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Rheinland-Pfalz
Warum eine 100-Jährige Stadträtin werden will

Lisel Heise ist 100 Jahre alt. Jahrzehntelang ging sie in ihrem pfälzischen Wohnort Kirchheimbolanden regelmäßig ins Freibad. Seit 2011 ist es geschlossen, für eine Grundsanierung war kein Geld da. Jetzt will Heise in den Stadtrat einziehen - und das Freibad wiedereröffnen.

Von Anke Petermann | 15.05.2019
Die 100-jährige Lisel Heise kandidiert für Stadtrat von Kirchheimbolanden in Rheinland-Pfalz
Die 100-jährige Lisel Heise kandidiert für Stadtrat von Kirchheimbolanden in Rheinland-Pfalz (picture alliance/dpa/Uwe Anspach)
Volle weiße Haare, Pulli mit Schalkragen unter einer hellen wattierten Weste, Sportschuhe an den Füßen. Lisel Heise unterwegs zum Wahlkampf-Abend von "Wir für Kibo". Zum Dietrich-Bonhoeffer-Haus hat es die spätberufene Stadtratskandidatin nicht weit, den unebenen Weg an der Kirche vorbei schafft sie ohne Gehhilfe in flottem Schritt.
"Hallo, guten Abend, schön, dass Sie da sind!"
Am Eingang des Veranstaltungssaals warten Christa Weiß vom Vorstand des Vereins "Wir für Kibo" und ihre Mitstreiter.
"Ich finde es toll, dass die Frau Heise uns unterstützt und dass jemand in dem Alter so fit ist und sich auch so einsetzt für diese ganzen Belange für Kibo, das ist erstaunlich."
Das Thema des Abends hat die 100-Jährige selbst gesetzt: Kampf ums Freibad für Kirchheimbolanden.
"Mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – war die Grundtendenz des Humanismus. Und jetzt hocken wir im Kapitalismus, und da haut das nicht mehr hin."
Keine Klassenkämpferin - aber Kapitalismus-Kritikerin
Bemängelt die pensionierte Sportlehrerin. Die im Jahr nach dem ersten Weltkrieg Geborene ist keine Klassenkämpferin, ihre politischen Idole sind Barack Obama und Helmut Schmidt. Aber dass es kein Geld für ein Freibad geben soll, obwohl die pfälzische Wirtschaft brummt, das kann Lisel Heise nicht verstehen. "Die Kohle stimmt", sagt sie, "jetzt muss man was für die Seele tun". Einen Weltkrieg und zwei Besatzungszeiten hat die 100-Jährige erlebt. Während der ersten, der französischen Besatzung, entstand unter schwierigsten Bedingungen das Freibad von Kirchheimbolanden, finanziert von Unternehmern, die damals die Gesundheit ihrer Arbeiter und deren Kinder im Auge hatten. Lisel Heise weiß das, weil einer davon ihr Vater war, ein Schuhfabrikant.
"Da wurde nichts gemauert, sondern da hat man diese Wände mit Besenreisern befestigt, und das war eine wunderbare praktische und stabile Angelegenheit. Aber mit dem Naturschwimmbecken – das war ein bisschen blöd dann bei einer Wende beim Schwimmen, wenn man dann plötzlich in den Reisern hängen geblieben ist."
Schmunzelt Lisel Heise über das kratzige Reisig-Material, das eine Beckenrand-Wende unter Wettkampf-Bedingungen erschwerte. Die 100-Jährige sitzt vorn im Saal am Tisch, spricht frei und ohne Mikrofon vor vierzig Leuten gegen das Rauschen des Dia-Projektors an - kein Problem für eine studierte Pädagogin. Wie es weiterging mit dem Freibad:
"Da hat man dann der Not gehorchend und aus diesem Grund nachher gemauert, dann hat man diese glatten Wände gemacht, war ein prima Sportschwimmbad geworden."
Mittlerweile Bekanntheit über Deutschland hinaus
Über Jahrzehnte Wettkampfarena und Freiluft-Wohnzimmer der 8000-Einwohnerstadt – die gute "Sommer-Stubb" von Kirchheimbolanden, sagt Heise wehmütig, während auf der Leinwand hinter ihr die alten Bilder von Festen auf der Wiese und sommerlichem Hochbetrieb am 3-Meter Sprungturm zu sehen sind. Dank ihres biblischen Alters hat sich Heises Engagement bundesweit, ja weltweit herumgesprochen. Die Ex-Sportlehrerin bekommt Zuschriften aus ganz Deutschland von Bürgern, die den schon geschehenen oder drohenden Verlust ihres Freibads beklagen. Da wird die ansonsten nicht radikal wirkende Seniorin ganz deutlich:
"Eine medizinische Schweinerei der Politik, diese Freischwimmbäder zu schließen!"
Der Stadträtin in spe ist wichtig, parteiunabhängig zu kandidieren. Bei "Wir für Kibo" machen auch Piraten und Grüne mit, der Verein versteht sich als linksliberal, sagt der Vorsitzende Thomas Bock. Heises Sohn hat Bock angeregt, seine Mutter zu fragen, ob sie kandidieren wolle.
"Und da meinte die Lisel spontan, ‘wer will denn schon eine 100-Jährige wählen?‘"
Ein Großteil der Menschen über 40 waren bei dir in der Schule, schob Bock nach:
"Das bringt uns dann einfach Stimmen. Und dann hat sie gesagt, 'wenn es der Liste was nutzt, kandidiere ich'."
Wohl mit guten Erfolgsaussichten für den Wahlsonntag Ende Mai, auch dank des rheinland-pfälzischen Kommunalwahlsystems. Das erlaubt, Stimmen anzuhäufen - bis zu drei für einen Kandidaten darf man "kumulieren". Mit Blick auf die älteste Kandidatin glaubt Thomas Bock:
"Sie wird locker alle überholen"
"Dass sie uns locker alle überholen wird. Ich weiß von vielen Leuten, die unsere Liste sonst vielleicht gar nicht wählen würden, weil die politisch anders aufgestellt sind, dass sie aber der Lisel Heise auf jeden Fall ihre Stimme geben. Und deswegen gehe ich davon aus, dass sie bei der Wahl – es sind ja 24 Stadtratsmandate zu vergeben - mit Sicherheit eine von den zehn ist, die die meisten Stimmen bekommen haben."
Engagieren will sich Lisel Heise dann auch für ein autofreies Stadtzentrum und für eine Disco – die Bedürfnisse junger Leute hat die Oma von zehn Enkeln und sechs Urenkeln fest im Blick. Und deren Zukunft: dass Schüler mit den "Fridays-for-Future"-Protesten für eine bessere Klimapolitik kämpfen, findet die Streitbare gut.