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Revolte im Orchestergraben

Seit Simon Rattles Amtsantritt als Chefdirigent 2002 bestreitet das Berliner Philharmonische Orchester seinen Ruf nicht mehr nur durch seinen berühmten weichen und seidenmatten Klang. Mit ihren Orchesterworkshops für Laien und ihren pädagogischen Veranstaltungen für Schulklassen sind die Berliner Philharmoniker zu einem Vorreiter für die moderne Vermittlung von klassischer Musik geworden. Damit haben sie nicht zum ersten Mal frischen Wind in die deutsche Orchesterlandschaft gebracht.

Von Matthias Nöther | 01.05.2007
    Am 30. April 1882 fand in Berlin ein Konzert unter Polizeischutz statt. Den preußischen Behörden war offenbar die Nachricht nicht geheuer, dass das Orchester des "Liegnitzer Stadtmusikus" Benjamin Bilse seit Monaten gegen seinen Leiter revoltierte. Dem Berliner Tageblatt schrieben die Musiker:

    "Herr Hofmusikdirektor Bilse gedenkt im Sommer in Warschau zu konzertieren, stellt seinem Orchester dafür aber finanziell unannehmbare Bedingungen. Beim Versuch einer Einigung war es den Orchestermitgliedern ganz unmöglich, zu Worte zu kommen und ihre bescheidenen Ansprüche auch nur zu nennen. So wählte sich das Orchester in der Person des königlichen Musikdirektors Ludwig von Brenner einstimmig einen neuen Dirigenten."

    Ein Orchester entließ seinen Chef und gab sich, am 1. Mai dann, eine eigene demokratische Geschäftsordnung, unerhörte Vorgänge im Obrigkeitsstaat der Bismarck-Ära. Fünf Jahre danach wurde mit Hans von Bülow erstmals ein Dirigent von Weltruhm dauerhaft verpflichtet. Die Philharmonie in Berlin-Kreuzberg, nach der sich auch das Orchester noch im Gründungsjahr seinen Namen gab, war eine ehemalige Rollschuhbahn.

    Beethovens Fünfte, gespielt unter Bülows Nachfolger Artur Nikisch 1913: Damit hatten die Philharmoniker als weltweit erstes Orchester eine komplette Symphonie für das Grammophon eingespielt. Technisch hatten sie seit dieser Zeit häufig die Nase vorn. Insbesondere der Dirigent Herbert von Karajan sprang mit dem Orchester rund 60 Jahre später von einem technologischen Gipfel zum nächsten. Er nahm schließlich 1981 mit der Alpensymphonie von Richard Strauss die erste CD aller Zeiten auf.

    Karajans Vorgänger Wilhelm Furtwängler leitete das Orchester seit den 20er Jahren. Der Mythos vom deutschen Orchesterklang, den er pflegte und mit dem die Berliner Philharmoniker bis heute nahezu identifiziert werden, passte gut in die Weltanschauung der völkischen Rechten, die in Deutschland damals an Boden gewann. Nach Kriegsende 1947 ließ die amerikanische Besatzung unter Vorbehalt die Rückkehr des nur halbwegs entnazifizierten Furtwängler zu. Sein Konzert mit dem jungen amerikanischen Geiger Yehudi Menuhin bedeutete für viele in Berlin so etwas wie die Rückkehr zur Normalität, aber wohl auch die Rückkehr zum Mythos einer Kunst, die von Politik unberührt und unberührbar sei.

    1960: Die Grundsteinlegung für den Neubau der im Krieg zerstörten Berliner Philharmonie, der zum Vorbild für Konzertsäle von Rom bis nach Tokio wurde. Die hier beschworene Verbundenheit Karajans zum Orchester hielt Jahrzehnte, aber nicht ewig. Sie endete, als der Dirigent 1982 die Klarinettistin Sabine Meyer bei den Philharmonikern gegen deren Votum aufnehmen wollte. Hundert Jahre, nachdem das Orchester sich aus Protest gegründet hatte, kam seine Renitenz wieder zum Vorschein. Der Bruch ließ sich bis zu Karajans Tod 1989 nur oberflächlich kitten.

    Danach beendeten die Philharmoniker die Ära der Pult-Autokraten sehr entschieden. Ihren nächsten Chef Claudio Abbado wählten sie nicht mehr auf Lebenszeit. 1999 fiel die Wahl dann auf Simon Rattle, der seinerseits klare Forderungen stellte. Von Berlin verlangte er die Umwandlung des Orchesters in eine Stiftung, von den Musikern, ihre jahrzehntelang gepflegte Vorstellung von klassischer Hochkultur gründlich zu hinterfragen. Doch Rattle war auch der Meinung, dass die Öffnung des klassischen Konzertlebens für breitere Publikumsschichten mit keinem Orchester so gut funktionieren könnte wie mit den Berliner Philharmonikern:

    "Mit diesen Musikern ist jede Art klassische Musik möglich, und sogar weniger klassische Musik. Die Berliner Philharmoniker sind hungrig und nugierig, Entschuldigung, neugierig. Gott sei Dank."