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Revue über Generationen

Der Schriftsteller Amos Oz ist hier zu Lande, in Deutschland, vermutlich der bekannteste lebende Autor Israels. Friedenspreisträger. Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung. Aber was ist Israel?

Von Julia Schröder | 10.10.2004
    Als Amos Oz geboren wurde, am 4. Mai 1939 in Jerusalem, sollte es bis zur Gründung des Staates Israel noch genau neun Jahre und zehn Tage dauern. Oz ist mittlerweile Großvater und 65, ein Alter, in dem ein Mann schon auf ein Leben zurückblicken kann. Aber was sind die 56 Jahre seit der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 1948, seit dem Ende der britischen Mandatszeit und der Ausrufung des modernen Staates Israel, was sind diese nicht einmal sechzig Jahre für ein Staatsgebilde?

    Nicht viel, dies lehrt uns die Erfahrung der vergangenen zwei Jahrzehnte, in denen – nach einen halben Menschenalter trügerischer Stabilität - Weltreiche sich auflösten, Staaten anderen Staaten beitraten, Nationen sich neu gründeten und Grenzen mit Gewalt verschoben wurden. Trotzdem: obwohl beispielsweise die DDR sich vor unseren Augen verflüchtigt hat, nach immerhin vierzig Jahren, obwohl wir Zeugen wurden, wie die Tschechoslowakei zerbrach, obwohl der Balkan uns bis heute lehrt, wie schnell und wie heftig Territorien ihre Namen wechseln können, trotzdem vergessen wir nur zu gern, wie unsicher die Grenzen, wie zerbrechlich auch diese Werke von Menschenhand sind. Und dass Israel Gründe hat, die eigene Existenz für nicht ganz selbstverständlich zu nehmen.

    Amos Oz erinnert daran, ohne je zum Parteigänger oder Propagandisten zu werden, sondern auf die einzig mögliche Weise: beglaubigt durch das eigene Leben und in großer poetischer Genauigkeit. Jetzt erscheint auf Deutsch, unter dem wörtlich übersetzten Titel Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, was er zu seiner eigenen Familie zu erzählen hatte, und das ist nicht wenig. Fast achthundert Seiten dick ist dieses Buch und übertrifft damit mühelos die keineswegs schmalbrüstigen Romane, die Amos Oz seit fünfunddreißig Jahren schreibt.

    Jemand hatte aus Tel Aviv eine neue Münze mitgebracht, viel zu groß und ziemlich hässlich, aber es war die erste israelische Münze, die bei uns auftauchte, und sie ging unter großer Erregung von Hand zu Hand: Es war eine Fünfundzwanzig-Prutot-Münze, mit einem Traubenbüschel-Motiv, von dem Vater sagte, es sei genau von einer israelitischen Münze aus der Zeit des Zweiten Tempels übernommen worden, und über dem Traubenbüschel war klar und deutlich die hebräische Inschrift zu kesen: ISRAEL. Sicherheitshalber erschien der Name Israel auf der Münze nicht nur auf hebräisch, sondern auch in lateinischer und arabischer Schrift: damit man es sehe und achte.
    Frau Zerta Abramsky sagte: "Wäre es nur unseren seligen Eltern und deren Eltern und allen Generationen vergönnt gewesen, diese Münze zu sehen und zu betasten. Jüdisches Geld." Ihre Stimme erstickte.
    Herr Abramsky sagte: "Ja, es gehört sich wirklich, den Segen für alles Neue darüber zu sprechen. Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns hast Leben und Erhaltung gegeben und uns hast diese Zeit erreichen lassen."
    Und Großvater Alexander, mein eleganter, genussfreudiger Großvater, der Liebling der Frauen, sagte gar nichts, führte nur die übergroße Nickelmünze an die Lippen und küsste sie zweimal zärtlich, und seine Augen füllten sich mit Tränen, und dann trennte er sich von ihr und gab sie weiter.


    Tja, jüdisches Geld. Bis hierher zeigt die von Oz erinnerte Szene nicht nur die Sicherheit, mit der er als Erzähler seines eigenen Lebens auch über die Perspektive des
    Grundschulkindes verfügt, sondern ebenso die für sein Erzählen typische leise, dem Geschilderten innewohnende Ironie, das Neben- und Durcheinander von Banalem und Erhabenem, von Münzgeld, Bildungsanspielung, Frömmigkeit, Shoah und Diaspora. Denn diese Erfahrung, zerstreut zu sein in aller Herren Länder, und die Hoffnung darauf, zweitausend Jahren Unerwünscht-, ja, Verfolgtsein unter allen Völkern zu überwinden, hat die in dieser Szene versammelten Menschen, Einwanderer allesamt, geprägt. Aber es ist noch nicht zu Ende, noch lange nicht.

