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Resozialisieren statt wegsperren

Das EU-Mitglied Litauen hat noch Defizite bei der Demokratisierung. Das zeigt auch das Beispiel "Strafvollzug". Galt es früher, die Häftlinge zu bestrafen, so versucht man heute, sie zu resozialisieren. Keine leichte Übung, wenn die Wachmannschaft noch dem alten Drill verpflichtet ist. Mit Hilfe von EU-Geldern will die Regierung das Gefängnispersonal nun schulen und die Häftlinge auf ein Leben nach dem Knast vorbereiten. Ein Beitrag von Birgit Johannsmeier.

05.04.2006
    Freitagmittag, 12 Uhr. Die ganze Woche lang hat Kestitus darauf gewartet, dass der Wärter seine Zellentür öffnet und ihn zum Gefängnispsychologen führt. Kestitus ist 37 Jahre alt. Ein kräftiger groß gewachsener Mann. Hals und Hände sind mit grünen Schlangenmotiven tätowiert. Bei einem Streit im Gefängnis hat der Häftling seinen Zelleninsassen erschlagen, das war vor zehn Jahren. Kestitus wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und sitzt seitdem in Einzelhaft. Dennoch begegnet er einem mit einem offenen, freundlichen Lachen.

    " Ich habe zehn Jahre lang mit niemandem gesprochen. Ich war immer allein. Ich konnte Gedanken formulieren, brachte aber kein Wort über die Lippen. Erst bei dem Psychologen habe ich wieder gelernt, auf andere Menschen zuzugehen. "

    In der Gruppentherapie bei Romas Rasavicius wird viel geredet, über das Leben philosophiert, gestritten oder gelacht. Der Gefängnispsychologe will die Häftlinge auf ein Leben nach dem Knast vorbereiten. Denn sich wieder in die Gesellschaft einzufinden, muss im Gefängnis beginnen, darauf legen litauische Politiker mittlerweile Wert. Der Psychologe Romas Rasavicius spürt allerdings täglich, dass das Gefängnispersonal nicht viel von den Reformen im Strafvollzug hält.

    " Hier im Gefängnis habe ich das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben. Es herrscht noch immer ein militärischer Drill, wie im Sozialismus. Für die Aufseher stelle ich eine Bedrohung dar. Es ist ihnen lästig, die Gefangenen zu mir zu führen. Und sie wittern ständig Gefahr, dass es in lockerer Atmosphäre zu einem Aufstand kommen könnte. Den Wärtern wäre es lieber, wenn alles beim Alten geblieben wäre. "

    Die Erlebnisse im Gefängnis will der Psychologe für seine Examensarbeit verwenden.

    Über das Internet tauscht er sich mit seiner Professorin aus. Rita Bandzeviciene hat sich direkt nach der Unabhängigkeit vor 15 Jahren für eine psychologische Betreuung in den litauischen Haftanstalten ausgesprochen und in der Hauptstadt Vilnius einen Studiengang für Rechtspsychologie aufgebaut.

    " Im Sozialismus sollten die Gefängnisse nur als Ort der Bestrafung dienen. Deshalb war das Haftmaß immer sehr hoch, mindestens 2-3 Jahre ging jeder Verurteilte in den Knast. Theoretisch hätten die Häftlinge dann als bessere Menschen entlassen werden sollen, aber natürlich war das Gegenteil der Fall. Im Knast verrohten sie und wurden unfähig, für ein Leben danach. "

    Rita Bandzeviciene konnte durchsetzen, dass jede Haftanstalt heute mindestens einen Psychologen für 300 Insassen einstellen muss. Aber die Professorin arbeitet auch daran, die Haltung in der Litauischen Gesellschaft zu verändern.

    " Die Gefängnisse waren immer geschlossene Orte, Terra inkognita, niemand wusste, was dort passierte. Deshalb halte ich auch Vorlesungen vor Ort im Knast. Sie sind für alle angehenden Psychologen Pflicht. Die jungen Leute sollen ihre Ängste überwinden und den Häftlingen Auge in Auge gegenüberstehen. Diese Erfahrungen werden sie später mit ihren Eltern und Freunden teilen. Denn eines Tages werden die Gefangenen entlassen und könnten unsere Nachbarn sein. "

    Allerdings hat der Psychologe Romas Razavicius beobachtet, dass der Litauische Staat die Entlassenen häufig alleine lässt. Darum unterstützt er die "Unabhängige Litauische Häftlingshilfe". Mit europäischen Geldern hat dieser Verein ein Bildungszentrum eröffnet, in dem ehemalige Gefangene sich bei einem Teller heißer Suppe treffen, an einem Computerkurs teilnehmen und auch Arbeit finden können. Der 35-jährige Vitalij wurde vor einem Jahr zum zweiten Mal entlassen und arbeitet jetzt täglich in der Nähwerkstatt.

    " Ich nähe Hosen und Jacken für meine Freunde und Verwandten. Davon kann ich leben. Beim ersten Mal habe ich geklaut, um Lebensmittel zu kaufen und musste nach drei Monaten wieder zurück in den Knast. Jetzt habe ich eine Perspektive und kann mir sogar eine eigene Wohnung erlauben. "