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Rhetorik und Realpolitik

Er wurde als der Hoffnungsträger der Welt gefeiert: US-Präsident Barack Obama. Ein Jahr nach seiner Wahl wird nun eine erste Bilanz gezogen - mit durchaus gemischtem Fazit.

Von Klaus Remme |
    Vor dem Hintergrund einer tiefen Rezession, von zwei Kriegen und der Vielzahl anderer innen- und außenpolitischer Herausforderungen ist es vielleicht kein Wunder, wenn viele Amerikaner sagen: Was, ein Jahr ist das erst her, nur ein Jahr seit dem Wahltag und den historischen Sekunden am frühen Morgen deutscher Zeit, als sich Fernsehsender wie ABC festlegten und den Wahlsieger ausriefen.

    Nach einem beispiellosen Wahlkampf wurde Barack Obama nicht nur in den USA gefeiert, Milliarden saßen vor dem Fernseher, als der gewählte Präsident mit seiner Familie im Grant Park von Chicago wenig später auf die Bühne trat.

    Inmitten des Freudentaumels um ihn herum dauerte es nur Minuten, bis Obama nüchterne Töne anschlug: Und auch wenn wir heute Nacht feiern, wissen wir doch, dass wir ab morgen vor den wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit stehen, sagte er.

    Jeff Zeleny beobachtet Barack Obama seit vielen Jahren, zunächst für die Chicago Tribune, jetzt für die New York Times. Er sitzt in einem Café, wenige Schritte vom Weißen Haus entfernt, und denkt zurück an diese Nacht in Grant Park: Ich habe ihn in der Nacht das erste Mal mit dieser neuen Last auf den Schultern gesehen, er lachte nicht so wie sonst und schien sich der neuen Verantwortung sehr bewusst, sagt Zeleny. Auch wenn Barack Obama offiziell erst seit dem 20. Januar im Amt ist und eine offizielle Jahresbilanz verfrüht wäre: Die Wahl am 4. November war der emotionale Höhepunkt des Machtwechsels in Washington. Und anders als die meisten seiner Vorgänger war Barack Obama schon weit vor seinem Amtsantritt gefordert, so Jonathan Alter in Newsweek: Seine Amtszeit begann eigentlich im November, als er de facto Co-Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Er konnte kein Gesetz unterzeichnen, durfte noch nicht im Weißen Haus schlafen und war nach seinem Rücktritt als Senator technisch gesehen Privatbürger. Doch das waren Formalitäten, zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der USA traf ein gewählter Präsident einige seiner wichtigsten Entscheidungen, vor allem in der Wirtschaftspolitik, bevor er sein Amt antrat.

    Auf der Suche nach Stimmen und Stimmungen führt der Weg später nach Virginia. Für Barack Obama hatte dieser Bundesstaat im südwestlich von Washington DC eine besondere Bedeutung, wohlkalkuliert beendete er dort seinen Wahlkampf, einen Tag vor der Entscheidung.

    Virginia ging an Obama, zum ersten Mal seit Jahrzehnten an einen Demokraten. Ein wichtiger Fleck auf der neuen politischen Landkarte der Vereinigten Staaten. Und einer der wenigen Staaten, in denen jetzt wieder gewählt wird. Die Suche nach einem neuen Gouverneur dient einigen als Stimmungstest für Barack Obama. Und anders als im vergangenen Jahr sieht es heute schlecht aus für den demokratischen Kandidaten in Virginia.

    Die Parteizentrale der Demokraten in Charlottesville, Virginia. Junge Freiwillige arbeiten sich durch Telefonlisten, rufen an, werben für ihren Kandidaten, für Chreigh Deeds. Sie sind 15, 16 Jahre alt, dürfen noch nicht einmal wählen und wollen doch mitmachen. Alle sind sie im vergangenen Jahr durch den Wahlkampf Obamas zur Politik gekommen.

    Doch Reed Shaw, 15 Jahre alt, gibt zu, dies Jahr sei es viel schwieriger, die Leute zu motivieren: Mit einer allgemeinen Obama-Enttäuschung habe das aber nichts zu tun, ist sich Shaw sicher, hier gehe es um regionale Politik. Abgesehen von leisen Zweifeln an der Afghanistan-Politik ist er selbst hochzufrieden mit seinem Präsidenten, und Zara Doder, auch 16, sieht das genauso: Acht Jahre hatte Bush Zeit, den Karren in den Dreck zu fahren, das ist in einem Jahr nicht zu schaffen, meint Doder und widmet sich ihrem Handy, auf der mühsamen Suche nach Wählern.

