Zihaly: Ich habe während dieses Sommers zwei Monate lang Deutsch zu lernen versucht. Aber für diese Sprache braucht man wohl drei Monate ...
Scheck: Weil Ihnen zur perfekten Beherrschung des Deutschen also noch vier Wochen fehlen, sprechen wir auf Englisch weiter. Warum haben Sie einen Lexikonroman geschrieben?
Zihaly: Dahinter stand die Idee, das Ganze so dazustellen, dass es auch verständlich wird. Ein Lexikon versteht sich von selbst, man braucht man nicht viele Vorab-Informationen zu seiner Benutzung. Außerdem wollte ich unbedingt einen Bezug zur Kindheit, denn eine Diktatur behandelt ihre Untertanen wie Kinder. Als ich klein war, hat man auch meine Eltern, Großeltern und Lehrer wie Kinder behandelt. Deshalb habe ich mich für die Form eines Kinderlexikons entschieden, um ein Buch über die Diktatur zu schreiben.
Scheck: So erklärt sich der Titel ...
Zihaly: Ja, oablok-zschiraff fängt im Ungarischen mit A und Z an. Es gab auch in Deutschland so ein Kinder-Lexikon, "Von Anton bis Zylinder" hieß das, enthielt aber viel mehr Text, bei uns gab’s mehr Bilder ...
Scheck: Die ostdeutsche Version eines Kinderlexikons, von der Ingo Schulze in seinem Nachwort spricht. Und aus Ihrem Roman möchten wir jetzt ein Stück hören, beginnen wir mit einem kurzen Eindruck auf Ungarisch aus "Die Letzte Fenstergiraffe": Ist Humor, ist Ironie die beste Waffe gegen die Diktatur?
Zihaly: Wir mussten in einer Geheimsprache sprechen, denn alle, die sich der offiziellen Sprache befleißigten, waren immer todernst und langweilig. Da sie nur Lügen verbreiteten, war für uns Ernst ein Synonym für die Unwahrheit. Wenn wir also etwas Wahres ausdrücken wollten, taten wir das immer mit Humor. Deshalb war es eine Geheimsprache. Denn der Humor gehörte uns Freigeistern, und der Ernst dem System. Mir fällt es heute noch schwer, Leuten zu glauben, die immer ernst sind.
Scheck: Sie haben gesagt, ihr Buch habe als Hauptthema die Diktatur. Dieses Thema wird in Form eines Mosaiks ausgebreitet, in vielen Geschichten wird erzählt, wie die Diktatur die Gesellschaft bis in die letzten Nischen verseucht. Vor 1989 wurden die Schriftsteller in kommunistischen Ländern mehr oder minder mit der Opposition gleichgesetzt. Sehen Sie den Schriftsteller heute auch noch in Opposition, und wenn ja: gegen was?
Zihaly: Einerseits stand der Schriftsteller ganz natürlich in Opposition, andererseits war dies eine vom Kompromiss bestimmte Gesellschaft. Nach dem Ende der Diktatur sind ja keine großen Meisterwerke aus den Schubladen aufgetaucht. Und das ist ja auch schon ein Indiz dafür, dass im Grunde jeder veröffentlichen konnte, was er wollte. Auch die Schriftsteller schlossen einen Kompromiss. Es gab ganz wenige Menschen, die sich diesem Kompromiss verweigerten – darunter der Lyriker George Petri, und diese Menschen mussten einen hohen Preis dafür bezahlen. Deshalb sprach man eben von einer sanften Diktatur, in der jeder einen Kompromiß schloß. Das System existierte nicht gegen uns, sondern mit uns – alle gehörten dazu. Wir haben es zusammen zu verantworten. Aber im Fall von Ungarn gab es auch einen natürlichen Grund dafür – den Aufstand von 1956, wo so viele Menschen starben und sehr viele das Land verließen. Niemand wollte noch mehr Tote, deshalb kam es zu diesem Kompromiß zwischen Staat und Gesellschaft – uns wurden bestimmte Freiheiten dafür zugestanden, dass wir keine Revolution mehr versuchten. Ich spreche nun von "uns" als den Ungarn, ich selbst war damals ja noch gar nicht auf der Welt. Für mich war dann schon klar, dass es mit diesem System aus und vorbei war, dass es im Sterben lag. Für mich war der Protest dagegen eigentlich ein großer Spaß.
