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Revolutionsdynamik im historischen Vergleich

Die internationale Konferenz der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient in Berlin widmete sich dem arabischen Frühling. Ein Ergebnis der Konferenz ist, dass die Apparate der Europäischen Union strukturell versagt haben.

Von Frank Hessenland |
    "Die EU hat sich sehr blamiert."

    Es ist ein für einen Wissenschaftler vernichtendes Urteil, welches Annette Jünemann, Professorin der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg und Leiterin einer Forschergruppe zu den Mittelmeerstaaten, der europäischen Politik der letzten Jahre ausstellt.

    "Die erste Blamage besteht darin, dass sie überrascht wurde von dem arabischen Frühling. Es gibt ja auch Geheimdienste, nicht mal die wussten was. Die zweite Blamage ist, dass sie Demokratisierung und Stabilisierung versprochen hat, das waren ihre Ziele. Sie hat beide Ziele verfehlt. Es hat weder eine EU-Demokratisierung stattgefunden noch eine Stabilisierung. Insofern hat es die EU kalt von hinten erwischt.”"

    Annette Jünemann steht mit ihrer Meinung nicht allein. Das Urteil, das die Apparate der EU wie ihrer Mitgliedsstaaten strukturell versagt haben müssen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Ergebnisse der DAVO-Konferenz. Viele konstatieren, die Diplomaten müssen das Bild vom bösen, dummen, gefährlichen Islamisten, der am besten gefangengenommen und vielleicht sogar gefoltert werden darf, bevor er zum Demokraten umerzogen werden kann, selbst geglaubt haben. Und das so intensiv, dass die eigenen humanen Werte dabei vergessen und wissenschaftliche Analysen über die islamischen Bewegungen, systematisch ignoriert wurden. Ivesa Lübben vom Zentrum für Nahen und Mittleren Osten der Uni Marburg zeichnet zum Beispiel seit Jahren über die Muslimbruderschaft in Ägypten ein ganz anderes Bild:

    ""Die kommen mir ein bisschen vor wie die CSU Sozialausschüsse so in den 60er-, 70er Jahren. Also in der Wirtschaftspolitik verfolgen sie eigentlich ein marktwirtschaftliches Modell, was aber sehr stark abzielt auf eine Sozialgesetzgebung, auf Umverteilungsmechanismen, auf eine Mischwirtschaft, wo nicht alles privatisiert, sondern wo profitbringende staatliche Sektoren beibehält, statt sie zu privatisieren. Statt dessen private Investitionen in neuen produktiven Sektoren begünstigt.”"

    Vor die Aufgabe gestellt, herauszufinden, wen die Botschaften in den Revolutionsländern nun als Gesprächspartner aufwerten sollen, weil zum Beispiel die Islamisten von Marokko bis Ägypten bald mitregieren, müssen die meisten Diplomaten nun kapitulieren. Peinlich. Es fehlt nach wie vor am Goodwill, aber auch schlichtweg an Telefonnummern, berichten die Wissenschaftler. Paradoxerweise verliert die EU so in einem Moment an Einfluss in der arabischen Welt, in dem ihre Demokratie als Vorbild für die neuen Gesellschaften dienen könnte, so Annette Jünemann.

    ""Ich glaube nicht, dass die EU jetzt in dieser Region eine Gestaltungsmacht sein kann und sie sollte es auch nicht sein. Der Schuss würde nach hinten losgehen. Da hat sie tatsächlich einen Einflussverlust. Der Glaubwürdigkeitsverlust sitzt tief.”"

    Bei den Medien stellen die Wissenschaftler der DAVO im Übrigen dasselbe Ergebnis fest. Welche Journalisten stellen uns die neuen Akteure denn vor? Wer berichtet über die neue Partei aus jungen Islamisten und jungen koptischen Christen, die aus der Revolution hervorgegangen ist? Wer über die wirtschaftliche Verflechtung des Militärs, das Wahlrecht, die Verfassung? Die wenigsten Korrespondenten in Ägypten zum Beispiel können überhaupt oder ausreichend arabisch sprechen und lesen, können Datenquellen prüfen und verlässlich vom Verlauf der Revolution berichten. Sara Gemeinder, Politikwissenschaftlerin und Doktorandin der Uni Erlangen, beklagt dies seit Längerem aus Kairo.

    ""Das finde ich doch sehr erschreckend, dass man Ägypten komplett vernachlässigt und sagt, ja die Revolution hat stattgefunden, alles ist gut, alles wunderbar, alles ist toll. Aber insgesamt gibt es seit Beginn der Revolution 12.000 Gefangene beziehungsweise Zivilisten, die vor Militärgerichte gestellt wurden, eintägigen Verfahren, wenn überhaupt, eine Stunde, und die werden dann bis zu drei Jahren Haft verurteilt. Und es ist eben nicht toll und das bekommen die Korrespondenten ja auch mit."

    Idealerweise, so hört man hinter vorgehaltener Hand von einigen der 1.200 Nahostexperten der DAVO-Konferenz in Berlin, müsste es analog zum Regime- und Verfassungswechsel in den arabischen Ländern auch zur Auswechslung ihrer korrumpierten Counterparts in den westlichen Vertretungen kommen.