Von Anja Schrum
März 2007. Zum Jahrestag der Proteste, präsentiert sich der Oktoberplatz nun als Ort der Entspannung und Zerstreuung. Dort, wo vor einem Jahr noch demonstriert wurde, hat die Stadtverwaltung eine Eisfläche anlegen lassen.
Rockmusik dröhnt aus großen Boxen. Vier Flutlichtscheinwerfer tauchen die Eisfläche in ein helles Licht. Dahinter ragen mattgrau die Säulen des Palastes der Republik in den Abendhimmel. Auf seinen Stufen schnüren Jugendliche ihre Schlittschuhe. Einige trinken Bier.
"Wir sind hier auf dem Oktoberplatz”, sagt eine Studentin. Und tritt von einem Fuß auf den anderen. Es ist kalt. Seit zehn Minuten steht sie mit ihren zwei Freundinnen in der Schlange vor einem Container um sich Schlittschuhe auszuleihen.
"Vor einem Jahr haben wir hier das Zeltlager gesehen”. Sagt die Freundin. Es war das erste mal, das hier so viele Menschen demonstriert haben. Mit dem Bus sind sie vorbeigefahren. Ausgestiegen sind sie nicht
"Keine Ahnung, ob die Demonstrationen etwas gebracht haben”, sagen sie. Und zucken mit den Schultern: "Es kommt, wie es kommt". Der Platz sieht auf jeden Fall aus wie immer.
Gut 300 Schlittschuh-Freunde drehen ihre Runden. Zwei Milizmänner schlendern um die Eisfläche. Für eine Runde brauchen sie gut eine Viertelstunde.
"Wahrscheinlich ist der Palast hier für den Präsidenten gebaut, damit er sich vergnügen kann”, sagt eine Schülerin, die auf den Treppenstufen vor dem riesigen Gebäude sitzt. Ihr Freund nickt.
"Der Präsident ist ein normaler Mensch”, sagt er: "Er geht seinen Verpflichtungen nach”. Seine Freundin nickt zustimmend. Und die Demonstrationen im letzten Jahr?
"Ja, hier war so eine Versammlung” sagt sie. "Die hatte wahrscheinlich etwas mit den Wahlen zu tun”. Ihr Freund schüttelt missbilligend den Kopf.
"Ich habe nichts mitbekommen" sagt er. Nimmt seine Freundin bei der Hand. Zieht sie die Stufen hinunter. Sie wollen jetzt Schlittschuhlaufen.
Widerstand der kleinen Schritte: Besuch bei den jungen Aktivisten der BNF-Partei
Von Ernst-Ludwig von Aster
Seit 1994 wird Weißrussland von Präsident Alexander Lukaschenko regiert. Mittlerweile läuft seine dritte Amtszeit, für die per Volksabstimmung eigens die Verfassung geändert wurde. Der ehemalige KGB-Funktionär verfügt über weitreichende Vollmachten: Er ernennt und entlässt die Regierung - je nachdem, auch die obersten Richter, und Lukaschenko ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte: Alles in allem eine Machtfülle, die in Europa ihresgleichen sucht. Schützenhilfe leistet der mächtige Polizeiapparat: Mit rund 130 tausend Uniformierten hat Weißrussland die höchste Polizeidichte unter allen europäischen Staaten. Zusätzlich stützt Lukaschenko sich auf seinen gefürchteten Geheimdienst, der in Weißrussland immer noch KGB heißt. Vor ihm sind seit der Unabhängigkeit 1991 zahlreiche Oppositionspolitiker ins Ausland geflüchtet. Andere sind in den letzten Jahren spurlos verschwunden, oder sie wurden verhaftet und eingesperrt. Die Zermürbungs-Taktik bleibt nicht ohne Folgen: Die weißrussische Opposition ist mittlerweile zerstrittener denn je. Ein "Gipfeltreffen", auf dem das weitere gemeinsame Vorgehen dieser Tage abgestimmt werden sollte, wurde abgesagt. Einer der beiden führenden Oppositionellen, Alexander Milinkewitsch ist angeschlagen, seitdem er Lukaschenko gegenüber Gesprächsbereitschaft zeigte. Dafür hagelte es Kritik von den eigenen Leuten. Eine neue Führungsfigur ist weit und breit nicht in Sicht.
Also herrscht bei BNF, der Weißrussischen Volks Front zur Zeit Kleinklein: Die Oppositionspartei bietet Seminare zur weißrussischen Geschichte an, pflegt die weißrussische Sprache, bietet Jugendlichen ein Forum, organisiert Protestveranstaltungen und -konzerte. Einer der Organisatoren ist Franak Viachorka.
Außen verziertes Holz, gelb bemalt, innen massives Metall. Die Eingangstür zum BNF-Büro. Schwer zu öffnen. Mit drei Schlössern gesichert. Hinter der Tür erstreckt sich ein hoher, schmaler Altbauraum. Die gelbliche Wandfarbe ist verblichen. Auf der Heizung stapeln sich Zeitungen, im Regal stehen Bücher und Videos. Gut ein Dutzend Besucher drängen sich um einen kleinen Verkaufs- und Informationstresen. Es ist eng. Und stickig
Einige lesen Nasha-Niva, die älteste Oppositionszeitung des Landes, andere betrachten das CD-Angebot. Fast alle Bands stehen auf der so genannten "schwarzen Liste”. Dürfen im Radio nicht gespielt werden. Ein Mann kauft eine grosse, weiß-rot-weiße Fahne. Weiß-rot-weiß - das sind in Weißrussland die Farben der Opposition.
Betont unauffällig blättert ein Mittdreißiger in einer Zeitung. Viel zu schnell, um wirklich lesen zu können. Dabei mustert er immer wieder die Anwesenden. Es ist 17.00 Uhr. Keine Spur von Franak Viachorka. Dem Gesprächspartner.
Das Mobiltelefon von Franak ist abgeschaltet. Seit einer halben Stunde ist er nicht erreichbar. Um 17.40 kommt eine SMS:
"Ich werde aufgehalten. Versuche später zu kommen”, schreibt Franak. "Satrimali” - das ist Weißrussisch. Und bedeutet "aufgehalten” ebenso wie "festgenommen”
Die junge Frau hinter dem Info-Tresen winkt. Deutet auf zwei Jugendliche, die gerade zur Tür hereinkommen. "Sie waren mit Franak unterwegs”. Die beiden Teenager beäugen skeptisch das Mikrofon. Als sie erfahren, das wir deutsche Journalisten sind, beginnen sie zu reden.