Scheck: Sie sind Jahrgang 1970. Die Revolution von 89, falls man in Ungarn davon sprechen kann, denn die Veränderung vollzog sich ja allmählich, erwischte Sie also gerade im richtigen Alter, um auf die Straße zu gehen ...
Zihaly: Ja. Aber wir demonstrierten schon früher, ich habe 1985 damit angefangen. Damals gab es noch wirkliche Kämpfe, 86 ließ das schon nach, und 87 waren es im Grund friedliche politische Demonstrationen. 89 existierte das System eigentlich schon nicht mehr, es kam zu einer sehr friedlichen Wandel in Ungarn.
Scheck: Haben Sie je Todesangst in der Konfrontation mit der Staatsmacht empfunden?
Zihaly: Nein. Ich hatte großen Spaß und Lust am Kampf – wie bei einer Prügelei unter Schülern. Ich empfand keine Angst. Ich musste einmal durch eine Fensterscheibe springen. Mir machte es eher Angst mit ansehen zu müssen, wie andere Menschen verprügelt wurden. Mein Adrenalinpegel war so hoch, dass ich ohnehin kaum Schmerz empfand.
Scheck: Empfinden Sie auch keine Angst im Rückblick?
Zihaly: Nein, ich glaube, wir waren ziemlich sicher. Man verprügelte uns, aber damals wollte man niemanden mehr töten. Man wollte keine Märtyrer schaffen.
Scheck: Sie sind zwischen 1996 und 97 nach Belgrad gereist, als es zu Massendemonstrationen gegen die gefälschten Komunalwahlergebnisse kam – das ist ein wichtiges Thema in Ihrem Buch. Was hat Sie damals daran interessiert?
Zihaly: Im Vergleich zu anderen Ländern war Belgrad ziemlich spät dran – aus verschiedenen Gründen. Der Staat Jugoslawien war in den 60ern der reformorientierteste und wurde in den 90ern zum konservativsten. Mir war aber klar, dass die Proteste dort etwas ganz Besonderes sein würden. Und so kam es auch – ein viermonatiger Karneval, in dem bunt kostümierte Leutchen mit der Polizei Spielchen trieben. Es war toll und übrigens auch friedlicher als in den meisten anderen Ländern, geprügelt wurde nur an zwei Tagen. Es herrschte diese unglaubliche Illusion von Freiheit und Hoffnung auf eine bessere Welt. Man muss diese Tage in Belgrad einfach erlebt haben – ich jedenfalls. Diese Zeit zählt zu den Höhepunkten meiner Erfahrungen mit Menschen als Masse. Diese Masse war nicht dumm, da wurde nicht gegrölt, es war eine Masse von Individuen – es wurde viele kleine Streiche gespielt, Witze gemacht, wie Straßentheater. Es war im Grunde absurd, eine L’art-pour-l’art-Demonstration, durchaus vergleichbar mit 56 in Ungarn. Sie konnten nicht gewinnen. In gewisser Weise habe ich da mein persönliches 56 nachgeholt.
Scheck:... ist ein illustrierter Roman, voller Bilder, die dem Text eine zusätzliche Dimension verleihen. Sie haben zum Beispiel viele Buttons von diesen Demonstrationen abgebildet, die ich unglaublich lustig finde. Da gab es etwa einen Button, auf dem Schwarzegger als Terminator abgebildet ist mit dem Slogan "Hasta la vista communista!". Gab es diese Buttons wirklich?
Zihaly: Einige habe ich damals getragen, andere habe ich erfunden. So ist es auch mit den Bildern – manche stammen aus Archiven, andere sind private Fotos. Im Grunde sind es keine Illustrationen, denn Text und Bild entstanden gleichzeitig
Scheck: Könnte man das Buch eine Briccolage nennen?
Zihaly: Ja, Aber man kann es auch ein Bilderbuch nennen.
Scheck: Sie bevorzugen das Unprätentiöse, Zugängliche ...
Zihaly: Aus dem Stil dieses Buchs erschließt sich, dass mir jede Vorstellung von Heldentum widerstrebt. Helden braucht man nur, wenn es große Probleme gibt, und Helden müssen für andere sterben. Ich versuche also immer, die Sache auf den Teppich zu holen
Scheck: Sie schreiben, während einer Revolution fände man leicht Freunde. Warum?