    Direkt in der Nachbarschaft, an der University of Virginia in Charlottesville arbeitet Professor Larry Sabato, einer der anerkanntesten Politikwissenschaftler des Landes. Und die Probleme der jungen Wahlhelfer verwundern ihn gar nicht. Vor einem Jahr sind 3,7 Millionen Menschen hier in Virginia zur Wahl gegangen, sagt er, diesmal rechne er mit 2,2 bis 2,6 Millionen.

    Vor allem die Demokraten bleiben zu Hause, junge Wähler, Minderheiten, Leute aus den Vororten, sie alle sind möglicherweise ein wenig enttäuscht von Obama. Natürlich liegt es auch am örtlichen Kandidaten, gibt Sabato zu, und an hochmotivierten Republikanern, die darauf brennen, ihre Niederlage vor einem Jahr wettzumachen. Doch wer angesichts des historischen Wahlkampfs von Barack Obama mit einem sensationellen Start in die Präsidentschaft gerechnet habe, der müsse umdenken. Er, so Sabato, könne nichts, aber auch gar nichts Überraschendes entdecken.

    Es ist genau wie bei jedem anderen Präsidenten, der "honeymoon" ist schnell vorbei, ein paar Erfolge, ein paar Niederlagen und einige Wahlkampfversprechen, die auf der Strecke bleiben. Die Zeiten, in denen Wahlkämpfer darauf hoffen konnten, dass ihre Versprechen langsam, aber sicher in Vergessenheit geraten, sind vorüber. Im Internet sind Reden, Diskussionen, Auftritte jederzeit abrufbar. Politifact ist ein Projekt der St. Petersburg Times in Florida. Er wolle zur Rechenschaft gezogen werden, hatte Barack Obama im Wahlkampf gefordert, und die Journalisten haben ihn beim Wort genommen. Sie haben über 500 Wahlkampfversprechen des Kandidaten aufgelistet, vom Abzug der Truppen aus dem Irak bis zum Versprechen, seinen Töchtern einen Hund zu schenken. Nach neun Monaten im Amt sieht Politifact 49 Versprechen als eingelöst, sieben als gebrochen, 128 seien in Arbeit und über 300 noch nicht angegangen.

    Wöchentliche Probe im Seniorenzentrum Charlottesville. Etwa 20 Musiker der Flashbacks Swing Band legen sich für den unangekündigten Besucher mit Mikrofon noch mal ins Zeug. 1500 Senioren gehen hier ein und aus. Zu den über 100 unterschiedlichen Angeboten zählt auch der politische Diskussionskreis. Afghanistan, Bankenpleite, Gesundheitsreform, inhaltlich sind alle auf Ballhöhe. Charles Sinclair, 63, beklagt die mangelnde Geduld seiner Landsleute: Bei all der Begeisterung hätte man doch annehmen können, dass sein politischer "honeymoon" länger dauern würde, doch eigentlich war der nach acht Stunden schon vorbei, bedauert Sinclair, seine Mutter Jeanette ist mit 85 Jahren entschieden anderer Meinung. Sie hat John McCain gewählt und sieht ihre Befürchtungen bestätigt: Astronomische Summen werden ausgegeben, ohne groß darüber nachzudenken, kritisiert sie. Obama fehle die notwendige Erfahrung, das sei inzwischen offensichtlich, fügt sie hinzu. Wo immer man sich umhört dieser Tage, ein Thema treibt alle um. Wie weiter in Afghanistan?

    Während der Präsident im Weißen Haus die Entsendung zusätzlicher Truppen erwägt, denken vor allem die Älteren zurück an den Krieg in Vietnam. Professor Larry Sabato: Wer älter ist als 50, der hat Vietnam im Hinterkopf, das gilt allemal für Politiker und Journalisten, alle befürchten, dies ist ein Fall wie Vietnam, wo noch so gute Absichten und noch so viele Soldaten scheitern. So war es schließlich immer in Afghanistan, ich weiß nicht, warum das mit uns anders sein soll.

