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Repertoiretauglich?

Leicht rheingoldig funkelt die frühe Morgen-Musik von Jörg Widmann zunächst. Doch es gilt nicht dem als Folie für das kapitalistisch aufstrebende 19. Jahrhundert fungierenden altgermanischen Mythos, sondern einer Handlung, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus in den Bereich des Denkbaren rückte - wenn vielleicht auch nicht in einer solchen opernhaften Überspitzung.

Von Frieder Reininghaus | 30.01.2005
    Fein überblasen werden verschiedene Instrumente oder anderweitig obertonreich in Bewegung versetzt, der Raumklang auch etwas live-eletronisch angereichert und mit fein ausgehörten Effekten der reich bestückten Schlagwerk-Batterie garniert; dann vom Gesang eines Trupps Rheintöchter der Chorakademie Kempen überwölbt: Der Tag bricht an, an dem die Börse einbricht.
    Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Die klassischste aller Empfehlungen für Theaterdichter hat Roland Schimmelpfennig beherzigt, als er einen Operntext für Jörg Widmann schrieb: Patrizia besitzt und leitet eine High-Tech-Firma. Die Ehe mit Bruno hat sich zur bloßen Geschäftspartnerschaft ausgedünnt als die Kurse des Neuen Markes einzuknicken beginnen und abstürzen. Doch P&B kann durchstarten, da dem leitenden Bioingenieur Milton und dessen Team ein Durchbruch gelang: Sie bringen ein Geschöpf auf den Markt, das aus den Genen der Firmenchefin in deren Bestzustand geklont wurde: Jung, fortdauernd jung sogar (also und nicht alterungsanfällig), so gut wie unzerstörbar (da entnommene Zellen oder Körperteile in wenigen Stunden nachwachsen), mithin tendenziell unsterblich und - so will es die Kunstgattung - mit seraphisch schöner Stimme begabt. Vom Himmel hoch da kommt sie her: Regisseur Andreas Baesler, der immer wieder auch kräftig in die Stadttheater-Klamauk-Kiste greift, lässt das Wesen mit dem völlig unvorbelastetem Kopf wie einen Berockengel vom Bühnenhimmel herunterschweben. Es wird - wohl in Anspielung auf den berühmten Bildungs- und Aufklärungsroman des Marquis de Sade - auf den Namen Justine getauft.

    Die Gehirnzellen Justines erweisen sich in kürzester Zeit als enorm gelehrig - vom bloß melismatischen Singen geht Isabelle Razawi zum prononcieren einzelner Worte und Satzteile und dann, stets Fülle des Wohllauts verströmend, in Arie mit Text über. Das Produkt aus der Retorte wird ganz Mensch - und von Bruno noch in selbiger Nacht als Weibchen in Betrieb genommen, was zu den schauderhaftesten Eifersuchtsanfällen der Originalgattin führt. Heulen und Zähneklappern, erhobene Büroschere beim Anrobben über den riesigen Schreibtisch und Zusammenbruch an der Sitzgarnitur.

    Harald B. Thor hat für die Vereinigten Bühnen am linken Niederrhein eine Welt der Neureichen entworfen, in der sich denkwürdige Versatzstücke alter Kultur finden - mittelalterliche Fresken neben den Rundbogen und ein Michelangelo-Zitat: den Adam der Sixtinischen Kapelle. Das ist ein vielleicht allzu deutlicher Fingerzeig: Jeder hört, dass es hier noch einmal um einen Schöpfungsakt und einige aus seinem Zeitpunkt und seinen Umständen sich ergebende Komplikationen geht.

    Schimmelpfennigs Text, der den Herrn Bruno per Flugzeugabsturz aus der Bühnenwelt schafft, nimmt es mit der Logik der ewigen Jugend bei gleichzeitig alternder Erfahrung nicht eben ernst und gleitet zunehmend in die Gefilde der Vorabend-Soap. So weist das im Prinzip sehr konventionell gestrickte Libretto einen womöglich absichtsvoll als anachronistisch opernhaft gedachten Konstruktionsfehler auf. Baeslers Inszenierung versucht ihn nicht zu überspielen. Indem ein Experimentiertisch wie aus dem 19. Jahrhundert, keine gläserne und chromglänzende Labor-Architektur das Vier-Personen-Stück dekoriert, verweist die Produktion optisch eher auf Operngeschichte als auf Musiktheater-Zukunft: Noch einmal geht es um die archetypische Angst vor dem Altern und den Liebesverlust der Ehefrau sowie die Rivalin. Die hier aber nicht "echt" ist. Freilich die Figur, die am Ende zu den "echtesten" Gefühlen befähigt wird. Im nach und nach retardierten Tonsatz Widmanns erweist sich die Kunstfrau in der Trauer um den Mann jener einen Nacht als eine wahre Seele. Wenn das kein tröstliches Finale bedeutet! Der Beifall war gewiss. Wie bereits in München, so auch jetzt in Krefeld.