Zihaly: Weil Revolutionen Emotionen freisetzen. Revolutionen bringen das Schlimmste und das Beste im Menschen zum Vorschein. Man kann es ihnen buchstäblich vom Gesicht ablesen. In meinem Buch gibt es eine Passage über Gesichter, dass man Gesichtern die Zeit ablesen kann, dass man die Gegenwart in ihnen sieht. Als ich nach Belgrad kam, fand ich binnen fünf Minuten eine Menge Freunde – Menschen, mit denen ich bis auf den heutigen Tag befreundet bin.
Scheck: In gewisser Weise sind die Demonstrationen, ist die Belgrader Revolution damals gescheitert. Haben Sie das persönlich so empfunden?
Zihaly: Einige Monate später haben sich alle geschämt, weil sie nichts erreicht hatten. Das tat wirklich weh, das mit anzusehen. Sie hatten einfach vergessen, was sie einige Tage lang geschafft hatten. Man muß das eher als Kunstwerk betrachten, was damals auf den Straßen Belgrads passierte, etwas, auf das man stolz sein kann, ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte Europas, das immer bleiben wird. Ich war dabei, ich habe darüber geschrieben. Wenn man die Sache rein pragmatisch betrachtet, führte es natürlich zu nichts, aber von einer anderen Warte aus waren diese Tage alles, was zählt. Etwas, was niemand anderer hat.
Scheck: Sie sprechen nun von der Erfahrung ...
Zihaly: Man kann Geschichte aus mehreren Perspektiven wahrnehmen. Was sie erreicht oder welche Entwicklungen sie auslöst. Aber man kann Geschichte auch als Erfahrung betrachten. Für mich war die Belgrader Erfahrung etwas Außergewöhnliches, das mich viel gelehrt hat ...
Scheck: Nämlich?
Zihaly: Diese Dinge lassen sich nicht leicht in Worte fassen. Darüber habe ich in meinem Buch geschrieben. Ich habe viel über Gesichter erfahren. Über die Zeit. Darüber, wie sich in einer Menschenmasse Emotionen ausbreiten. Wie Menschen sich verändern, wenn ihre Wünsche erfüllt oder unerfüllt bleiben. Auch sehr viel über Aggressivität. Für einen Anthropologen war das eine Goldmine. Ich habe ja mal Anthropologie studiert. Es war eine tolle Erfahrung, die ich mir nicht entgehen lassen durfte. Ich bin da nicht als Beobachter hingefahren – aber natürlich habe ich beobachtet.
Scheck: Glauben Sie, dass Sie während Ihres Lebens noch einmal etwas Vergleichbares erleben werden?
Zihaly: Ich habe schon sehr viel in meinem Leben erlebt, darunter den 11. September. Ich war unmittelbar danach mehrere Monate in New York. Als Osteuropäer habe ich nie geglaubt, dass die Geschichte ihr Ende erreicht haben könnte, dass wir irgendwann in einem Zustand des ewigen Frieden leben würden, in dem es nur noch Fortschritt gibt und wir irgendwann das gemeinsame Glück erreichen. So läuft das natürlich nicht. Meine Erfahrung lehrt mich, dass in dieser Region alle 50 Jahre etwas sehr Dramatisches passiert. Also bin ich wohl jung genug, noch einen großen Wandel zu erleben – aber vielleicht werde ich mich daran nicht mehr aktiv beteiligen. Aber ich bin sicher, dass uns da noch einiges erwartet – nicht nur im Osten, sondern in ganz Europa und auf der ganzen Welt.
Scheck: Ich meinte das eher politisch – wünschen Sie sich denn heute eine Revolution?
Zihaly: Falls es noch eine Revolution gibt, wird die ganz anders sein. Die Welt hat sich jetzt auf eine Weise verändert, die nicht mehr sehr lange so weitergehen kann. Der Weg, den wir eingeschlagen haben, lässt sich nicht ewig fortsetzen. Es muss zu irgendeinem Zeitpunkt, vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren, zu einem dramatischen Wandel kommen. Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, dass wir nicht einfach auf eine lange Epoche des Friedens und Wohlstands zugehen.
Scheck: Sprechen wir jetzt über religiösen Fundamentalismus oder über eine Wirtschaftskrise?
Zihaly: Das ist ziemlich kompliziert. Es herrscht keine Gerechtigkeit in unserer globalisierten Welt, und nur über Wirtschaft, Militär und Toleranz hält dieses Gebilde nicht auf ewig zusammen. Ich wollte eigentlich gar nicht so politisch werden heute Nachmittag ....
