Wenn man vor diesem Hintergrund jetzt plötzlich einen großformatigen, schweren Band aus dem Verlag Stroemfeld/Roter Stern in den Händen hält, dann werden sie unvermutet wach, die geheimen, oft belächelten Sehnsüchte. Da hat sich einer, abseits der tagesaktuellen Zeitläufte und des gewohnheitsmäßigen Blicks, an das Werk seines Lebens gemacht. Elf Jahre lang der Schweizer Pierre Imhasly, der nunmehr achtundfünfzig Jahre alt ist, an seinem Opus Magnum geschrieben, und seit kurzem liegt es vor: "Rhone Saga" lautet der Titel, der das Programm bereits offen ausspricht.
Man weiß, und das nährt die Erwartung, wenig von Pierre Imhasly. Wir erfahren etwas von Studien in Fribourg und Zürich, von ausgedehnten Aufenthalten in Italien und Spanien, und die bisherigen Publikationen sind eher spärlich und dünn. 1970 muß Imhasly die Schweizer, wenn sie es denn überhaupt bemerkt haben, ein bißchen provoziert haben, mit einem kulturkritischen Zeitungsartikelbändchen namens >>Sellerie, Ketch-up & Megatonnen<<. 1979 folgte ein kleiner Band mit Poesie:>>WIDERPART oder Fuga mit Orgelpunkt vom Schnee<<, und 1982 hat er ein eingehendes Werk über den Stierkampf vorgelegt:>>Corrida, der spanische Stier und sein Fest <<. Ansonsten ist Imhasly bisher vor allem als Übersetzer hervorgetreten, etwa seines Landsmanns aus dem Wallis, Maurice Chappaz.
In die "Rhone Saga", mit ihren 461 auf vielfältige Weise bedruckten Seiten, scheint mithin alles geflossen sein, was Pierre Imhasly zu sagen hat, was sich in seinem Leben und der Dichtung konzentrierte. "Saga": eine andere Gattungsbezeichnung trägt dieses Buch nicht. Schlägt man es auf, ahnt man, daß eine wie auch immer geartete Gattungsbezeichnung dieses Buch auch nicht erfassen würde: es ist nicht nur ein literarisches, mit verschieden gesetzten und formal äußerst unterschiedlichen Texten, sondern auch ein künstlerisch-grafisches. Fotos spielen eine große Rolle, daneben sind auch Zeichnungen und andere Reproduktionen bildnerischer Kunst eingefügt: das große Kladdenformat, das Format eines DIN-A-4-Schulheftes bietet viele Möglichkeiten, Texte anzuordnen und visuell zu gestalten.
Imhaslys Rhone-Saga ist also kein fortlaufender, einziger Text, sondern sie setzt sich wie ein Kaleidoskop zusammen: Prosapassagen und poetische Abbreviaturen wechseln sich ab und gehen ineinander über, kursiv Gesetztes sprengt sich in den Text, und kleingedruckte Fußnoten kommentieren das jeweilige Geschehen auf ihre Weise. Es ist ein mehrdimensionales Sprechen, das diese Rhone-Saga ausmacht: oft laufen zwei Texte parallel nebeneinander, manchmal ist der eine als Ergänzung kenntlich, in kleinerem Druck, meistens aber sind sie einander gleichgestellt und figurieren als spiegelbildlich, auch wenn sie einen völlig unterschiedlichen Atem und Duktus haben. Die einfache Mitteilung: "Gnocchi alle castagne isst Ornella am liebsten", kann mit philosophisch-aufflammenden Aphorismen kontrastieren: "Huang He, der Gelbe Fluss, mit einem Gott, der aus seiner Flanke steigt."
Diese Mehrdimensionalität wird durch die Mehrsprachigkeit noch verstärkt: der Lauf der Rhone ist von zwei Sprachen dominiert, vom Deutschen und vom Französischen, und von benachbarten Räumen klingen das Italienische und das Spanische mit hinein: es sind dies Sprachformen, die als Widerhaken und Reflektionsflächen in Imhaslys Text erscheinen. Fremdsprachige Partikel kommentieren die jeweilige Textpassage und geben ihr einen weiteren Raum, ein Echo. Daß im Wallis, dem Ursprungsgebiet der Rhone, in einzelnen Bergtälern Dialekte gesprochen werden, die noch ans Mittelhochdeutsche gemahnen, daß im Mündungsgebiet das Provencalische vorherrscht, daß in diesen südwesteuropäischen Regionen sich die Sprachzeiten überlagern und die Sprachgrenzen immer verfließende waren, fließt hier mit ein.