"Wir haben am Eingang zur U-Bahn kleine Karten verteilt Dann kamen plötzlich zwei Milizen in Zivil auf uns zu und haben gesagt: "Bleibt hier". Franak und meinen Freund haben sie festgehalten. Franak hat noch gerufen:: "Lauft weg" . Da sind wir weggerannt."
Der 15-Jährige schiebt seine schwarze Wollmütze, mit dem Schriftzug der Columbia-University nach hinten, öffnet die gesteppte grüne Winterjacke. Er ist aus der Puste. Aus der Seitentasche seiner Jeans zieht er ein kleines Kärtchen heraus. Auf der Vorderseite ein Bär mit einem Blumenstrauß. Eine Valentinskarte:
"Die Karte ist rot, sie hat eine Herzform . Und wenn man sie aufklappt, dann steht hier: Jugend BNF: "In einem freien Weißrussland ist es schöner zu lieben. Wir warten auf Euch am Freiheitstag, am 25.". "
Ein Aufruf zur Demonstration. Am weißrussischen Unabhängigkeitstag. Dem 25. März. Der Teenager steckt das Kärtchen wieder in die Tasche. Seit einem Jahr ist er bei der BNF-Jugend . Genauso wie sein Freund. Ihre Eltern wissen Bescheid. Ihre Lehrer nicht:
"Die meisten in der Schule wissen nicht, das ich hier Mitglied bin. Wenn das der Direktor erfahren würde, dann könnte es richtig Ärger geben.
Der drückt Dir einfach die Papiere in die Hand. Und schmeißt Dich von der Schule. "
Jetzt aber müssen sie weiter. Nach Hause.
Im Hinterzimmer des BNF-Büros räumt Stas die Stühle von dem alten, ovalen Konferenztisch. Jeans, beiges Hemd, die langen Haare von einem lila Gummi zusammengehalten. Um das Handgelenk trägt der 23-Jährige ein rot-weisses Plastikarmband. Ein Erkennungszeichen der Opposition. Auch seine Umhängetasche zeigt, wo er steht:
"Hier sind zwei Buchstaben aufgenäht, JeBe, die sind rotweiß, das sind unsere Nationalfarben. Die Buchstaben stehen für "Es lebe Belarus”. Und hier ist noch ein Button mit unserem historischen Wappen. Und daneben steht: "Ich bin für die Freiheit"."
Für die Freiheit stand Stas im letzten Jahr mit der weiß-rot-weißen Fahne vor dem Palast der Republik. Demonstrierte mit einigen tausend Mitstreitern gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen, die wie immer auf Amtsinhaber Lukaschenko zugeschnitten waren. Und die er wie immer haushoch gewann. Stas und seine Freunde besetzen eine Ecke des Oktoberplatzes. Schlugen dort Zelte auf. So, wie es zuvor in der Ukraine geschehen war. Einige Tage ließ die Staatsmacht die Demonstranten im Schnee zelten. Dann schickte sie Spezialtruppen:
"Man hat uns festgenommen, das war eine Massenverhaftung, damals wurden etwa 400 Leute eingesperrt. Aber in der Zelle war es für uns lustig, weil wir alle zusammen waren. Wir haben einen staatlichen Radiosender gehört, und unsere Freunde haben uns übers Radio mit Liedern grüßen lassen."
Stas streicht sich über das Kinn. Seine Wangen sind leicht gerötet. Zehn Tage saß er im Gefängnis. Diese Tage haben uns alle noch mehr zusammengeschweißt, sagt der Jurastudent.
"Die Probleme begannen nach meiner Festnahme. Erst wurden die Papiere von den Behörden an die Universität geschickt, dann gab es Gespräche mit dem Dekan und Vizedekan."
Am Ende ließen ihn seine Dozenten durch eine wichtige Prüfung fallen, sagt Stas. Machten ihm so klar, dass es besser wäre, die Universität zu verlassen. Jetzt muss er im Abendstudium seinen Jura-Abschluss machen. Der 23-Jährige zuckt mit den Schultern, blickt trotzig:
"Ich kann nicht sagen, dass ich vorsichtiger geworden bin. Aber seit damals gab es keine großen Aktionen mehr. Wenn Du mal für mehrere Tage eingesperrt warst, dann machen Dir die paar Stunden, die du bei kleineren Aktionen festgehalten wirst, auch nichts mehr aus."
Stas lehnt sich zurück, fixiert die Wand gegenüber. Gemälde hängen da. Große Portraits, entstanden in den letzten zehn Jahren. Sie zeigen Persönlichkeiten der weißrussischen Geschichte. Die Ausstellung haben Franak und Stas organisiert. Um Jugendlichen zu zeigen, dass es auch eine Welt vor Lukaschenko gegeben hat.
"Man kann nicht sagen, das wir den Weg, den wir vor einem Jahr im März betreten haben, weitergehen. Wir sind stehen geblieben. Einige wollten nach links, einige wollten nach rechts, einige wollten abwarten, wieder andere wollten nach vorne stürmen. Wir haben viel Kraft und Potential aber keine einheitliche Richtung."
Arthur Klinaŭ, 1965 geboren, ist Künstler, Architekt und Publizist. Minsk. Sonnenstadt der Träume, heißt sein Roman, den er 2006, kurz nach den aufgeflammten Protesten in Weißrussland geschrieben hat. Der sonnige Titel ist eine Anspielung auf sowjetische Träume von einst: Minsk als Verwirklichung der kommunistischen Utopie: Riesige Boulevards, endlose Parks mitten im Zentrum, zahllose reich verzierte Paläste, Revolutions-Denkmäler an jeder Straßenecke. Eine scheinbar ideale Stadt, die aber irgendwie nur Fassade ist. Zufällige Parallelen zum System Lukaschenko sind vom Autor durchaus beabsichtigt.
