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Rettet das Dia!

Der Künstler Martin Gottschild ist zurzeit mit seiner Dia-Show "Tiere streicheln Menschen" auf Tour. Die Dias hat er vom Flohmarkt. Darauf zu sehen sind ihm vollkommen unbekannte Menschen. Zu den Bildern erfindet er lustige, absurde und manchmal auch tragische Geschichten.

Von Johannes Nichelmann |
    "Wie schon die Indianer wussten, jedes Foto raubt ein bisschen die Seele, und wenn sie dann schon mal weg ist, ist es natürlich auch schade, wenn sie dann auch noch in den Mülleimer geworfen wird. Deswegen muss ich mich darum kümmern, dass sie weiterhin erhalten bleiben."

    Martin "Gotti" Gottschild steht vor der Bühne in einem Club in Berlin. Am Diaprojektor vergewissert sich der 35-jährige Mann mit Schnauzer, krausem Haar und Hosenträgern, ob er die kleinen Fotos, die er für seinen Auftritt braucht, in der richtigen Reihenfolge eingelegt hat. In circa einer Stunde beginnt seine Lesung "Tiere streicheln Menschen".

    "Da sind jetzt gerade Leute drauf, die ich nicht kenne. Die aber für Geschichten herhalten müssen und die vermutlich schon lange, lange tot sind. Ich versuche daraus eben halt, neue Geschichten zu zaubern. Spektakuläre Nachrichten und heitere Anekdoten."

    Die Bilder kauft der gebürtige Berliner auf Flohmärkten und präsentiert sie mit seiner ganz eigenen Interpretation. Dazu liest er aus seinen Kurzgeschichten. Der Künstler Sven Phantom begleitet das Ganze mit seinen Liedern. Die beiden kennen sich lange, waren sogar mal berühmt.

    2001 landen sie mit ihrer Band "Sofaplanet" den Erfolgshit "Liebficken". Was eigentlich als kleiner Gag auf der Platte gemeint war, wurde zum Aushängeschild für eine Band, die eigentlich ganz anders klingen wollte. Die Jungs waren jetzt in großen Fernsehshows zu sehen, standen in der "Bravo" und spielten Konzerte vor Tausenden von Menschen. Von der Schülerband in den Popstarhimmel.

    "Das war sehr angenehm, allerdings haben wir dann relativ schnell gemerkt, dass ja die Gesetze des Musikmarktes ähnlich hart sind, als wenn man als Verpacker am Fließband steht. Das ist ja so, als wenn man seinen Eltern die neue Freundin vorstellt und die sagen: "Die ist schick, tippi, toppi, alles gut." Und am nächsten Tag erzählen sie hinter vorgehaltener Hand, dass sie doch gerne hier die Haare kürzer und die Zähne ausschlagen. Bis sie so ist, wie sie sie gerne haben wollen. Irgendwie will man ja am Ende auch selber glücklich sein."

    Das Image sei ruiniert gewesen – "Liebficken" hätte der Band den falschen Stempel aufgedrückt. In der Musik sieht der damals 25-jährige keine Chance mehr. In seinen alten Beruf als Einzelhandelskaufmann will er auch nicht zurück - da besucht er eine Lesebühne und ist begeistert. Das will Gottschild auch machen - Geschichten erzählen.

    "So, auf geht‘s. 'Komm. Auf, rauf hier!' 'Ja!"

    "Tiere streicheln Menschen" beginnt. Der Saal ist voll, über einhundert Menschen sind gekommen. Gottschild nimmt an einem kleinen Holztisch Platz, knipst eine Leselampe an und stellt die ersten Dias vor. Ein zufälliger Urlaubsschnappschuss aus grauer Vorzeit, vermutlich aus den 80ern. Eine Frau mit Dauerwelle und Brille steht direkt vor einem Baum.

    "Ihr neues Kassengestell mit den entspiegelten Gleitsichtgläsern eröffnete Gitta Hornke, von ihren Freunden bisher nur "der Maulwurf" genannt, ganz neue Perspektiven. Nun war sie sich endlich hundertprozentig sicher! Bei dem verschwommenen Objekt dahinten handelt es sich eindeutig um einen.... Baum."

    "Gotti" trifft die Geschmacksnerven seiner Generation, die der Ostwendekinder. Seine Geschichten zu den Bildern erzählen häufig aus der End-80er Jugendzeit in der ehemaligen DDR. Auftritte finden auch mal in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen statt. Aber in Berlin und Umgebung finde er am meisten Zuspruch, erzählt er.

    Den Diaprojektor stellt er zur Seite. Dann liest er vor - aus einem knittrigen Manuskript. Er erzählt die Geschichte von einem nicht gerade tierfreundlichen Mäusezirkus, die er so auf einem Rummel erlebt haben will.

    "Joseph Fritzls Tierparadies. Die armen Mäuse. Sie waren in den Händen eines Irren gelandet. Die Stimmung im Mäusezirkus war dementsprechend überschaubar. Fast alle Mäuse hatten sich stattdessen in der Plastearena eines milde lächelnden Playmobil-Cäsars bei einem großen Haufen versammelt und schliefen oder waren bereits tot. Wie gut wir es doch hatten. Dieser Gedanke ging uns nicht mehr aus dem Kopf. Wir waren frei. Heute zum Beispiel hatten wir uns aus den unendlichen Möglichkeiten, die das Leben für uns bereithielt, dafür entschieden, diesen Mäusezirkus hier zu besuchen. Soviel Elend und Leid. Und wir hatten auch noch dafür bezahlt, es uns anzusehen."

    "Ich versuche, die Geschichten immer möglichst schlicht zu gestalten. Vordergründig sind sie wahrscheinlich von dem nicht besonders hellen Typen in ´nem dunklen Keller geschrieben. Aber sie haben trotzdem immer eine Botschaft und vermitteln auch wissen."

    Nach über zwei Stunden geht die Show zu Ende. Am Abend würden die Leute doch ein bisschen Entspannung suchen, resümiert Martin "Gotti" Gottschild. Das möchte er ihnen geben – und kann übrigens von seiner Kunst leben.


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