Die poetisch konzentriertesten, als Langgedichte konzipierten Texte in Imhaslys Rhone-Saga sind deswegen zweisprachig gesetzt: das Deutsche und das Französische sind hier gleichberechtigt, es geht nicht darum, welches das Original und welches die Übersetzung ist. So wird der Raum zur Sprache:
"ch rolle wenn es dunkelt
In Fässern versiegeltes Schweigen
An die äussersten Wohnstätten
Meiner aetherischen Topographie
Nehme daraus aus der Luft jene Lust
Die den Mann
Das dreifach gepflügte Bachfeld
Mit fündigem Pech überzieht
Bis dass die Erde auf dem Himmel liegt
Kienspan und Zunder der Mensch
Ein Mass von Schlacken und von Salz
Im Echo meiner Trauer
Und von bizarren Aufbrüchen
Im Westen der Horizont
Kappt mir die Bäche nach oben
Von Tautropfen
Die Himmelsrhone strömt und strömt
Unter sehr hohen Sternen rollet es zueinander
wie Steine
Als wie Städte im Meer versinken versink ich
im Blau
Ein dunklerer Stein der Mann
Es zerrt Ich bin eine Boje wandernde Insel
Kein Lied geht ihm über die Lippen
Tellurisch ja und sehr viel Schachtelhalm grün
Ich sacke durch die Höhlen Schächte Keller
Labyrinthe
des Azurs
Das ist was die Frau zu tragen hat
Sie ist der Fluss und fliesst aufwärts
Der Mann ist die Wüste darauf
Nach Thule ist weit und nach Aigues-Mortes ist nah
Wurzeln haben die Frauen
Wurzeln tief und weit
Aigues-Mortes in den Lichthof
Des Golfe du Lion geschüttet am anderen Ende
des Flusses
Die Frauen tragen einen Geschmack auf der Zunge
Auf der Zunge ein Geschmack: schneerot
Brand wie der Brand von Stieren
Aigues-Mortes
Ein Schwertfisch hüpft mir durchs Traumgebet
Brand wie der Brand von Stieren
Ehe sie untergeht seufzt scheint es die Sonne
Die Milchstrasse zischt
Cette putain de terre ne peut pas être ton amour
Galaxien sind Inseln nur / Ich bin eine Boje
Die einzelne Lärche nun da sie Luftwurzeln schlägt
Möchte von van Gogh sein schön wie ein Obelisk
Ich bin eine Boje und hüte Guano
Vom Paradiesvogel
Der Herbst mein Gedächtnis / Der Herbst ist
das Buch
Wenn die erste schwarze Maske in der Luft hängt
Man liest von Toten und von Tieren
Wenn die erste schwarze Maske unter mir hängt
Will ich bannen das Kuhaug
Von Tieren und von Toten
Das Kuhauge das mich verfrachtet
Von Tieren und von Toten
Von Seele sag ich.
(...)
L'automne ma mémoire L'automne mon livre
Quand le premier masque noir sera suspendu
Au-dessous de moi
J'irai conjurer l'oeil de vache
On lit sur les morts les bêtes
Qui m'a pris dans sa barque
Sur les morts sur les bêtes
Je parlerai Ame
Zehn autarke Welten, so heißt es einmal an einer sich selbst reflektierenden Stelle der Rhone-Saga, gibt es auf den 850 Kilometern dieses Wassers: "Das Buch muß den EINEN Raum erst schaffen". Imhasly versucht in seiner Saga, diese zehn autarken Welten, die verschiedenen geographischen, sprachlichen und menschlichen Formen entlang der Rhone zu fassen: dies ist fürwahr der Gestus eines Epos, das an antike Vorstellungen gemahnt, das das Große und Ganze im Blickfeld hat, das Götter und Menschen zusammendenkt. Und so, wie sich der Fluß in Haupt- und Nebenströme gliedert, sich im Delta verzweigt und in unwegsamem Gelände, nahe am Ursprung, sich in mehreren Nebenläufen sucht, so entfaltet sich auch der Text.