Ich wurde in der Sonnenstadt geboren. Das erste, woran ich mich erinnere, ist eine riesige Betonplatte, die ich zu erklimmen versuche. Ich klettere auf den kalten, grauen Block, halte mich mit Händen, Füßen und Zähnen fest. Als ich mich endlich mit großer Mühe hochgezogen habe, ragt dahinter eine zweite, ebensolche Betonplatte in die Höhe. Ich steige auch auf diese Platte. Als ich oben bin, erscheint die nächste und dann noch eine und noch eine und noch eine. Die Betonpyramide, die ich zu erklimmen versuche, ist die Treppe zwischen dem dritten und vierten Stock unseres Wohnblocks in der Lomonossow-Straße. Ich klettere zu Igor Brandin, meinem ersten Kinderfreund, der einen Stock über mir wohnt und ebenfalls in der Sonnenstadt geboren wurde, im selben Jahr, 1965, nur vier Tage früher.
Ich gehe nur zu meinem Freund. Genauer, ich krabble, denn ich kann noch nicht laufen. Deshalb erscheint mir die Stufe so riesig, eine Platte, höher als ich groß bin, und die Treppe verwandelt sich in eine gigantische Pyramide aus Stein.
Einst war die Sonnenstadt voller Skulpturen und Darstellungen der Götter im Land des Glücks. Man konnte sie überall treffen - an den Fassaden und Interieurs der Paläste, auf den Plätzen, in den Parks und den Grünanlagen. Den Platz von Zeus und Apoll nahmen in der ersten Kammer ein: der Große Kommunist, der Große Arbeiter, der Große Soldat, der Große Wissenschaftler, der Große Astronaut, der Große Stahlgießer, der Große Grubenarbeiter, der Große Eisenbahner, der Große Baumwollzüchter, der Große Traktorist, der Große Komsomolze, der Große Bauarbeiter, die Große Weberin, die Große Kolchosearbeiterin und so weiter und so weiter. Mein Vater verdiente im Land des Glücks sein Geld mit den Göttern. Später, als ich bereits Architektur studierte, zog er auch mich in unser Familiengeschäft mit hinein. Mein Vater fertigte gemeinsam mit K. Darstellungen der Götter an und allen möglichen anderen Agitationskram für Kolchosen, die in den nahen, fernen und ganz fernen Vororten der Sonnenstadt lagen.
(Aus: Arthur Klinaŭ, Minsk. Sonnenstadt der Träume. Edition Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2006, 83 Zeilen, Übersetzung: Volker Weichsel)
"Generation Lukaschenko”: Leonid Kovalev, seit 31 Jahren linientreu
Von Ernst-Ludwig von Aster
In den Beziehungen zu Russland hat Präsident Lukaschenko in den letzten Jahren einen Kurswechsel vollzogen. Von der ursprünglich geplanten "Union" mit dem einstigen "großen Bruder" ist nicht mehr die Rede. Vielmehr betont man in Minsk zunehmend die eigene Unabhängigkeit. So kam denn der jüngste "Gasstreit" mit Russland auch nicht wirklich überraschend. Schon im Winter 2005 hatte es erst Auseinandersetzungen und dann eine Erhöhung des Gaspreises gegeben. Ob es am abgekühlten Verhältnis zu Moskau liegt, ist nicht ganz klar, auf jeden Fall aber sendet Lukaschenko in letzter Zeit nun verstärkt Signale in Richtung Europäische Union. In zwei großen Interviews mit westlichen Medien beschwor er vor kurzem eine konstruktive Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Demokratische Defizite gesteht Lukaschenko durchaus ein, rechtfertigt sie aber nach Putinscher Art: Das Volk sei eben noch nicht bereit für die Demokratie. Bislang geht diese Rechnung auf, denn der Staat ist überall zur Stelle, vor allem, wenn es um Lohn und Brot geht. Ob Kolchose oder Kombinat, Raffinerie oder Rundfunkanstalt - Behörden und staatliche Einrichtungen sind der größte Arbeitgeber. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei gerade einmal 1,2 Prozent. Neben dem wirtschaftlichen versucht die Regierung auch die Bereiche des sozialen Lebens immer stärker zu durchdringen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den Jugendorganisationen zu. Den letzten unabhängigen Jugendverband haben Lukaschenkos Leute schon vor Jahren kaltgestellt. Stattdessen wurde, vom Staat finanziert, der Jugendverband BRSM aufgebaut. Interviews mit westlichen Medien sind seinen Funktionären erst seit kurzem erlaubt. Viele von ihnen gehören zur "Generation Lukaschenko", sie haben während seiner Amtszeit die Schule abgeschlossen, studiert und Karriere gemacht.
Leonid Kovalev greift in eine kleine Plastiktüte. Holt eine Strohpuppe hervor. Betrachtet sie kurz. Nickt gefällig. Weißrussisches Kunsthandwerk. Als Erinnerung. Für die Besucher.
"Gerade war eine syrische Delegation hier, und wollte sich über unsere Jugendarbeit informieren", sagt Kovalev. Über Fortbildungen, Freizeitveranstaltungen, das eigene Radio-Programm.. Kovalev steckt die Stroh-Puppe wieder in die Tüte. Auf der prangt die offizielle rot-grüne Staatsflagge. Darauf in goldenen Buchstaben: BRSM - das steht für Belarussische Republikanische Union der Jugend.
"Wir haben 380.000 Mitglieder, das sind 16 Prozent der jungen Bevölkerung im Alter von 14-31 Jahren."
Kovalev legt die Tüte zur Seite. Macht es sich hinter seinem großen Schreibtisch auf einem braunledernden Bürostuhl bequem. Vor einer großen weißrussischen Fahne. Schwarzer Anzug mit dezent braunen Streifen, schwarzes Hemd, darüber die
braunbeigegoldene Krawatte. Kurze dunkelblonde Haare, ausgeprägte Geheimratsecken, leicht gebräunter Teint. Graue Augen:
"Ich bin in einem Dorf geboren. Komme aus einer Familie von Kolchosbauern. Mein Vater war lange Zeit in der Verwaltung tätig, meine Mutter einfache Buchhalterin. Sie haben mir geholfen auf eigenen Beinen zu stehen, und durchs Leben zu gehen. In diesem Land haben die Jugendliche alle eine reale Chance, etwas aus sich zu machen."
Der 31-Jährige ist seit August letzten Jahres Chef des größten weißrussischen Jugendverbandes. Trägt den Titel 1. Sekretär. Kovalev beugt sich nach vorne. Stützt die Ellenbogen auf eine Schreibgarnitur. Blickt über ein Holzkästchen mit goldfarbenen Büroklammern hinweg, zwischen zwei goldfarbenen Kugelschreibern hindurch, die wie Antennen aus der hölzernen Schreibgarnitur ragen. Vor seinem Schreibtisch steht der Sitzungstisch. Einige Meter lang. Mehr als 20 Stühle drumrum.