    Die Senioren sind unterschiedlicher Meinung. Bob Johnson, 76, lenkt das Augenmerk auf Pakistan: Wenn sich die Lage dort nicht stabilisiert, verschwenden wir unser Geld und das Leben unserer Soldaten, sagt Johnson, man müsse noch abwarten. Einspruch meint die Republikanerin neben ihm, Jeanette van der Hoff. Je länger man warte, desto schlechter werde die Lage. Von selbst geben die Taliban nicht auf, sagt sie, unsere Jungs brauchen Unterstützung.

    Jeff Zeleny, der New-York-Times-Korrespondent für das Weiße Haus, sagt, Afghanistan werde so oder so über die erste Amtszeit Obamas entscheiden, und Professor Alan Lichtman von der American University in Washington DC erinnert an Lyndon B. Johnson in den 60er-Jahren.

    Vietnam war die Achillesferse für den liberalen Reformer. Und er wurde nicht von den Republikanern gestürzt, sondern durch seine eigene Partei, durch den Widerstand von Eugene McCarthy und Robert Kennedy. Dominiert Afghanistan die Außenpolitik, bestimmen die Wirtschaftspolitik und das Projekt Gesundheitsreform die Innenpolitik. Keinen Monat nach Amtsantritt unterzeichnete Obama am 17. Februar ein Rekord-Konjunkturpaket in Höhe von 787 Milliarden Dollar. Erste Hoffnungszeichen sind unübersehbar, doch noch gehen täglich Jobs verloren. Erholt sich der Arbeitsmarkt in den kommenden zwölf Monaten, wird der Präsident im Kampf für die Zwischenwahlen im kommenden Jahr seine Strategie als Erfolg verkaufen können, bleibt die Arbeitslosenrate bei ca. zehn Prozent oder steigt sie gar weiter, wird das Thema zur schweren Hypothek für den Präsidenten. War schon das Konjunkturpaket parteipolitisch umstritten, ist die Gesundheitsreform zum Glaubenskrieg geworden. Nach Jahrzehnten gescheiterter Versuche sehen sich die Demokraten kurz vor dem Ziel einer Krankenversicherung für alle Amerikaner. Republikaner und Rechtspopulisten wie Talk-Radio-König Rush Limbaugh sprechen von beispielloser Freiheitsberaubung. Hier Limbaugh am vergangenen Wochenende gegenüber dem Fernsehsender Fox: Washington reiße sich in wahrer Regulierungswut 1/6 des privaten Sektors unter den Nagel, der größte Diebstahl in der Geschichte des Landes, so Limbaugh.

    Doch so sehr der rechte Flügel wütet, die Aussichten auf eine Verabschiedung der Reform sind gut. Lassen Sie sich nicht von Protesten und Drohungen verwirren, rät Politologe Larry Sabato. Würde Obama mit diesem für ihn zentralen Projekt scheitern, das Debakel bei den Zwischenwahlen 2010 wäre programmiert: Bill Clinton musste lernen, wenn die Demokraten nicht liefern, bleiben die Wähler zu Hause. Sie haben einen demokratischen Präsident gewählt, eine Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments. Wenn es jetzt nicht klappt, dann nie, und die Wähler würden sich fragen: Warum überhaupt wählen?

    Shawn Borton, 31 Jahre alt, sitzt am Tresen der South Street Brauerei in Charlottesville. Er beschreibt sich selbst als Linker in der Demokratischen Partei. Im Rückblick auf das letzte Jahr sagte er über Barack Obama: Meistens bin ich stolz auf ihn: Ich glaube, wir haben einen kompetenten, intelligenten und mitfühlenden Präsidenten, das hat es lange nicht mehr gegeben, so Borton. Ihn beunruhigt eine weitere Herzensangelegenheit der Linken: die versprochene Schließung von Guantanamo.

    "Obama hat gesagt, er wird Häftlinge auf Lebenszeit festhalten, ohne Gerichtsverfahren, ja selbst ohne Anklage."

    Die selbst gesetzte Frist bis zum 20. Januar wird Barack Obama nicht einhalten können. Borton sagt: Wenn ich ihn nicht wiederwähle, dann deshalb, dann wegen Guantanamo. Die Enttäuschung vieler Linksliberaler beruhe auf einer Täuschung, argumentiert Anna Quindlen für Newsweek in ihrer Bestandsaufnahme dieser noch so jungen Präsidentschaft. Allerdings keiner Täuschung des Kandidaten, sondern einer Selbsttäuschung:

    "War es sein Alter, war es seine Hautfarbe? Viele Liberale sind in eine Stereotyp-Falle getreten und haben angenommen, Obama müsse ein Radikaler sein. Nach einem Jahr wissen wir um unsere Selbsttäuschung. Er ist methodisch, bedachtsam und konsensgläubig. Ein Mann, der Nuancen schätzt, doch auf beiden Seiten des politischen Spektrums sind Nuancen gleich Wischi-Waschi. Soundbites, Slogans kennen keine Nuancen."