Scheck: Weil Ihnen zur perfekten Beherrschung des Deutschen also noch vier Wochen fehlen, sprechen wir auf Englisch weiter. Warum haben Sie einen Lexikonroman geschrieben?
Zihaly: Dahinter stand die Idee, das Ganze so dazustellen, dass es auch verständlich wird. Ein Lexikon versteht sich von selbst, man braucht man nicht viele Vorab-Informationen zu seiner Benutzung. Außerdem wollte ich unbedingt einen Bezug zur Kindheit, denn eine Diktatur behandelt ihre Untertanen wie Kinder. Als ich klein war, hat man auch meine Eltern, Großeltern und Lehrer wie Kinder behandelt. Deshalb habe ich mich für die Form eines Kinderlexikons entschieden, um ein Buch über die Diktatur zu schreiben.
Scheck: So erklärt sich der Titel ...
Zihaly: Ja, oablok-zschiraff fängt im Ungarischen mit A und Z an. Es gab auch in Deutschland so ein Kinder-Lexikon, "Von Anton bis Zylinder" hieß das, enthielt aber viel mehr Text, bei uns gab’s mehr Bilder ...
Scheck: Die ostdeutsche Version eines Kinderlexikons, von der Ingo Schulze in seinem Nachwort spricht. Und aus Ihrem Roman möchten wir jetzt ein Stück hören, beginnen wir mit einem kurzen Eindruck auf Ungarisch aus "Die Letzte Fenstergiraffe": Ist Humor, ist Ironie die beste Waffe gegen die Diktatur?
Zihaly: Wir mussten in einer Geheimsprache sprechen, denn alle, die sich der offiziellen Sprache befleißigten, waren immer todernst und langweilig. Da sie nur Lügen verbreiteten, war für uns Ernst ein Synonym für die Unwahrheit. Wenn wir also etwas Wahres ausdrücken wollten, taten wir das immer mit Humor. Deshalb war es eine Geheimsprache. Denn der Humor gehörte uns Freigeistern, und der Ernst dem System. Mir fällt es heute noch schwer, Leuten zu glauben, die immer ernst sind.
Scheck: Sie haben gesagt, ihr Buch habe als Hauptthema die Diktatur. Dieses Thema wird in Form eines Mosaiks ausgebreitet, in vielen Geschichten wird erzählt, wie die Diktatur die Gesellschaft bis in die letzten Nischen verseucht. Vor 1989 wurden die Schriftsteller in kommunistischen Ländern mehr oder minder mit der Opposition gleichgesetzt. Sehen Sie den Schriftsteller heute auch noch in Opposition, und wenn ja: gegen was?
Zihaly: Einerseits stand der Schriftsteller ganz natürlich in Opposition, andererseits war dies eine vom Kompromiss bestimmte Gesellschaft. Nach dem Ende der Diktatur sind ja keine großen Meisterwerke aus den Schubladen aufgetaucht. Und das ist ja auch schon ein Indiz dafür, dass im Grunde jeder veröffentlichen konnte, was er wollte. Auch die Schriftsteller schlossen einen Kompromiss. Es gab ganz wenige Menschen, die sich diesem Kompromiss verweigerten – darunter der Lyriker George Petri, und diese Menschen mussten einen hohen Preis dafür bezahlen. Deshalb sprach man eben von einer sanften Diktatur, in der jeder einen Kompromiß schloß. Das System existierte nicht gegen uns, sondern mit uns – alle gehörten dazu. Wir haben es zusammen zu verantworten. Aber im Fall von Ungarn gab es auch einen natürlichen Grund dafür – den Aufstand von 1956, wo so viele Menschen starben und sehr viele das Land verließen. Niemand wollte noch mehr Tote, deshalb kam es zu diesem Kompromiß zwischen Staat und Gesellschaft – uns wurden bestimmte Freiheiten dafür zugestanden, dass wir keine Revolution mehr versuchten. Ich spreche nun von "uns" als den Ungarn, ich selbst war damals ja noch gar nicht auf der Welt. Für mich war dann schon klar, dass es mit diesem System aus und vorbei war, dass es im Sterben lag. Für mich war der Protest dagegen eigentlich ein großer Spaß.