"Nehmen sie mich zum Beispiel. Heute habe ich diesen hohen Posten. Ich leite die Jugend in diesem Lande. Alles was ich in diesem Leben erreicht habe, habe ich unter diesem Präsidenten erreicht. 1996 habe ich mein erstes Studium abgeschlossen, da war Lukaschenko schon Präsident."
Kovalev kommt gerade von einer Sitzung beim Präsidenten, auf der ein neues Kredit -Programm beschlossen wurde, um die Geburtenrate anzukurbeln. Das Konzept: Sicherheit und Stabilität, billige Kredite für mehr Kinder. Auch Kovalev und seine Frau rechnen jetzt mit Nachwuchs.
"Ich habe zwei Kinder. Und wir haben einen Kredit aufgenommen für die Wohnung, Wenn wir jetzt ein drittes Kind bekommen übernimmt der Staat sofort 50 Prozent des Kredites. Wenn man 20.000 Dollar aufgenommen hat, muss man nach dem 3. Kind nur 10.000 Dollar zurückzahlen. Das ist ein Geschenk vom Staat, das ist doch nicht schlecht."
Kovalev lehnt sich in seinem Bürosessel zurück. Es gibt keinen Grund unzufrieden zu sein, sagt er. Dass Jugendliche trotzdem gegen die Regierung auf die Straße gehen, dafür hat er eine einfache Erklärung. Verächtlich deutet Kovalev mit dem Daumen über die Schulter Richtung Oktoberplatz. Der liegt nur wenige hundert Meter entfernt.
"Ich sage Ihnen ganz klar, die Jugendlichen wurden mit Dollar gekauft. Viele Teilnehmer waren 15,16,17 Jahre alt, das waren noch fast Kinder. Denen hat man 20 oder 50 Dollar in die Hand gedrückt, damit sie ein paar Stunden auf dem Platz verbringen. Man hat sie benutzt: Man gibt ihnen Geld, verspricht ihnen Studienplätze an den Universitäten in Polen oder sonstwo. Und am Ende wirft man sie weg, wie ein gebrauchtes Taschentuch."
Das ist die offizielle Linie. Gekaufte Proteste. Dollar-Demonstranten. Kovalevs Stimme bleibt ruhig, als er das erzählt. Doch seine Augen blicken hart. Dass der Westen versucht, seinen Präsidenten zu stürzen, steht für ihn fest. Doch es wird ihm nicht gelingen. Er wird mit der Kraft seiner Jugend dagegenhalten.
"Wir können jederzeit für unseren Präsidenten und für die Ordnung und Zukunft unseres Landes auf die Straße gehen. Wenn es nötig ist können wir jederzeit Aktionen organisieren. Und die werden um einiges größer sein, als das, was die Opposition gezeigt hat. Und was mit amerikanischem Dollar bezahlt wurde."
Kovalev blickt kurz aus dem Fenster. Auf die Karl-Marx-Straße. Draußen steht ein Panzer. Auf einem Podest. Der Präsidentenpalast liegt gleich auf der anderen Straßenseite. Kovalevs Blick wandert, über den Sitzungstisch, die Wand entlang. Da hängt, dezent gerahmt, ein Foto. Alexander Lukaschenko vor der Fahne der Jugendorganisation.
"Er ist ein Vorbild an Weisheit, Mut, an großer Willenskraft. Er ist auch ein Vorbild wegen seiner ungeheuer großen Arbeitsfähigkeit. Meiner Meinung nach arbeitet unserer Präsident mehr als viele andere Staatsoberhäupter."
Ein Lächeln umspielt Kovalevs Lippen. Bisher konnte er sich immer auf seinen Präsidenten verlassen.
Die Herstellung von Göttern brachten allen Beteiligten ansehnliche Einkünfte. Wir arbeiteten grundsätzlich vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Alle wollten möglichst schnell einen Haufen Kohle scheffeln und damit zurück in die süße, verlockende Stadt fahren, zurück zu ihren blühenden Boulevards, zu den Girlies, ins Potsdam, zum Freimaurer-Haus.
Mein Vater hatte nie an das geglaubt, was er herstellte, und lachte immer herzlich über die Dummköpfe, die bereit waren, ihm dafür Geld zu zahlen. Doch wir führten alles sorgfältig aus, echte deutsche Qualitätsarbeit. Ich glaube, dass unsere Graffiti, Glasfenster und Meißelarbeiten in einigen Kulturpalästen auf dem Land und Dorfklubs erhalten geblieben sind. Aber unter den umherziehenden Götterschaffern gab es auch echte Amateure. Über sie wurden viele lustige Geschichten erzählt, die schon zu Klassikern unter den Götterschaffern geworden waren: über den Lenin, dem aus Versehen oder im Suff zwei Mützen eingemeißelt wurden, eine auf dem Kopf und eine in der Hand. Und Lenins, die den Weg zum Schnapsgeschäft zeigen, trifft man noch heute auf den Plätzen von Kleinstädten und Kolchosen.
Meine Lieblingsgeschichte war jedoch die vom fliegenden Iljitsch. Eine Kolchose beschloss, zum Tag der Oktoberrevolution ein Lenindenkmal zu errichten. Sie luden einen Trupp Amateurbildhauer ein. Diese wollten einen Vorschuss. Aber statt sich an die Herstellung eines Iljitsch zu machen, versoffen sie den Vorschuss mit der Leidenschaft von Bohemegöttern. Kurzum, der Trupp veranstaltete ein Dauergelage. Kurz vor dem Revolutionstag kapierten sie, dass sie es nicht mehr schaffen würden, in so kurzer Zeit ein normales Denkmal hinzukriegen. Das Geld war aber schon versoffen, und den anderen Teil des Lohns wollten sie natürlich auch. Die Götterschaffer dachten nach und beschlossen, die Dorftrottel ein wenig übers Ohr zu hauen. Die Überlegung war einfach: Wir machen das Denkmal aus einem anderen Material, und wenn es auseinander fällt, sind wir mit dem Geld längst über alle Berge.