    In diesem Moment erschreckte das Sirenengeheul eines Krankenwagens, der durch die Zefanja-Straße raste, die Anwohner, und zehn Minuten später heulte erneut die Sirene der Ambulanz auf dem Weg zurück, und vielleicht nahm Vater den Vorfall zum Anlass, irgendeinen schwachen Witz zu reißen über das Widderhorn des Messias oder ähnliches. Danach saß man weiter zusammen und unterhielt sich, trank vielleicht noch ein Glas Tee, und eine halbe Stunde später verabschiedeten sich die Abramskys und wünschten uns alles Gute, Herr Abramksy mit seiner Vorliebe für feierliche Floskeln überschüttete uns im Weggehen sicherlich noch mit einigen hochtrabenden Sprüchen. Und als sie in der Tür standen, kam ein Nachbar und bat sie taktvoll in eine Ecke des Hofes, und dann liefen sie ihm so schnell nach, dass Tante Zerta ihre Handtasche bei uns vergaß. Eine Viertelstunde später tauchten entsetzt die Nachbarn Lemberg bei uns auf, um uns zu erzählen, dass Jonathan Abramsky, der zwölfjährige Joni, während seine Eltern bei uns saßen, in der Nechemja-Straße auf dem Hof gespielt hatte, wo ein jordanischer Scharfschütze ihn von der Polzeischule aus mit einem Schuss mitten in die Stirn traf. Danach lag der Junge noch fünf Minuten im Sterben, musste sich übergeben, und als der Krankenwagen eintraf, war er schon nicht mehr am Leben.

    Dies geschieht im ersten jüdisch-arabischen Krieg unmittelbar nach der Staatsgründung, und es wird kaum vier Jahre dauern, bis Amos Klausner, wie Oz damals noch hieß, der Sohn von Arie und Fania Klausner, von der ihm und seiner Familie bestimmten Finsternis eingeholt wird. 1952, da ist er zwölfeinhalb, nimmt seine Mutter, die schöne, kluge, belesene Fania Klausner, geborene Mussmann, sich das Leben. Amos trennt sich vom Vater, zunächst innerlich, dann, indem er in einen Kibbuz geht, worin er – mit Unterbrechungen durch Wehrdienst, Lehraufträge und Gastdozenturen im Ausland – ein ganzes Erwachsenenleben verbringt. Und all die Jahre, auch noch, nachdem er und mit ihm seine Frau und seine Familie den Kibbuz Hulda im Jahr 1985 verlassen haben, all die Jahre, während er Buch um Buch schreibt und den Zustand des Landes in den Neurosen seiner Figuren spiegelt, all die Jahre spricht und schreibt er von seiner Mutter kein Wort. Nicht vom Alptraum der Depression, der ihrem Selbstmord voranging, nicht von den rätselhaften Gründen, nicht vom vernichtenden Gefühl des kleinen Jungen, von ihr aus Mangel an Liebe einfach verlassen worden zu sein.

    Vom Todestag meiner Mutter bis zum Todestag meines Vaters, fast zwanzig Jahre nach ihr, haben er und ich kein einziges Mal über sie gesprochen. Kein einziges Wort. Als hätte sie nie gelebt. Als wäre ihr Leben nur ein zensiertes Blatt, das aus einer sowjetischen Enzyklopädie herausgerissen worden war. Oder als wäre ich, wie Athene, direkt dem Haupt des Zeus entsprungen. Eine Art umgekehrter Jesus war ich: Ein jungfräulicher Mann hatte mich aus einem durchsichtigen Geist geboren.

    Denn dieser Vater wusste, bei aller Liebe zu seiner Frau und seinem Kind, nicht, "wie man sich annähert". Und der Sohn? -
    Erst in seinem Versroman "Allein das Meer", der vor zwei Jahren auf Deutsch erschien, bereitete sich in einzelnen Versen und Abschnitten vor, was Amos Oz jetzt, in dieser "Geschichte von Liebe und Finsternis" fertig gebracht hat: einem Leben nachzuspüren, das er nur eine knappe Kindheit lang begleiten durfte; die Schicksale der eigenen Familie Revue passieren zu lassen über mehrere Generationen, ohne diesem speziellen Unglück ganz auf die Spur zu kommen; sich selbst und sein Heranwachsen noch einmal ganz neu auf den Prüfstand zu stellen; und schließlich das Bild des Landes in jenem Licht erscheinen zu lassen, das vom Herkommen seiner Bewohner darauf geworfen wird.