Die unterschiedlichen Bruchstücke, die lyrischen Anläufe wie die Prosa- und Berichtspassagen sind durch die große äußere Form aufeinander bezogen. Es können historische, dokumentierende Texte sein oder Dialoge, in denen sich die beteiligten Personen augenblicksbezogen austauschen, es können weit ausholende rhythmische Schwingungen sein oder kurze Stakkati, es kann der Stierkampf beschworen werden oder ein altes Kochrezept aus dem Wallis zitiert
"Pro Person ein Ei, Milch, Mehl, ein wenig Bouillon, Salz nicht vergessen, ein wenig Öl, damit der Teig nicht austrocknet. Es kommen kleine Speckwürfel hinein. Den Kohl entblättern, waschen."
Und wenn der Autor in die Rolle eines mittelalterlichen Adligen aus Avignon schlüpft, wird der gesamte Text sichtbar: "aus der Gruft trete ich ein in das Leben des letzten Baronelli, Abenteurer, Mystiker, Gralsucher, Schamane, Konquistador, Prophet".
Die unterschiedlichen Texte können leicht auseinanderlaufen, können leicht beliebig wirken, der äußere Zusammenhang künstlich. Pierre Imhasly hat aber eine Klammer gefunden, welche die verschiedenen Textstücke zusammenhält. Es ist eine uralte, epische und das Menschliche bestimmende: es ist die Liebe. In der Stierkampfarena von Nîmes, in der die spanische, klassische Variante des Stierkampfs gepflegt wird, hat Imhasly seine Liebe kennengelernt, und er nennt sie mit Namen: Lucienne Bodrero. So, wie Francesco Petrarca seine Laura, seine Angebetete in Avignon, und so, wie Botticelli seine Venus, seine Simonetta Vespucci preist und ins Künstlerische erhöht - so preist Imhasly seine Lucienne Bodrero; immer wieder taucht sie in den Zeilen seiner Rhone-Saga auf, als Anrufungs- und Beschwörungsformel, mit dem zärtlichen Diminutiv: "Bodrerito", und auf den Aufschlagsseiten des Buches ist das Paar auch auf einem großen Schwarzweißfoto abgebildet: sich einander ansehend, im Hintergrund der Rhonegletscher, die Landschaft des Ursprungs. Bodrerito erscheint in vielen Verwandlungen in Imhaslys Rhone-Saga, als Nausikaa und als Artemis, als Fluchtpunkt des Textes.
Zwischen dem Wallis, der Heimatregion des Dichters am Ursprung der Rhone, und Nîmes, dem Wohnort seiner Geliebten im Mündungsgebiet des Flusses, schweift die Rhone-Saga hin und her, Anfang und Ende sind aufeinander bezogen, die Räume sind zusammengedacht, und alle Einzelheiten seiner Heimat, die Imhasly seiner Bodrerito erklärt, setzen sich spätestens in Nîmes zu einem Gesamtbild zusammen. Die persönlichen Geschichten, die Porträts von Freunden, die Traditionen seiner Heimat erlangen in der weiten Perspektive dieses Textes ihre Welthaltigkeit wie von selbst: im Spiegel von Nîmes, der Corrida, der Liebe zu einer Frau, die in der Stierkampfarena begann - "Corrida ist auch acte d'amour", wie es einmal in einer Fußnote heißt. Der Stierkampf und die Liebe gehen im unübersetzbaren Wort "duende" ineinander über: es bezeichnet den Zustand der höchsten Inspiration, des Außer- und Beisichseins, der vollkommenen Leere und Erfüllung. "Es geschieht mit ihnen", schreibt Imhasly dazu in einem Glossar am Schluß des Buches, in dem er das Wort "duende" den Zigeunern zuschreibt und sie es leben läßt.
Zwischen dem Wallis und Nimes, zwischen dem Dichter und seiner Geliebten fließt die Rhone, entfalten sich Raum und Zeit der Rhone-Saga, und in den großen lyrischen Anrufungen kommt Imhasly dem Grundton des klassischen Epos am nähesten:
"Luna y Sol Grande Femelle dein Land
stark und wild, sieh es im Schlaf, wie es atmet
leise und stark wie der Schnee,
und über den Schlaf hinaus stark und wild sieh diese Anmut,
sieh eine Sanftmut wie von Ewigkeit.