(Aus: Arthur Klinaŭ, Minsk. Sonnenstadt der Träume. Edition Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2006, 83 Zeilen, Übersetzung: Volker Weichsel)
Zerstrittene Opposition: Alexander Kasulins engster Freund zieht Bilanz
Von Anja Schrum
In den letzten 13 Jahren seiner Amtszeit hat Alexander Lukaschenko das System der präsidialen Diktatur perfektioniert. Per Dekret greift er in alle Lebensbereiche ein. Mal lässt er eine Quote für weißrussische Musik im Radio festsetzen, dann behindert er die Nutzung von Internet-Cafes, indem er die Inhaber zu Spitzelaufgaben zwingt. Ein weiteres, neues Dekret greift in den privatesten Bereich ein, die Familie: Ohne gerichtliche Anordnung können Kinder aus "umoralischen Familien" entfernt und in staatliche Waisenhäuser gebracht werden. Schikane, die vor allem auf die Familien der Oppositionellen abzielt. Aber die sind Kummer ohnehin gewohnt. Verhaftungen von Regimegegnern sind in Weißrussland an der Tagesordnung. Der derzeit wohl bekannteste politische Gefangene ist der ehemalige oppositionelle Präsidentschaftskandidat Alexander Kasulin. Im vergangenen Juli wurde er zu fünfeinhalb Jahren Haft wegen "Randalierens und Anstiftung zu Massenunruhen" verurteilt. Ende Oktober letzten Jahres begann Kasulin einen 53-tägigen Hungerstreik, von dem er sich bislang nur schwer wieder erholt. Einer von Kasulins Vertrauten ist Ivan Rak. Ein Treffen im "Hotel Belarus", einem 23-stöckigen, grauen Betonblock im Herzen von Minsk.
"Wir sehen schöne Überblick von unsere Hauptstadt. Ganz vorne
kann man sehen Residenz von unsere Präsident."
Ivan Rak tritt an eines der Panoramafenster im 23. Stock und blickt auf das hell-erleuchtete Minsk. Es ist früher Abend. Unten erstrahlen die rekonstruierten Bürgerhäuser der Troizker-Vorstadt im Scheinwerferlicht. Raks Arm beschreibt einen weiten Bogen nach rechts, über den Fluss Swislotsch bis zu einer von Plattenbauten gesäumten, vielspurigen Straße. Vor kurzem noch hieß sie Mascherow-Prospekt.
"Mascherow, das war eine hervorragende belarussische Persönlichkeit. Und viele alte Weißrussen sind jetzt total enttäuscht, weil Lukaschenko hat diese Hauptstraße umbenannt, er hat neue Name gegeben, jetzt es gibt kein Mascherowstraße, es gibt jetzt Prospekt Bobitile."
Also: "Prospekt der Sieger". Rak schüttelt den Kopf. "Sinnlos", sagt er. Der 37-jährige freut sich, dass er Gelegenheit hat, Deutsch zu sprechen. "Ich mag die Sprache und die Literatur", schwärmt der studierte Historiker. Rak deutet wieder aus dem Fenster, auf die Umrisse eines großen Gebäudes am Horizont.
"Eigentlich vor diesem Palast der Republik gibt es eine gemütliche, ziemlich große Platz und die jungen Leute oder die Oppositionskräfte haben diese neue Name für diesen Platz gegeben: Kalinouski-Platz."
Nach den Präsidentschaftswahlen benannten die Demonstranten den Oktoberplatz in Kalinouski-Platz um. Nach Kastus Kalinouski, einem der Anführer der weißrussischen Befreiungsbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch Ivan Rak war nach den Präsidentschaftswahlen täglich auf dem Kalinouski-Platz. Als Mitglied im Wahlkampf-Stab des Oppositionskandidaten Alexander Kasulin.
"Ich war total enttäuscht, ich habe geguckt, wenn die Autos durch die Straßen gefahren. Hier stehen zum Beispiel tausende Menschen, vielleicht fünf, zehntausend. Und da fahren Autos vorbei und sie hupen nicht. Ich habe mir gedacht, die Weißrussen, nicht alle, aber viele Weißrussen noch nicht bereit zur Demokratie. Ich habe mir gedacht, nee, diese richtige Leute auf dem Platz, sie können im Moment noch gar nichts ändern, weil zu wenig diese Leute."
Rak schüttelt den Kopf, setzt sich an einen Tisch an den Panoramafenstern. Er hängt sein beiges Jacket über die Stuhllehne, winkt den Kellner heran und bestellt schwarzen Tee.
Vorsichtig gießt der 37-Jährige den Tee ein. Nippt kurz daran. Hält mit der anderen Hand seinen roten Schlips fest. Comic-Figuren zieren die Krawatte. Mit Alexander Kasulin verbindet Rak ein freundschaftlich-bewunderndes Verhältnis. Beide haben im selben Studentenwohnheim gewohnt. Rak als Geschichtsstudent. Kasulin als 1. Stellvertreter des Bildungsministers. Der bescheidene Lebenstil Kasulins habe ihn mächtig beeindruckt, erzählt Rak schwärmerisch. Beide arbeiten später an der Belarussischen Staatsuniversität in Minsk. Rak im Akademischen Auslandsamt. Kasulin als Rektor der Universität. Vor einem Jahr dann der gemeinsame Wahlkampf. Die Reisen. Die Demonstrationen. Und jetzt? Rak sucht nach Worten.
"Das ist für mich eigentlich, das ist sehr kompliziert, ich fühle mich ein bisschen nicht wohl, ja, weil mein Freund steckt in diese Gefängnis. Aber was soll ich machen? Protestieren, ja? Das bringt gar nichts."
Ivan Rak schaut unglücklich durch die silberumrandete Brille. Momentan engagiert er sich nicht mehr politisch. Privat aber hält er Kontakt zu Kasulins Frau. Er weiß, dass sich sein Freund nur schwer von seinem 53-tägigen Hungerstreik erholt.
"Sie sagen, du musst nach Minsk, in diese Gefängniskrankenhaus, ja. Aber er wollte nicht. Weil er hat Angst gehabt, weil er wird in eine Zimmer untergebracht werden, wer weiß Bescheid, was passiert mit Kasulin? Welche Medizin bringen diese Ärzte?"
Kasulin im Gefängnis, Milinkewitsch umstritten, die Opposition zerstritten. Ivan Rak klingt desillusioniert. Er redet schnell, gestikuliert fahrig.