    Die Schließung von Guantanamo binnen eines Jahres. Ein leichtfertiges Versprechen des Präsidenten gleich am ersten Amtstag. Die Probleme wurden unterschätzt, die Frage, wohin mit den Häftlingen, hatte schon George Bush weitgehend ratlos gemacht, Barack Obama geht es nicht anders. Jeanette van der Hoff im Seniorenzentrum schüttelt den Kopf, sie hält gar nichts von der Schließung des Lagers. Er weiß doch immer noch nicht, wohin mit ihnen, meint sie, und ihre republikanische Freundin Jeanette Sinclair fügt hinzu: Hauptsache, nicht nach Michigan.

    Ein typischer Fall von "Nimby"-Syndrom, meint Politologe Larry Sabato. Überallhin, nur nicht in meine Nachbarschaft. Auch er zählt das Versprechen der Schließung von Guantanamo zu den frühen Fehlern des Präsidenten. Bei aller Kritik weist er jedoch darauf hin, dass Barack Obama die Unterstützung im Volk unter schwierigen Bedingungen weitgehend gehalten hat. 52,9 Prozent der Wähler haben vor einem Jahr für ihn gestimmt. Ein deutlicher Sieg, nebenbei auch für europäische Verhältnisse, sagt er. In Umfragen liege die Zustimmungsrate für den Präsidenten zurzeit nach wie vor stabil zwischen 51 und 53 Prozent. Für eine Aussage über Erfolg oder Misserfolg Obamas sei es noch viel zu früh, meint Sabato und schaut zurück auf die Amtsvorgänger der letzten Jahrzehnte:

    "Lyndon Johnson, ein gutes erstes Amtsjahr, am Ende ein gebrochener Mann, Nixon, Erfolge mittendrin, am Ende auch gescheitert, Carter hatte ein tolles erstes Amtsjahr, er wurde nicht wiedergewählt."

    Und Reagan, der ein schreckliches erstes Jahr hatte, galt nach zwei Jahren als garantiert gescheiterter Präsident mit nur einer Amtszeit, erinnert Sabato. Noch scheint also nichts gewonnen, nichts verloren für diesen jugendlich wirkenden Präsidenten, dessen Haare schon nach wenigen Amtsmonaten sichtlich ergrauen. Viele Projekte sind in Arbeit: Trotz seiner vielgelobten Rede in Kairo erweist sich der Nahe Osten auch für Obama als schwieriges Terrain, Teheran und Nordkorea scheinen ebenfalls nicht beeindruckt. Zu Hause ringt Obama um verbindliche Klimaziele und trifft auf erheblichen Widerstand im Senat. Ein Gesetz rechtzeitig für den Gipfel in Kopenhagen? Ein Wunschtraum, mehr nicht. Ach ja, und dann war da noch das hier: absurd, dieser Nobelpreis, sagt Professor Sabato, selbst Anhänger der Demokratischen Partei haben den Kopf geschüttelt. Für was, fragt er?

    "Er hätte ihn ablehnen sollen, seine Popularität wäre über Nacht um zehn Prozentpunkte hochgeschossen, das wäre für immer in Erinnerung geblieben, aber natürlich kann man den Preis nicht ablehnen."

    Auch in der Seniorenrunde in Charlottesville wird der Nobelpreis kontrovers diskutiert. Stolz angesichts des Preisträgers aus dem eigenen Land mischt sich mit Rätselraten über die Motive des Komitees in Oslo. Die Hoffnung auf Wandel ist bei den Obama-Anhängern in der Runde jedoch ungebrochen. Noch sei es viel zu früh, um ihn als Präsident zu bewerten. Ginge es nach ihnen, Barack Obama müsste sich keine Sorgen um seine Zukunft machen. Während die Flashback Band ein Stockwerk unter ihnen probt, lautet die Frage: Würden Sie Barack Obama heute wieder wählen?

    "Sieben Ja-Stimmen, zweimal Nein, eine Enthaltung. Nicht schlecht für einen Präsidenten, dessen lautstärkste Kritiker in der älteren Generation zu finden sind."