Siehe dein Haar grünend in den Apfelbäumen der Lozère.
Der Arm, unter den Kopf gelegt, reicht nach Avignon,
ove la luce dell'arte nuova da Simone Martini fù espressa,
reicht an den gelben Ventoux mit dem Schatten gelb.
Arles hält dein anderer Arm,
umfängt den Sternenschrein aus Stein,
aber auch Mon Bar, Maria, die Guerilleros der lauten Hände,
auch die Romeros des trüben Suffs,
auch Trinquetaille, was tingelt und Absinth schrillt,
auch Montmajour aus hellester Helle den hellesten Dom.
Es blüht dieses Antlitz, sein Mund spricht occitan.
Die Brüste, puella, turgeszieren,
Languedoc der Bauch - Languedoc hebt und senkt er sich.
Nîmes, Mädchen, eine Stadt schreit Château,
wo zwischen Spelunken und Nonnen und Nonnen und Nutten
deine kleine Kindheit so laut geschwiegen hat.
Auf seiner Flanke lagert das Tier,
die erhabene Hüfte breitet Cevennen aus,
Garrigue, Pracht deiner Blösse aufgetan,
das Spielbein heisst Grand Rhône.
Et dans ton Entre-jambes chiromantisch Camargo.
Die Grosse Lagune.
Floss deiner Freude, Lune Noire,
geht sie aufs Meer.
Meer - und über das Meer hinaus."
Dies ist keine verdichtete Lyrik, keine zeitgenössische Hermetik. Diese Lyrik hat etwas Rhetorisches, hat etwas von Sprechgesang, und wenn der Dichter sich an einer Stelle Bodrerito mit den Worten vorstellt: "Ich bin dein Troubadour", dann ist der Resonanzrahmen erkennbar.
Doch diese lyrischen Schübe sind nur ein Teil der Rhone-Saga. Sie wird mindestens genauso geprägt durch Städtebeschreibungen, durch Porträts von Dichtern und Künstlern, van Gogh und Saint-John Perse, und sie lebt durch die Anrufungen von Freunden, von Künstlerfreunden zumeist, deren Tätigkeit beschrieben und essayistisch nachvollzogen wird: der Poet Maurice Chappaz etwa, der Ikonograph und Autor Nicolas Bouvier in Genf, die Maler Gottfried Tritten und Bruno Baeriswyl aus Fribourg, die Fotografen Oswald Ruppen und Thomas Andenmatten, die auch die meisten Fotos in Imhaslys Rhone-Sage gemacht haben.
Durch diese privaten Gespräche, Notizen vom Alltag mit Freunden wird die Rhone-Saga mitunter zu einem persönlichen Tagebuch, zu einem Fotoalbum, und die Sprache ist hier der Mündlichkeit auf ganz andere Weise geschuldet als im rhetorischen Gestus der Langgedichte: es wird wie im normalen Leben gesprochen. Da ist jemand nicht nur einfach Drucker, sondern hat auch "einen Haufen Literatur intus", da wird festgestellt, "was echt fehlt", und als Imhasly 1969 nach Genf kam, "waren wir mittendrin im 68, Bodrerito, aber voll!" Es gibt Montagen mit sachlichen, unpersönlichen Beschreibungen der Alkoholkrankheit, es gibt ein langes Nachvollziehen von Gesprächen in Seminargruppen und Mitteilungen wie am Kneipentisch: dank Lucien Clergue, dem Fotografen der Corrida, gibt es, so teilt Imhasly mit, noch "die Camargue der Nicht-Touristen, ohne zuschüttende falsche Folklore".
Man würde die Konzeption dieser Rhone-Saga mißverstehen, würde man diese Redetexte, diese Alltagssprache einfach abwerten, in dem Sinne, daß sie gegenüber der hohen epischen Sprache einfach abfalle. Die privaten Mitteilungen, die verschiedenen Stilebenen machen den sprachlichen Kosmos der Rhone-Saga erst aus. Es ist der große Gestus dieses Bandes, der beeindruckt, es ist das Pathos des Dichterischen. Dazu gehört auch, daß die scheinbaren Beiläufigkeiten, die Freundschaften, der Alltag, die Beschreibungen der Entstehung der Rhone-Saga mit in das Buch gehören: auch das Umfeld gehört zum Wesen des Dichterischen. Und so wird in Pierre Imhaslys Rhone-Saga nicht der einzelne Textbaustein zentral, sondern die poetische Haltung zur Welt, die Poetisierung des Lebens. "Nicht Schrift nicht Sprache" ist eine der Zwischenüberschriften in der Rhone-Saga: sie bezeichnet diese eigentümliche literarische Form, die da über Jahre hinweg abseits des Literaturbetriebs entstanden ist, zwischen dem Wallis und Nîmes, zwischen Sprachen und Zeiten - die alte Sehnsucht, Literatur und Leben zu verschmelzen.