"Milinkewitsch - ich finde diese Mann sympathisch, aber er ist schwach, er ist kein Kämpfer, er ist sehr intelligent, aber wie hat einmal mir Kasulin gesagt: Man bekämpft einen Teufel mit teuflischen Methoden. Sonst geht nicht. Im Moment ich sehe schlechte Karten für unsere Oppositionskräfte, weil sie haben keinen richtigen Leader."
Rak arbeitet als Geschäftsmann, im Immobilien-Bereich, wie er sagt. Auf die Wirtschaft setzt er auch seine politischen Hoffnungen. Rak blickt wieder auf das hellerleuchtete, herausgesputzte Minsk.
"Man wollte schon früher Aufbau von belarussische Markt fördern, aber wir haben immer Geld aus Russland gekriegt und wir haben von diesem Geld immer diese gigantischen Bauprojekte gefördert, Sportpaläste, ja, usw. und wir haben keine Stabilität für uns geschaffen."
Potemkinsche Fassaden statt wirtschaftlicher Reformen - das wird sich nun rächen, davon ist Rak überzeugt. Der 37jährige hat das Interview gelesen, das Lukaschenko vor einigen Wochen der Nachrichtenagentur Reuters gab.
"Was freut mich: Wenn er sagt: Ich möchte mich ein bisschen in Westrichtung umorientieren lassen, dann sagen sofort die Politiker: Herr Lukaschenka Kasulin muss frei sein."
Und dann wäre auch Ivan Rak wieder dabei. Denn der Historiker und Geschäftsmann hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben:
"Ich habe einen Traum, ich wollte später als Botschafter, belarussischer Botschafter in Deutschland ein Amt haben, deshalb, wenn Partei sagt, seid bereit, ich sage: Immer bereit."
Ein paar Nächte lang schnitten sie Schaumstoff aus und klebten einen Lenin zusammen. Dann malten sie ihn ordnungsgemäß mit bronzener Farbe an. In der Nacht auf den Festtag stellten sie den Lenin auf dem zentralen Platz des Städtchens auf seinen Sockel, bedeckten ihn mit Stoff und banden diesen mit Schnüren fest. Am nächsten Morgen kam das ganze Dorf zur Einweihung des Denkmals, das Präsidium versammelte sich - der Kolchosvorsitzende, der Parteigruppenleiter, die Ingenieure. Aus dem Kreiszentrum war sogar der Erste Sekretär des Kreiskomites gekommen. Er war es auch, der die Schnüre zerschnitt. Der Stoff wurde heruntergezogen. Da steht er, der Iljitsch, macht etwas her und weist mit der Hand den Weg zum Kommunismus. Alle sind glücklich, freuen sich, feierliche Reden zum Jubiläum der Revolution werden gehalten.
Doch es war Herbst und das Wetter nicht allzu gut. Plötzlich kam ein heftiger Windstoß und wehte den Iljitsch davon. Und Lenin flog über das Dorf, seine ausgestreckte Hand, die den Weg zum Kommunismus weist, kam völlig vom Kurs ab, zeigte mal nach Norden, mal nach Westen, dann nach Osten, dann nach Süden, mal auf die Erde, mal auf den Mars. Lange versuchte das Dorf, den Lenin einzufangen, ja, und auch den Götterschaffern jagten sie hinterher, um sie mit einem ordentlichen Schlag in die Fresse aus dem Suff zu holen.
(Aus: Arthur Klinaŭ, Minsk. Sonnenstadt der Träume. Edition Suhrkamp: Frankfurt a. M., 2006, 83 Zeilen, Übersetzung: Volker Weichsel)
Eine warme Heizung und Brot vom Staat: "Die Rentner sind zufrieden"
Von Ernst-Ludwig von Aster
Beim Geld hört die Freundschaft auf - so die klare Botschaft aus Moskau, als in diesem Winter ein erneuter Streit mit Weißrussland um die Öl- und Gaslieferungen ausbrach: Die weißrussische Regierung drohte zunächst mit einer Erhöhung der Transitgebühren für russisches Öl, und machte dann Ernst: Tagelang schlossen die Weißrussen die Pipeline Richtung Westen. Damit verhagelten sie den Russen kurzzeitig das Geschäft und beeinträchtigten die Öl-Versorgung mehrerer EU-Staaten. Unterm Strich blieb dennoch unübersehbar, wer am längeren Hebel sitzt: Russland, beziehungsweise Gasprom. Das russische Unternehmen hat die Gaspreise für Weißrussland Anfang dieses Jahres verdoppelt. Solche Maßnahmen lassen in Minsk die Alarmglocken schellen, denn steigende Lebenshaltungskosten gefährden die anhaltende Unterstützung der breiten Bevölkerung für die Regierung Lukaschenko. So hat der Präsident denn auch versprochen, die jüngste Gas-Preiserhöhung werde für die einfachen Leute vorerst nicht spürbar sein. In Slutsk, einer Kleinstadt eine Autostunde südlich von Minsk, lassen die meisten auf ihren Präsidenten nichts kommen. Solange das Leben bezahlbar bleibt, herrscht hier Frieden.
Frauen in langen Mänteln und Pelzmützen, Mütterchen in Steppjacken drängen sich vor einer kleinen Bretterbude. Die Verkäuferin wiegt Butter und Käse ab, reicht sie durch eine Luke an die Kundinnen.
In der Schlange wartet auch Tamara Petrowa. Die 56-jährige Rentnerin mit dem runden, von Kälte gerötetem Gesicht unter einer grünen Strickmütze blickt die Lenin-Straße hinunter. Auf lauter renovierte Gebäude in Pastellfarben. Und die neuen Betonsockel mit den Ehrentafeln für die besten Arbeiter.
Rentnerin Tamara zieht eine sorgfältig gefaltete Plastiktüte aus der Tasche ihrer roten Steppjacke. Verstaut Butter und Käse in der Tüte und steuert einen kleinen Supermarkt an.
Tamara geht vorbei an langen, gut gefüllten Regalreihen und Kühltheken. Verkäuferinnen mit blauen Häubchen warten auf Kundschaft. Die Rentnerin wirft einen Blick auf die Preise:
"Alles ist teurer geworden. Brot ist zum Beispiel teurer geworden, jeden Monat haben wir einen anderen Preis. Mehl ist teurer geworden. Milch ist auch ein bisschen teurer geworden, Butter, eigentlich alle Milchprdodukte inklusive Quark, allles wird langsam teurer."
