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Revolution durch Eklektizismus

Er war einer der Größten in seinem Metier: der Choreograf Maurice Béjart. 1927 in Marseille geboren, entwickelte der Tänzer Béjart sein Grundrezept aus einer Mischung von Schaustellerei, Philosophie und klassischem Tanz. Das Lebensgefühl der der Bohème verbreitete sich im Ballettsaal. Nun ist er kurz vor seinem 81. Geburtstag in Lausanne verstorben.

Von Wiebke Hüster |
    Maurice Béjart war seiner Schöpfung Maurice Béjart zuletzt so ähnlich wie während des vergangenen halben Jahrhunderts. Der Choreograf hielt sich selbst und seinem in den späten fünfziger Jahren entwickelten Stil die Treue: Er war auf und hinter der Bühne ein Schausteller par excellence, der die Schminke liebte und die leuchtend farbigen Verkleidungen, das Spektakel an sich und die Arbeit mit jungen Tänzern im Ballettsaal, verschwitzte Trikots, durchgetanzte Schuhe wie den Staub auf der Seitenbühne. Und er liebte es, dem Publikum seine Philosophie des Tanzes von der Rampe aus zu erklären.

    Wer war Maurice Béjart, als er das Phänomen Béjart erfand? Als er 1954 in Paris die Ballets de l'Etoile gründete, waren die ästhetischen Gräben zwischen den Welten des Moulin Rouge hier und des Opernballetts dort noch nicht so tief. Die Shows der Nachtclubs waren phantasievoller choreografiert, während sich viele Ballette mit dem Flair des Halbseidenen so dekorierten wie die Jugend mit schwarzen Rollkragenpullovern, Chansonplatten und Camus-Ausgaben. Das Lebensgefühl der Bohème verbreitete sich im Ballettsaal.

    Béjarts Vorliebe für exotische Bühnensujets, fremde Kulturen und polytheistische Religionen mag mit Erinnerungen an das gemischte Völkchen von Marseille zusammenhängen, wo der Choreograf 1927 zur Welt kam. Zunächst aber sollte der junge Tänzer in Paris etwas französische Bühnenlebensart lernen. Hier entsteht 1955 "Symphonie pour un homme seul", ein existentialistischer Pas de deux zu einer elektronischen Komposition von Pierre Henry und Pierre Schaeffer. La philosophie, c'était la mode: Damals lasen Choreografen eben noch nicht Bourdieu, sondern Sartre. Dessen Stück "Bei geschlossenen Türen" setzte Béjart 1957 als "Sonate à trois" in eine formstrenge Studie existentieller Verzweiflung um. Der Sohn des Philosophen Gaston Berger hat seinen Willen, Tänzer zu werden, durchgesetzt. Er hatte aus Trotz seinen Namen in Béjart geändert, nach der Geliebten Molières, und erwies doch in jedem seiner Stücke dem Bildungskanon seiner Jugend und der Liebe zur Weisheit seine oft manieristische Referenz.

    Das Grundrezept für Béjarts seltsame Mischung von Schaustellerei, Philosophie und klassischem Tanz stand seitdem fest. 1959 wurde "Le Sacre du Printemps" ein solcher Erfolg, dass der Brüsseler Opernintendant Maurice Huisman Béjarts Ensemble als Ballet du XXe Siècle an die Monnaie ("ans La Monnaie"?) engagiert. Einiges Aufsehen erregten seine erotischen Posen, vor allem, wenn sie demonstrativ auf die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Männern hinweisen. Für Béjart aber symbolisierte die angedeutete körperliche Liebe zwischen Tänzern den Schöpfungsakt, in welchem die Götter den Kosmos erschaffen. 1970 choreografierte er das letzte jener drei Ballette, die seine größten Klassiker wurden: der "Feuervogel", das "Frühlingsopfer" und der "Bolero".

    Doch Béjart lauschte auch dem Herzschlag der Jugend seiner Zeit. Und hörte den aufgeregten Puls der neuen Beat Generation. Träumte von der Flucht nach Indien, benebelte die Bühne mit Weihrauch und lebte in Gedanken an die Revolution, das Gesamtkunstwerk und freie Bruderliebe. Jetzt geisterten in den Stücken Gottheiten wie Rama, Shiva und Krishna ("Bhakti") umher, aber auch viele andere wirkliche und imaginierte Freunde Béjarts: Jacques Brel, Nietzsche, Wagner und Nijinsky.

    Im Zentrum all dieser Werke aber stand - wie sonst nur bei John Neumeier - die Persönlichkeit des Choreografen. Béjart war ein theatralischer Charakter.