Man weiß, und das nährt die Erwartung, wenig von Pierre Imhasly. Wir erfahren etwas von Studien in Fribourg und Zürich, von ausgedehnten Aufenthalten in Italien und Spanien, und die bisherigen Publikationen sind eher spärlich und dünn. 1970 muß Imhasly die Schweizer, wenn sie es denn überhaupt bemerkt haben, ein bißchen provoziert haben, mit einem kulturkritischen Zeitungsartikelbändchen namens >>Sellerie, Ketch-up & Megatonnen<<. 1979 folgte ein kleiner Band mit Poesie:>>WIDERPART oder Fuga mit Orgelpunkt vom Schnee<<, und 1982 hat er ein eingehendes Werk über den Stierkampf vorgelegt:>>Corrida, der spanische Stier und sein Fest <<. Ansonsten ist Imhasly bisher vor allem als Übersetzer hervorgetreten, etwa seines Landsmanns aus dem Wallis, Maurice Chappaz.
In die "Rhone Saga", mit ihren 461 auf vielfältige Weise bedruckten Seiten, scheint mithin alles geflossen sein, was Pierre Imhasly zu sagen hat, was sich in seinem Leben und der Dichtung konzentrierte. "Saga": eine andere Gattungsbezeichnung trägt dieses Buch nicht. Schlägt man es auf, ahnt man, daß eine wie auch immer geartete Gattungsbezeichnung dieses Buch auch nicht erfassen würde: es ist nicht nur ein literarisches, mit verschieden gesetzten und formal äußerst unterschiedlichen Texten, sondern auch ein künstlerisch-grafisches. Fotos spielen eine große Rolle, daneben sind auch Zeichnungen und andere Reproduktionen bildnerischer Kunst eingefügt: das große Kladdenformat, das Format eines DIN-A-4-Schulheftes bietet viele Möglichkeiten, Texte anzuordnen und visuell zu gestalten.
Imhaslys Rhone-Saga ist also kein fortlaufender, einziger Text, sondern sie setzt sich wie ein Kaleidoskop zusammen: Prosapassagen und poetische Abbreviaturen wechseln sich ab und gehen ineinander über, kursiv Gesetztes sprengt sich in den Text, und kleingedruckte Fußnoten kommentieren das jeweilige Geschehen auf ihre Weise. Es ist ein mehrdimensionales Sprechen, das diese Rhone-Saga ausmacht: oft laufen zwei Texte parallel nebeneinander, manchmal ist der eine als Ergänzung kenntlich, in kleinerem Druck, meistens aber sind sie einander gleichgestellt und figurieren als spiegelbildlich, auch wenn sie einen völlig unterschiedlichen Atem und Duktus haben. Die einfache Mitteilung: "Gnocchi alle castagne isst Ornella am liebsten", kann mit philosophisch-aufflammenden Aphorismen kontrastieren: "Huang He, der Gelbe Fluss, mit einem Gott, der aus seiner Flanke steigt."
Diese Mehrdimensionalität wird durch die Mehrsprachigkeit noch verstärkt: der Lauf der Rhone ist von zwei Sprachen dominiert, vom Deutschen und vom Französischen, und von benachbarten Räumen klingen das Italienische und das Spanische mit hinein: es sind dies Sprachformen, die als Widerhaken und Reflektionsflächen in Imhaslys Text erscheinen. Fremdsprachige Partikel kommentieren die jeweilige Textpassage und geben ihr einen weiteren Raum, ein Echo. Daß im Wallis, dem Ursprungsgebiet der Rhone, in einzelnen Bergtälern Dialekte gesprochen werden, die noch ans Mittelhochdeutsche gemahnen, daß im Mündungsgebiet das Provencalische vorherrscht, daß in diesen südwesteuropäischen Regionen sich die Sprachzeiten überlagern und die Sprachgrenzen immer verfließende waren, fließt hier mit ein.