    Wie ein offener Bruch, ein Knochen, der aus dem zerrissenen Fleisch ragt -/ das ist meine Mutter, die den Schatten an der Decke nachts entsteigt und mir sagt,/ Amek, es ist zwei Uhr, warum schläfst du nicht und warum rauchst du wieder./ Kind, geh in die Küche, trink gleich eine warme Milch, dann leg dich wieder hin/ und schlafe. Denk nachts nicht an mich, ich bin Insomnia, denk lieber an den Wald/ im Regennebel und an einen Fuchs, der dort im Dunkeln unter Tannen Schutz sucht,/ das wird dich schon einlullen.

    So hatte sich im Versroman Allein das Meer die Erinnerung an die vor langer Zeit verschwundene Mutter an den Erzähler herangeschlichen, eine Mutter, die in seinem Andenken stets von dieser Aura des Waldes im Regennebel umgeben ist, von Zauber- und Nachtgeschichten voller Feen, Katen und Auen, wie sie dem Leben am Rand der Wüste, für das Amos Oz sich entschieden hat, fremder nicht sein können. In jene selbst erfundenen romantischen Märchen, mit denen sie ihren Sohn entzückte, ergoss sich Fania Klausners Sehnsucht nach dem Kindheitsland, das sie mit der Auswanderung in den dreißiger Jahren eingetauscht hatte gegen jenen kargen vorderasiatischen Landstrich, wo zwar in Jerusalem alle Tschechow oder Tolstoi lasen, wo aber, um das Land zu gewinnen, nicht Lektüre zählte, sondern Bewässerungsanlagen.
    Dass die konkrete Erinnerung an den Flecken Rowno in der Ukraine sich der Mutter verwandelte in Geschichten voller kindlich-zeitenthobener Wunderdinge und düster-fesselnder Märchenwesen, hatte wohl seine Gründe. Der Sehnsuchtsort konnte und durfte ja kein Ziel der Sehnsucht mehr sein. Der Sohn macht sich (und uns) bewusst, dass in jenem ukrainischen Wäldchen, wo Fania und ihre Schwestern sommers zu picknicken pflegten, später die Deutschen tausende von Juden erschossen.

    Fanias Mann wiederum, Amos´ Vater, kann die Vorliebe seiner Frau fürs Alltagsabgewandte nicht teilen. Doch sein Verfahren, einen Platz im neuen Land zu finden, wirkt nicht wesentlich lebenstüchtiger. Jehuda Arie Klausner, Neffe des berühmten nationalkonservativen Gelehrten Joseph Klausner, hoffte lange Jahre ebenfalls auf eine Universitätslaufbahn, kam jedoch über das Bibliothekarsdasein, wiewohl ungeheuer beschlagen auf vielen Gebieten, nicht hinaus. Denn im neuen Israel, der Zuflucht von Geistesgrößen aus aller Welt, kamen auf spärliche Dozentenstellen hunderte von möglichen Kandidaten. Und nach den heroischen Anfangsjahren schickte der Staat, auf den Fania und Arie – jeder auf seine Weise – und ihrer beider Familien, soweit sie dem europäischen Judenmord entkommen waren, ihre zionistischen Hoffnungen gesetzt hatten, sich an zu einem fast normalen, jedenfalls in der täglichen Mangelwirtschaft eher glanzarmen Gebilde heranzureifen. Und beide blickten der Enttäuschung ins Auge - jeder seiner eigenen.

    Arie floh in akademische Witzelei und zu anderen Frauen, Fania erst in die Bücher und schließlich in die unheilbare Umdüsterung des Gemüts. Zwei Jahre lang musste der heranwachsende Junge, der kurz zuvor noch als frühreifes kleines Orakel das Entzücken des gesamten Bekanntenkreises gewesen war, mitansehen, wie Mutter und Vater und am Ende auch ihm selbst in seinen vorpubertären Nöten nicht zu helfen war.

