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Revolution des Raums

Eine kurze selige historische Sekunde lang glaubten Künstler, Gestalter und Architekten daran, dass ihre Werke eine neue Gesellschaft formen können: Die frühe Sowjetunion war das Experiment einer modernen Gesellschaft schlechthin. Was die Baumeister der russischen Revolution planten und schufen zeigt nun eine Ausstellung im Berliner Gropius Bau.

Von Carsten Probst |
    Wladimir Schuchow: Funkturm 1922
    Wladimir Schuchow: Funkturm 1922 (Ausstellungskatalog Martin-Gropius-Bau/Richard Pare)
    Die Geschichte der russischen Revolutionsarchitektur ist eine Tragödie – zugleich aber hat sie in den wenigen Zeugnissen, die den stalinistischen Säuberungen entgangen sind, die gesamte Sowjetarchitektur überdauert. Die Fotografien des britischen Architekturfotografen Richard Pare sind Ergebnisse einer jahrelangen Spurensuche im postsowjetischen Russland, einer Detektivarbeit, die vielleicht gerade noch rechtzeitig erfolgte, bevor viele der noch bestehenden, aber oft vernachlässigten Bauten zugrunde gegangen sind.

    Die kurze Epoche, von der diese Bauten zeugen, währte gerade einmal 20 Jahre, zwischen 1915 und 1935. Die russische Avantgarde hatte schon in der Dekade vor der Oktoberrevolution von 1917 in einer rauschhaften Aufbruchsstimmung die Grenzen der traditionellen Malerei, Grafik und Skulptur gesprengt, und was beinahe noch wichtiger war: dieser Aufbruch in die Moderne beruhte auf einem etablierten internationalen Netzwerk von Künstlern und Theoretikern. Die frühe Sowjetunion partizipierte in ihrem Revolutionsfuror an zahlreichen ähnlichen Bewegungen in West- und Mitteleuropa, sie war das überall in Europa mit Faszination und Erschütterung beobachtete Experiment einer modernen Gesellschaft schlechthin.

    Nur aus diesem Elan heraus lässt sich die Entstehung der sowjetischen Avantgarde-Architektur verstehen. Künstler, Architekten, Gestalter glaubten für eine selige historische Sekunde daran, dass ihre Werke eine neue Gesellschaft formen, ihr eine Sprache geben konnten, dass es eine große Verschmelzung von Ästhetik und Sozialwesen geben könnte. Und so waren Architekten wie Konstantin Melnikow, Moisej Ginsburg, Wladimir Schuchow oder die Wesnin-Brüder davon überzeugt, dass es möglich sein müsse, die Ideale des Konstruktivismus in die Architektur zu überführen. Die konstruktivistische Malerei selbst gab diese Verbindung vor. Ein Gemälde von Salomon Nikritin von 1919-1921 in dieser Ausstellung feiert sie schon im Titel. Ljubow Popowa, einer der wenigen Frauen, die in der avantgardistischen Männerriege ihren Platz behaupten konnte, lieferte in ihren faszinierenden Gemälden konstruktive Studien, die wie Vorwegnahmen von Mies van der Rohes Gebäudestrukturen der vierziger Jahre wirken Kasimir Malewitsch, der mit seiner Weiß-auf-Weiß-Malerei und seinen Schwarzen Quadraten und Kreuzen auf weißem Grund einen Nullpunkt der Malerei markiert zu haben glaubte, widmete sich in den zwanziger Jahren fast ausschließlich der Architektur und schuf einige konstruktivistische Modelle, die auf verblüffende Weise die Gleichzeitigkeit von zwei- und dreidimensionalen Ebenen der Raumvorstellung imaginieren.

    Ganz so kühn konnten die Architekten, die reale Bauten unter den Gesetzen der Physik entwarfen, nicht vorgehen. Aber der Versuch ist unverkennbar. Zahlreiche Nutz- und Wohnbauten, Siedlungskomplexe, Fabriken, Arbeiter-Klubheime, Theater, Krankenhäuser wurden entworfen. Moisej Ginsberg operierte mit geometrischen Elementen, die er an großvolumigen Bauten gegeneinander setzte. Halbkreisförmige Balkons an rechtwinkligen Fassaden. Bisweilen haben diese Bauten gar eine postmoderne Anmutung, wenn sie klassische Formen, Säulen und Bögen zitieren, wie im spät entstandenen Sanatorium von Kislowodsk im Nordkaukasus von 1937. Konstantin Melnikow rangierte unter den führenden Visionären. Für die Internationale Pariser Architekturausstellung von 1925 schuf er den Sowjetischen Pavillon, der weltweit Beachtung fand, und erhielt als Anerkennung in der Heimat ein Baugrundstück für ein eigenes Haus, das er selbst entwerfen durfte. Es entstand ein zylinderförmiger Bau mit rautenartigen Fenstern, der in seiner poetischen Strenge einige ganz eigene Magie entwickelte und mit nichts vergleichbar ist, was die russische Avantgardearchitektur sonst hervorgebracht hat. Es überrascht nicht, das Melnikow wie viele andere seiner Avantgardekollegen unter Stalin in Ungnade fiel. Ebenso erging es Wladimir Schuchow, dem Schöpfer des berühmten Schablowka Funkturms von 1922, der seinem Vorbild Wladimir Tatlin eine würdige Interpretation verleiht. Richard Pare hat ihn zwar sehr suggestiv wie ein stählernes Spinnennetz fotografiert, aber auch die schlichte Außenansicht zeigt, dass es dieser Avantgarde früh um eine Verbindung mit modernster Technologie, um eine technische Revolution als Teil des modernen Stadtbildes ging. Ein spätes Denkmal dieser Lehre findet sich noch heute im Herzen der Berliner Republik, mit dem Fernsehturm am Alexanderplatz und dem angrenzenden ehemaligen Marx-Engels-Forum.