Scheck: Sie sind Jahrgang 1970. Die Revolution von 89, falls man in Ungarn davon sprechen kann, denn die Veränderung vollzog sich ja allmählich, erwischte Sie also gerade im richtigen Alter, um auf die Straße zu gehen ...
Zihaly: Ja. Aber wir demonstrierten schon früher, ich habe 1985 damit angefangen. Damals gab es noch wirkliche Kämpfe, 86 ließ das schon nach, und 87 waren es im Grund friedliche politische Demonstrationen. 89 existierte das System eigentlich schon nicht mehr, es kam zu einer sehr friedlichen Wandel in Ungarn.
Scheck: Haben Sie je Todesangst in der Konfrontation mit der Staatsmacht empfunden?
Zihaly: Nein. Ich hatte großen Spaß und Lust am Kampf – wie bei einer Prügelei unter Schülern. Ich empfand keine Angst. Ich musste einmal durch eine Fensterscheibe springen. Mir machte es eher Angst mit ansehen zu müssen, wie andere Menschen verprügelt wurden. Mein Adrenalinpegel war so hoch, dass ich ohnehin kaum Schmerz empfand.
Scheck: Empfinden Sie auch keine Angst im Rückblick?
Zihaly: Nein, ich glaube, wir waren ziemlich sicher. Man verprügelte uns, aber damals wollte man niemanden mehr töten. Man wollte keine Märtyrer schaffen.
Scheck: Sie sind zwischen 1996 und 97 nach Belgrad gereist, als es zu Massendemonstrationen gegen die gefälschten Komunalwahlergebnisse kam – das ist ein wichtiges Thema in Ihrem Buch. Was hat Sie damals daran interessiert?
Zihaly: Im Vergleich zu anderen Ländern war Belgrad ziemlich spät dran – aus verschiedenen Gründen. Der Staat Jugoslawien war in den 60ern der reformorientierteste und wurde in den 90ern zum konservativsten. Mir war aber klar, dass die Proteste dort etwas ganz Besonderes sein würden. Und so kam es auch – ein viermonatiger Karneval, in dem bunt kostümierte Leutchen mit der Polizei Spielchen trieben. Es war toll und übrigens auch friedlicher als in den meisten anderen Ländern, geprügelt wurde nur an zwei Tagen. Es herrschte diese unglaubliche Illusion von Freiheit und Hoffnung auf eine bessere Welt. Man muss diese Tage in Belgrad einfach erlebt haben – ich jedenfalls. Diese Zeit zählt zu den Höhepunkten meiner Erfahrungen mit Menschen als Masse. Diese Masse war nicht dumm, da wurde nicht gegrölt, es war eine Masse von Individuen – es wurde viele kleine Streiche gespielt, Witze gemacht, wie Straßentheater. Es war im Grunde absurd, eine L’art-pour-l’art-Demonstration, durchaus vergleichbar mit 56 in Ungarn. Sie konnten nicht gewinnen. In gewisser Weise habe ich da mein persönliches 56 nachgeholt.
Scheck:... ist ein illustrierter Roman, voller Bilder, die dem Text eine zusätzliche Dimension verleihen. Sie haben zum Beispiel viele Buttons von diesen Demonstrationen abgebildet, die ich unglaublich lustig finde. Da gab es etwa einen Button, auf dem Schwarzegger als Terminator abgebildet ist mit dem Slogan "Hasta la vista communista!". Gab es diese Buttons wirklich?
Zihaly: Einige habe ich damals getragen, andere habe ich erfunden. So ist es auch mit den Bildern – manche stammen aus Archiven, andere sind private Fotos. Im Grunde sind es keine Illustrationen, denn Text und Bild entstanden gleichzeitig
Scheck: Könnte man das Buch eine Briccolage nennen?
Zihaly: Ja, Aber man kann es auch ein Bilderbuch nennen.
Scheck: Sie bevorzugen das Unprätentiöse, Zugängliche ...
Zihaly: Aus dem Stil dieses Buchs erschließt sich, dass mir jede Vorstellung von Heldentum widerstrebt. Helden braucht man nur, wenn es große Probleme gibt, und Helden müssen für andere sterben. Ich versuche also immer, die Sache auf den Teppich zu holen
Scheck: Sie schreiben, während einer Revolution fände man leicht Freunde. Warum?
