halbtöne, bevor dann der zwölfte Halbton die Oktave ist. Und wenn man jetzt auf jeden Ring einen Halbton drauflegt, dann hört man diese Arbeit, diese Reibung und man hört auch interessanterweise, dass man am Ende dieses Weges wieder sehr sprunghaft in die Mitte geführt wird."

    Handschriften belegen, dass Priester am Ostersonntag singend durch die gotischen Kirchenlabyrinthe tanzten und den Geistlichen am Rand einen Ball über die Grenzlinien zuwarfen. Der Ball symbolisierte die Auferstehung Christi. Solche und ähnliche Rituale verschwanden später wieder, im 18. Jahrhundert wurden die meisten gotischen Kirchenlabyrinthe aus den Sakralräumen entfernt.