    Wir waren in jeden Herbsttagen aneinandergekettet wie drei Verurteilte in einer Zelle. Und gleichzeitig war doch jeder für sich allein: Denn was konnten sie und er über die Widerwärtigkeit meiner Nächte wissen? Über die grausame Hässlichkeit meines Körpers? (...) Nichts ahnten meine Eltern. Tausend Lichtjahre lagen zwischen ihnen und mir. Nicht Lichtjahre. Tausend Jahre der Finsternis.
    Doch was wusste ich von dem, was sie durchmachten?
    Und was wussten sie beide einer vom anderen? Was wusste mein Vater von ihrer Qual? Was verstand meine Mutter von seinem Leid? Tausend Jahre der Finsternis zwischen jedem und jedem. Sogar zwischen drei Verurteilten in einer Zelle. Und sogar damals, in Tel Arsa, an jedem Schabbatmorgen, als Mutter an einen Baum gelehnt saß und Vater und ich unsere Köpfe auf ihre Knie legen, auf jedem Knie ein Kopf, und Mutter uns beide streichelte, sogar in jenem Augenblick, der mir der kostbarste aller Momente meiner ganzen Kindheit ist, trennten uns tausend Jahre der Finsternis.


    Verständlich, dass der Sohn die Misere des Elternhauses und den ganzen Jerusalemer Diaspora-Sumpf hinter sich lassen will und sich für jenen Ort entscheidet, der ihm das Licht des Aufbaus, die Befriedigung der harten, dabei unbeschwerten körperlichen Arbeit, das Diesseits zum jenseitigen Buchstaben- und Bücherreich seines Herkommens verspricht: den Kibbuz. Doch auch da muss er merken, dass er Außenseiter bleibt. Denn er liest. Und er beginnt zu schreiben. Er wählt den Nachnamen Oz, was Kraft heißt, und wird zum berühmtesten lebenden Autor Israels.

    Und nun, nach Jahrzehnten des Schreibens über vieles und des Schweigens zu einem entscheidenden Punkt, macht er sich daran zu zeigen, wie alles zusammenhängt: Vater, Mutter, Kind, die Vorfahren in Osteuropa, die Dichter, die Diaspora, die Sprache und das Land Israel. Er tut es auf seine Weise, das heißt, er verfertigt keine Memoiren nach allen Regeln der Kunst, keine historischen Untersuchungen, keine Theoriegebäude zum Existenzrecht des Staates Israel, keine Sozialanalysen und keine psychologischen Spekulationen. Sondern er erzählt. Er erzählt Geschichten, malt Szenen aus, gibt Dialoge wieder, auf den ersten Blick ein wenig durcheinander, scheinbar planlos. Was im Zentrum steht, der Tod der Mutter, kommt lange nicht, dann vorsichtig und erst spät immer ausführlicher zur Sprache.

    Es beginnt mit Genreszenen aus dem Jerusalem der Mandatszeit, in dem all die in den dreißiger Jahren oder mit der Alijah-Welle zuvor Eingewanderten untereinander bekannt zu sein scheinen, jeder heimlich ein Dichter oder ein Umstürzler oder beides ist, wo alle alles gelesen haben, wo man einmal die Woche in einen schöneren Stadtteil zu Onkel Joseph Klausner wandert und seinen gelehrsamen Ansichten lauscht. Es geht weiter mit den Erinnerungen von Fanias kleiner Schwester, der alten Tante Sonia, an das Leben im jüdisch-ruthenischen Rowno, wo versoffene Adlige ihre Frauen im Spiel verloren und der Großvater Naftali Herz Mussmann vom Leibeigenen zum Großmühlenbesitzer aufstieg, bevor er alles wieder verliert, viel durch Inflation, das meiste durch die Kommunisten und den Rest nach der Einwanderung. Es wird erzählt von Feierabendpoeten wie dem anderen Großvater Alexander, der seine glühenden Liebesgedichte an die hebräische Sprache auf russisch verfasst, und von seiner Frau, Großmutter Schlomit, die schweren Herzens erst Odessa und dann Wilna hinter sich gelassen hatten.

    Und so machten sich also Schlomit und Alexander Klausner, die enttäuschten Liebhaber Europas, 1933 auf, gemeinsam mit ihrem Sohn Jehuda Arie, der gerade sein Studium der Polnischen und Allgemeinen Literatur abgeschlossen hatte, und gingen mit gemischten Gefühlen, notgedrungen, ins asiatische Palästina, nach Jerusalem, dem Großvater in seiner Jugendzeit sentimentale Gedichte gewidmet hatte. An Bord der ,Italia‘ fuhren sie von Triest nach Haifa (...) Und im Hafen von Haifa, so besagt die Familienlegende, wartete bereits ein Arzt im weißen Kittel (oder war es vielleicht ein Sanitäter?), im Auftrag der britischen Mandatsmacht, der die Kleidung aller Einreisenden mit einem Desinfektionsmittel absprühte. (...) Großmutter warf auf alles ringsum einen bestürzten Blick und fällte auf der Stelle ihr berühmtes Urteil, das ihr während der fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens in Jerusalem zum Motto werden sollte: Die Levante ist voller Mikroben.