Trotz des Preisanstieges kommen Tamara und ihr Mann finanziell über die Runden.
"Unter Lukaschenko ist alles besser geworden. Die Rente ist gestiegen, zweimal im Jahr wird sie erhöht. Das Leben ist leichter geworden."
Tamara bückt sich und greift nach zwei Flaschen Kwas, dem typisch russischen Brottrunk. Gemüse, Fleisch, Fisch - all das kauft die Renterin lieber auf dem Markt. Dort ist die Ware frischer und auch billiger, sagt die 56jährige und steuert die Kasse an.
Wenig später zu Hause, in der Küche der kleinen Drei-Zimmerwohnung. Auf dem Herd brutzeln Blinis. Tamara räumt die Einkäufe in den Vorratsschrank. Stellt die Kwas-Flaschen neben große Einmachgläser.
Gurken in Tomatensoße, Salat aus grünen Tomaten, saure Gurken, eingeleger Kohl - im Vorratsschrank steht nur eine Auswahl Eingemachtes. Das Gros lagert im Keller des kleinen Wohnblocks. Vorrat für den langen Winter, wenn Obst und Gemüse auch auf dem Markt zu Westpreisen verkauft werden. Tamara schiebt die Vase mit den hellblauen Kunstblumen beiseite und legt ein paar dünnbedruckte Blätter auf das geblümte Wachstuch des Küchentisches. Dann setzt sie sich dann auf einen der drei Hocker. Tamara zieht eine altmodische Brille mit dickem Gestell hervor.
"Das ist die Betriebkostenabrechnung für Januar", sagt Tamara und fährt mit dem Finger über die unterschiedlichen Posten: Für die Heizung bezahlt sie umgerechet rund 17 Euro. Für Warmwasser 11 und für so genannte technische Dienste 5 Euro. Hinzu kommen weitere fünf Euro als Renovierungsrücklage.
"Ich weiß nicht, wofür ich diese Renovierungsrücklage zahle", sagt Tamara. "Das Treppenhaus wird nicht geputzt. Nur wenn die Kanalisation Probleme macht, können wir einen kostenlosen Wagen bei den Wasserwerken bestellen. Wenn der Wasserhahn tropft, dann kommt auch der Klempner, ohne dass wir etwas zahlen müssen. Nur wenn man etwas erneuern will, muss man das selbst zahlen." Tamara und ihr Mann geben rund ein Drittel ihres Einkommens von umgerechnet 120 Euro für Nebenkosten aus. Inklusive Telefon und Kabelgebühren. Groß war da die Angst, als Russland zu Jahresbeginn die Gaspreise verdoppelte.
"Es gab Gerüchte, dass das Gas teurer wird. Aber dann hat Lukaschenko in einer Rede gesagt, dass es für die Normalverbraucher nicht teurer wird. Aber die Betriebe müssen mehr zahlen."
Bis jetzt sind ihre Gaskosten um etwa 12 Prozent gestiegen. Tamara hofft, dass der Präsident sein Versprechen hält. Schließlich hat die 56jährige noch andere Sorgen: Vor kurzem ist ihr Sohn wieder eingezogen. Nach der Trennung von seiner Frau stand er ohne Wohnung da. Dann hat er sich bei einem Unfall die Hand verletzt. Die anstehende Operation wird viel Geld verschlingen.
"Ich sage eins: Die Rentner sind zufrieden. Und die jungen Arbeiter sind unzufrieden. Sie verdienen wenig, sie haben keine Wohnungen. Für die Rentner ist es leichter, sie haben ihre Rubel und müssen nur Lebensmittel davon kaufen. Die jungen Leute aber brauchen mehr."
Tamara ist im Zwiespalt. Ihr Mann ist ganz klar für Lukaschenko. Die 56jährige aber sieht die Probleme der Jungen. Die Rentnerin spielt nervös mit der Brille. Winzige Schweißperlen sammeln sich auf ihrer Stirn. Das Thema behagt ihr ganz und gar nicht. "Ich interessiere mich nicht für Politik", sagt sie leise. Von den Demonstrationen vor einem Jahr habe sie nicht viel mitbekommen. Auch nicht von den zahllosen Verhaftungen danach:
"Ich habe ein paar Mal Flugblätter im Briefkasten gefunden. Da stand drin, man hat Kasulin fälschlich verurteilt, man muss Lukaschenko absetzen, man muss anstatt Lukaschenko Kasulin zum Präsidenten wählen:"
Tamara aber glaubt nicht daran. Wie lange wird Lukaschenko ihrer Meinung nach noch regieren?
"Ich denke, lange. So lange man ihn nicht absetzt oder er stirbt. Er hat es verdient Präsident zu sein. Die Rentner sind alle für ihn. Und die Rentner sind in der Mehrheit in Weißrussland."
Flugblätter und Sammelklagen: Olga Karatsch und der Protest von unten
Von Anja Schrum
Im Januar fanden in Weißrussland Kommunalwahlen statt. Landesweit waren rund 22.000 Sitze in Dorf- und Stadträten zu vergeben. Von den gerade mal 200 zugelassenen Kandidaten der Opposition wurden schließlich zwei gewählt. Von demokratischen Standards könne keine Rede sein, kritisierte daraufhin die Europäische Union. Polizeieinsätze in Wahlbüros, Verhaftungen von Oppositionspolitikern und einheimischen Wahlbeobachtern, all das sei ein Indiz für die Unterdrückung. Aber auch ein Indiz für die wachsende Verunsicherung des Machtapparats - sagt mancher Oppositionspolitiker im Lande selbst. Witebsk - die Geburtsstadt des weltberühmten Malers und Grafikers Marc Chagall - liegt im Nordosten Weißrusslands. 350 tausend Einwohner leben in der Industrie- und Universitätsstadt an der Dwina. Bis zu den Kommunalwahlen im Januar saß im Stadtparlament von Witebsk noch eine einzige Oppositions-Vertreterin: Olga Karatsch. Sie setzt auf den Protest von unten, auf lokaler Ebene, und sie hält es ganz mit den Worten von Alexander Milinkewitsch: Wenn man keine Wahlen gewinnen kann, muss man eben auf die Straße.
Olga Karatsch eilt durch die Seitenstraßen vom Witebsk. Unter ihren Füßen knirscht der Schnee. Bei minus zwölf Grad dampft der Atem in feinen Wölkchen aus Mund und Nase. Die 28-Jährige steuert die Bar eines kleinen Hotels an.