Zihaly: Weil Revolutionen Emotionen freisetzen. Revolutionen bringen das Schlimmste und das Beste im Menschen zum Vorschein. Man kann es ihnen buchstäblich vom Gesicht ablesen. In meinem Buch gibt es eine Passage über Gesichter, dass man Gesichtern die Zeit ablesen kann, dass man die Gegenwart in ihnen sieht. Als ich nach Belgrad kam, fand ich binnen fünf Minuten eine Menge Freunde – Menschen, mit denen ich bis auf den heutigen Tag befreundet bin.
Scheck: In gewisser Weise sind die Demonstrationen, ist die Belgrader Revolution damals gescheitert. Haben Sie das persönlich so empfunden?
Zihaly: Einige Monate später haben sich alle geschämt, weil sie nichts erreicht hatten. Das tat wirklich weh, das mit anzusehen. Sie hatten einfach vergessen, was sie einige Tage lang geschafft hatten. Man muß das eher als Kunstwerk betrachten, was damals auf den Straßen Belgrads passierte, etwas, auf das man stolz sein kann, ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte Europas, das immer bleiben wird. Ich war dabei, ich habe darüber geschrieben. Wenn man die Sache rein pragmatisch betrachtet, führte es natürlich zu nichts, aber von einer anderen Warte aus waren diese Tage alles, was zählt. Etwas, was niemand anderer hat.
Scheck: Sie sprechen nun von der Erfahrung ...
Zihaly: Man kann Geschichte aus mehreren Perspektiven wahrnehmen. Was sie erreicht oder welche Entwicklungen sie auslöst. Aber man kann Geschichte auch als Erfahrung betrachten. Für mich war die Belgrader Erfahrung etwas Außergewöhnliches, das mich viel gelehrt hat ...
Scheck: Nämlich?
Zihaly: Diese Dinge lassen sich nicht leicht in Worte fassen. Darüber habe ich in meinem Buch geschrieben. Ich habe viel über Gesichter erfahren. Über die Zeit. Darüber, wie sich in einer Menschenmasse Emotionen ausbreiten. Wie Menschen sich verändern, wenn ihre Wünsche erfüllt oder unerfüllt bleiben. Auch sehr viel über Aggressivität. Für einen Anthropologen war das eine Goldmine. Ich habe ja mal Anthropologie studiert. Es war eine tolle Erfahrung, die ich mir nicht entgehen lassen durfte. Ich bin da nicht als Beobachter hingefahren – aber natürlich habe ich beobachtet.
Scheck: Glauben Sie, dass Sie während Ihres Lebens noch einmal etwas Vergleichbares erleben werden?
Zihaly: Ich habe schon sehr viel in meinem Leben erlebt, darunter den 11. September. Ich war unmittelbar danach mehrere Monate in New York. Als Osteuropäer habe ich nie geglaubt, dass die Geschichte ihr Ende erreicht haben könnte, dass wir irgendwann in einem Zustand des ewigen Frieden leben würden, in dem es nur noch Fortschritt gibt und wir irgendwann das gemeinsame Glück erreichen. So läuft das natürlich nicht. Meine Erfahrung lehrt mich, dass in dieser Region alle 50 Jahre etwas sehr Dramatisches passiert. Also bin ich wohl jung genug, noch einen großen Wandel zu erleben – aber vielleicht werde ich mich daran nicht mehr aktiv beteiligen. Aber ich bin sicher, dass uns da noch einiges erwartet – nicht nur im Osten, sondern in ganz Europa und auf der ganzen Welt.
Scheck: Ich meinte das eher politisch – wünschen Sie sich denn heute eine Revolution?
Zihaly: Falls es noch eine Revolution gibt, wird die ganz anders sein. Die Welt hat sich jetzt auf eine Weise verändert, die nicht mehr sehr lange so weitergehen kann. Der Weg, den wir eingeschlagen haben, lässt sich nicht ewig fortsetzen. Es muss zu irgendeinem Zeitpunkt, vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren, zu einem dramatischen Wandel kommen. Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, dass wir nicht einfach auf eine lange Epoche des Friedens und Wohlstands zugehen.
Scheck: Sprechen wir jetzt über religiösen Fundamentalismus oder über eine Wirtschaftskrise?
Zihaly: Das ist ziemlich kompliziert. Es herrscht keine Gerechtigkeit in unserer globalisierten Welt, und nur über Wirtschaft, Militär und Toleranz hält dieses Gebilde nicht auf ewig zusammen. Ich wollte eigentlich gar nicht so politisch werden heute Nachmittag ....