    Oz erzählt vom anderen Sohn der beiden, Aries Bruder, der mit Frau und Söhnchen in Wilna blieb und ermordet wurde. Er ezählt vom großen Haus und dem literarischen Salon, den Großmutter Schlomit in Odessa geführt hatte, und von der kleinen Wohnung (voller Mikroben), in der sie in Jerusalem unterkam. Er erzählt vom Hass, den nach Fanias Tod deren Schwestern auf Aries Familie entwickelten, weil sie glaubten, nicht nur er, auch seine Eltern, deren Ansichten und die Lebenseinstellung seines konservativen Umfelds hätten sie ins Unglück gestürzt.

    Wie Oz in Anekdoten und bezeichnenden Szenen die unterschiedlichen Herkünfte und widersprüchlichen Bestrebungen dieser beiden doch immerhin aschkenasischen Familien aufscheinen lässt, gibt ja schon einen starken Eindruck von den Zentrifugalkräften, die nach 1948 in einem Staat gebändigt werden sollten. Bezeichnender noch, geradezu symbolisch für die Fährnisse, die der neue Staat auf sehr altem Boden zu meistern hatte, ist die Entwicklung der Sprache, von der unpunktierten Schrift der Bibel zum modernen Hebräisch, das für ein modernes Leben zu gebrauchen war. Schließlich geschah dies in einer Sprachgemeinschaft, deren allergrößter Teil in anderen Muttersprachen aufgewachsen war: polnisch, russisch, jiddisch, deutsch. So kam es, dass der Großvater seine Jacke mit einem Wort bezeichnete, das der nächsten Generation bereits "Büstenhalter" beduetete.

    Und so kam es, dass der Junge Amos, bis dato ein glühend nationalistisches Kind, das alle Scharmützel des aktuellen Krieges wie die Schlachten biblischer und römischer Zeit mit Streichhölzern und Kronkorken nachgespielt (und zuweilen in Verlauf und Ergebnis korrigiert hatte) von seiner martialischen Begeisterung für die Cherut-Partei des vormaligen Irgun-Widerstandskämpfers bzw. -terroisten Menachem Begin geheilt wurde:

    Und an diesem Punkt kam mein Fall, erfolgte meine Vertreibung aus dem Paradies: Herr Begin sprach nun über den bevorstehenden Krieg und über das Wettrüsten, das im ganzen Osten in vollem Gange sei. Doch wie alle Vertreter seiner Generation, quer durch alle Parteien, verwendete Herr Begin für den Begriff "Waffen" nicht den im modernen Hebräisch üblichen Begriff kle neschek, sondern den alten Begriff "kle sajin", und "sajin" ist auch der derbe Slangausdruck für das männliche Glied. Aufrüsten, "lesajen", "lehisdajen", bedeutet so auch "ficken", "es miteinander treiben". Die Grenze verlief, mehr oder weniger, zwischen den im Lande Geborenen, die jünger als fünfundzwanzig waren, und denen, die älter waren oder die hebräische Sprache aus Büchern gelernt hatten.

    Kein Wunder, dass der zwölfjährige Amos in Gelächter ausbricht, als Begin Entsprechendes in den Saal donnert:

    Präsident Eisenhower treibt es mit Nassers Regime! Bulganin treibt es mit Nasser! (...) Die ganze Welt treibt es mit unseren arabischen Feinden! (...) Und wer treibt es mit der Regierung Ben Gurion? (...) Wäre ich jetzt Regierungschef - so würden alle, alle es mit uns treiben. Al-le-samt!

    Dass Begins betont kriegerische Ausdrucksweise, dass die patriotischen Lieder und Gedichte, die mit Eisen, Schwert und Feinden, Blut und Boden nur so um sich werfen, gerade nicht die Sprache des souveränen Staats ist, gerade nicht das Gebrüll des "Löwen, der sich neben Löwen bettet", geht Amos erst später auf, und auch, dass die Staatsgründung viele Palästinenser ihrerseits die Heimat gekostet hat.
    Amos Oz‘ "Geschichte von Liebe und Finsternis" lässt ahnen, wie einer zum Schriftsteller wird. Und sie lehrt den, der Augen hat zu lesen, was Israel ist.

    Amos Oz
    Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
    Suhrkamp Verlag, 765 S. EUR 26,80