Die schlanke Frau schält sich aus ihrem langen Mantel, zieht die Strickmütze von den dunkelblonden Haaren, streicht den Zopf zurück und setzt sich auf eines der Kunstledersofas. Bestellt einen Kaffee mit viel Milch und legt ihr Handy vor sich auf den Bistrotisch. Das Display leuchtet, das Gerät vibriert - eine Kurzmitteilung. Olga wirft einen Blick auf die SMS und antwortet.
In unglaublichem Tempo fliegen die schlanken Finger der 28-Jährigen über die Tasten des Mobiltelefons. Bis vor kurzem noch saß sie als Abgeordnete im Stadt-Sowjet von Witebsk. Vier Jahre lang. Als einzige Oppositionsvertreterin, als einzige Frau und als einzige unter dreißig. Olga hat die SMS in Windeseile beantwortet, legt das Handy wieder vor sich auf den Tisch. Zu den Kommunalwahlen im Januar, durfte sie nicht wieder antreten. Nur ein Kandidat pro Wahlbezirk war zugelassen und der wurde von offizieller Seite vorgeschlagen. Wie früher in der Sowjetunion, sagt Olga und zuckt mit den Schultern.
"Bei den vorletzten Wahlen ist den Behörden ein Fehler unterlaufen, dadurch konnten wir unseren Gegner kennen lernen. Und ihn von Nahem erleben, seine Schwächen und seine Laster kennen lernen. Deswegen war es nicht wichtig zu siegen. Denn im Laufe der letzten vier Jahre haben wir viele Informationen über ihn gesammelt."
Die ungeschminkten, blauen Augen unter den dicken, dunklen Brauen lachen. Die Bevölkerung unterstützt uns, sagt Olga selbstbewusst. Das ist das wichtigste. "Uns" - damit meint sie "Nasz Dom", zu deutsch: Unser Haus. Eine Gruppe von Leuten, deren Ziel es ist, die Selbstbestimmung in Weißrussland zu fördern.
"Das Wort "Demokratie" ist für einen Weißrussen nicht selbstverständlich. Wir haben hier nur drei Jahre lang demokratische Verhältnisse gehabt. Oder zum Beispiel das Wort "Zivilgesellschaft": Wenn ich zu einer Babuschka gehe und erzähle, wir bauen eine Zivilgesellschaft auf, dann klingt das für sie als ob ich Chinesisch oder Englisch sprechen würde."
Olga und ihre Mitstreiter - Studenten, Rentner, Hausfrauen - ermitteln lieber, welche Probleme den Bürgern unter den Nägeln brennen. Freiwillige verteilen unbezahlt Infoblätter. Monatlich 200.000 in verschiedenen weißrussischen Städten. Sie decken Missstände auf und rufen zum Handel auf. Die bislang erfolgreichste Aktion lief unter dem Motto: "Befreien wir unser Haus vom Müll". Nasz Dom hatte herausgefunden, dass die Bürger seit Jahren für die Reinigung der Treppenhäuser zur Kasse gebeten werden, ohne Gegenleistung. "Nasz Dom" verteilte 100.000 Flugblätter in Witebsk.
"Diesem Flugblatt haben wir auch einen Musterbrief beigelegt, den man an die Stadtverwaltung schicken konnte. Und einer unserer Aktivisten hat Anklage erhoben und den Prozess auch gewonnen. Diejenigen, die Angst hatten, sich schriftlich an die Stadtverwaltung zu wenden, hatten die Möglichkeit dort anzurufen. Kurz und gut: Die Behörden sind fast wahnsinnig geworden wegen der Masse der Anfragen."
Glasnost - also Transparenz - bei den Nebenkosten, Bürgerbewusstsein gegen kommunale Willkür. Olga lächelt zufrieden. Die Aktion wurde auch in anderen weißrussischen Städten aufgegriffen. Sich nichts gefallen lassen - die Strategie scheint im Kleinen aufzugehen.
"Es gibt einen Zusammenhang: Je mehr Anklagen man erhebt, desto mehr gewinnt man. Am schwierigsten ist es zum ersten Mal vor Gericht zu gewinnen. Selbst wenn die Richter voreingenommen sind. Wichtig ist, dass wir unbequem für die Macht bleiben. Wir dürfen nicht weich und unterwürfig sein."
Angst vor den "Machthabern" hat die 28-Jährige nicht. Ihren Job als Lehrerin ist sie schon lange los und auch die Verhaftungen schrecken sie längst nicht mehr.
"Täglich wurde ich von der Miliz für ein paar Stunden festgehalten", sagt sie. "Ob ich einkaufen ging oder mit dem Hund spazieren." Damals war Olga noch Mitglied bei der oppositionellen Jugendorganisation Zubr. Doch sie verließ die Organisation, weil Zubr nicht von der breiten Bevölkerung unterstützt wurde. Heute noch hat Olga ein gespaltenes Verhältnis zu den Oppositionsparteien. Obwohl auch sie vor einem Jahr auf dem Oktoberplatz ausgeharrt hat.
"Was mich persönlich ärgert ist die Tatsache, dass wenn ein Mitglied irgendeiner Organisation beziehungsweise Partei festgenommen und für 15 Tage ins Gefängnis gesteckt wird, dass weder er noch seine Mitstreiter etwas dagegen unternehmen. Für die Miliz und für die Machthaber ist das ein Signal, dass sie so weitermachen können. Es bleibt folgenlos. Und das schafft ein "günstiges Klima" für weitere Festnahmen. "
Nasz Dom hat die richtige Strategie, sagt Olga. Und das nächste große Thema wartet schon: Die gestiegenen Gaspreise und die Auswirkungen auf den einzelnen Bürger. Olga ist sich sicher: Lukaschenkos Tage sind gezählt. Gerüchte machen die Runde: Lukaschenko sei krank. Von verschiedenen Krebsarten ist die Rede. Und von einem Nachfolger:
"Im Prinzip sind alle diese Gerüchte für Lukaschenko sehr gefährlich. Dies spricht alles dafür, dass die Gesellschaft müde ist, immer wieder das selbe Schnurrbart-Gesicht im Fernsehen zu sehen. Es spricht dafür, dass die Gesellschaft unbewusst nach etwas Neuem sucht."