Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


Revolution im Wattenmeer

Umwelt.- Das Wattenmeer ist so einzigartig und schützenswert, dass es der Menschheit erhalten bleiben sollte, entschied die Unesco im vergangenen Jahr. In der Wattenmeerstation auf Sylt trafen sich nun Wissenschaftler, um darüber zu beraten, wie eine Rettung gelingen könnte.

Von Tomma Schröder | 10.05.2010
    In gelb und grün, in groß und klein stehen sie massenweise im Keller der Sylter Wattenmeerstation. Doch es dauert, bis jeder Wattwanderer das passende Paar Gummistiefel an den Füßen hat.

    Gut bestiefelt geht es schließlich hinaus auf den windigen Außendeich. Das Wattenmeer hier gehört zum schleswig-holsteinischen Nationalpark und seit fast einem Jahr auch zum Unesco-Weltnaturerbe. Welche Arten sind neu eingewandert? Welche Auswirkungen haben sie auf heimische Organismen? Fragen, mit denen sich der Meeresbiologe und heutige Wattführer Christian Buschbaum täglich beschäftigt. Er gibt den Weg vor.

    "In 500 Metern Entfernung sind Strukturen auf dem Boden zu sehen. Das sind die Muschelbänke. Dort wollen wir hingehen. Ich denke, wir brauchen zehn Minuten dorthin. Aber wir sollten den direkten Weg gehen, denn die Flut kommt gerade rein. Sonst könnten wir Probleme bekommen und vielleicht nicht alle wieder zurückkommen."

    Und so geht es schnellen Schrittes zu den Muschelbänken. Doch schon auf dem Weg dorthin wird deutlich, dass die Stiefel an diesem sonnigen aber windig-kalten Tag nicht nur dazu da sind, die Füße warm zu halten. Sie schützen vor allem vor den scharfen Muschelkanten, die allerorten aus dem Watt ragen. Das war nicht immer so. Vor 20 Jahren habe es hier nur vereinzelt Miesmuscheln gegeben, weiß Christian Buschbaum.

    "Und dann gab es eine Zeit, wo hier gar nichts war, sondern nur Sediment. Und jetzt, in den letzten vier, fünf Jahren, hat sich eben so eine riesige Austernbank hier ausgebildet."

    Die eingeschleppte pazifische Auster, so hieß es lange Zeit, sei auch daran schuld, dass die heimische Miesmuschel verschwunden sei. Doch ein Blick auf den Boden zeigt, dass das so nicht stimmen kann.

    "Also, man braucht sich ja nur zu bücken, und sofort sieht man auch Miesmuscheln. Es ist jetzt überhaupt nicht so, dass es den Miesmuscheln schlecht geht. Das ist sogar andersherum gewesen. Es kamen erst die Austern und dann die Miesmuscheln hinterher."

    Denn die Miesmuscheln können von den Austern profitieren. Sie verstecken sich zwischen ihren großen Schwestern aus Übersee vor Fressfeinden wie etwa Krebsen. Neben den durch Aquakulturen eingeschleppten Austern gibt es zahlreiche weitere neue Arten, die sich im Watt ausgebreitet haben: Beerentang, Pantoffelschnecke und Gespensterkrebs sind nur einige von ihnen. Der Leiter der Wattenmeerstation, Karsten Reise, spricht gar von einer Revolution im Wattenmeer. Denn entgegen der Erwartung wanderten meist nicht südlichere europäische Arten ein, sondern exotischere Arten, die durch Ballastwasser oder Aquakulturen in das Wattenmeer kamen. Lange Jahre kamen sie nur vereinzelt vor. Aber dann wurde es wärmer.

    "Dann waren sie quasi in einer Pole Position, weil sie von wärmeren Küsten kamen. Und jetzt wurde es hier wärmer. Und nun haben sie sich, wenn man so will, vorgedrängelt, bevor andere europäische Arten hier einwandern. Und das hat solche Ausmaße angenommen – in tieferen Bereichen ist so ein japanischer Beerentang, der ganze Algenwälder entstehen lässt. So was hat es früher hier noch nie gegeben im Wattenmeer. Biologisch passiert da enorm viel. Und das hat Vor- und Nachteile."

    Nachteile hat es zum Beispiel für den Wattwurm. Wenn er sich durch den Sand frisst und seine typischen Kothaufen an der Wattoberfläche hinterlassen will, sind die großen Austernbänke im Weg. Im Vorteil ist dagegen der Bäumchenröhrenwurm, der gerne Schutz zwischen den Schalentieren sucht. Insgesamt aber, so Reise, habe die Artenvielfalt im Wattenmeer durch die neuen Bewohner zugenommen.

    Eine Gefahr für das Ökosystem sehen die Forscher daher weniger in den invasiven Arten als vielmehr in den Sedimentverlusten aufgrund des steigenden Meeresspiegels. Hier werden mittlerweile sogar Sandaufspülungen im Watt diskutiert. Was die eingewanderten Arten anbelangt, meint Karsten Reise, sollte man zwar zukünftig auf Aquakulturen mit exotischen Arten verzichten, einen aggressiven Verdrängungswettkampf sieht er aber nicht.

    "Das Wattenmeersystem scheint noch gar nicht so gesättigt zu sein. Da ist also auch noch viel Platz für Zuwanderer, wenn man so will ein Einwanderungsmeer. Aber Voraussetzung dafür, dass es nicht zu Verdrängungsprozessen kommt, ist, dass die ganze Biotop-Vielfalt erhalten wird. Also ohne Salzwiesen, ohne Schlickwatten oder so weiter wird das Wattenmeer die hohe Artenvielfalt sicher nicht halten können."