Die poetisch konzentriertesten, als Langgedichte konzipierten Texte in Imhaslys Rhone-Saga sind deswegen zweisprachig gesetzt: das Deutsche und das Französische sind hier gleichberechtigt, es geht nicht darum, welches das Original und welches die Übersetzung ist. So wird der Raum zur Sprache:
"ch rolle wenn es dunkelt
In Fässern versiegeltes Schweigen
An die äussersten Wohnstätten
Meiner aetherischen Topographie
Nehme daraus aus der Luft jene Lust
Die den Mann
Das dreifach gepflügte Bachfeld
Mit fündigem Pech überzieht
Bis dass die Erde auf dem Himmel liegt
Kienspan und Zunder der Mensch
Ein Mass von Schlacken und von Salz
Im Echo meiner Trauer
Und von bizarren Aufbrüchen
Im Westen der Horizont
Kappt mir die Bäche nach oben
Von Tautropfen
Die Himmelsrhone strömt und strömt
Unter sehr hohen Sternen rollet es zueinander
wie Steine
Als wie Städte im Meer versinken versink ich
im Blau
Ein dunklerer Stein der Mann
Es zerrt Ich bin eine Boje wandernde Insel
Kein Lied geht ihm über die Lippen
Tellurisch ja und sehr viel Schachtelhalm grün
Ich sacke durch die Höhlen Schächte Keller
Labyrinthe
des Azurs
Das ist was die Frau zu tragen hat
Sie ist der Fluss und fliesst aufwärts
Der Mann ist die Wüste darauf
Nach Thule ist weit und nach Aigues-Mortes ist nah
Wurzeln haben die Frauen
Wurzeln tief und weit
Aigues-Mortes in den Lichthof
Des Golfe du Lion geschüttet am anderen Ende
des Flusses
Die Frauen tragen einen Geschmack auf der Zunge
Auf der Zunge ein Geschmack: schneerot
Brand wie der Brand von Stieren
Aigues-Mortes
Ein Schwertfisch hüpft mir durchs Traumgebet
Brand wie der Brand von Stieren
Ehe sie untergeht seufzt scheint es die Sonne
Die Milchstrasse zischt
Cette putain de terre ne peut pas être ton amour
Galaxien sind Inseln nur / Ich bin eine Boje
Die einzelne Lärche nun da sie Luftwurzeln schlägt
Möchte von van Gogh sein schön wie ein Obelisk
Ich bin eine Boje und hüte Guano
Vom Paradiesvogel
Der Herbst mein Gedächtnis / Der Herbst ist
das Buch
Wenn die erste schwarze Maske in der Luft hängt
Man liest von Toten und von Tieren
Wenn die erste schwarze Maske unter mir hängt
Will ich bannen das Kuhaug
Von Tieren und von Toten
Das Kuhauge das mich verfrachtet
Von Tieren und von Toten
Von Seele sag ich.
(...)
L'automne ma mémoire L'automne mon livre
Quand le premier masque noir sera suspendu
Au-dessous de moi
J'irai conjurer l'oeil de vache
On lit sur les morts les bêtes
Qui m'a pris dans sa barque
Sur les morts sur les bêtes
Je parlerai Ame
Zehn autarke Welten, so heißt es einmal an einer sich selbst reflektierenden Stelle der Rhone-Saga, gibt es auf den 850 Kilometern dieses Wassers: "Das Buch muß den EINEN Raum erst schaffen". Imhasly versucht in seiner Saga, diese zehn autarken Welten, die verschiedenen geographischen, sprachlichen und menschlichen Formen entlang der Rhone zu fassen: dies ist fürwahr der Gestus eines Epos, das an antike Vorstellungen gemahnt, das das Große und Ganze im Blickfeld hat, das Götter und Menschen zusammendenkt. Und so, wie sich der Fluß in Haupt- und Nebenströme gliedert, sich im Delta verzweigt und in unwegsamem Gelände, nahe am Ursprung, sich in mehreren Nebenläufen sucht, so entfaltet sich auch der Text.
Die unterschiedlichen Bruchstücke, die lyrischen Anläufe wie die Prosa- und Berichtspassagen sind durch die große äußere Form aufeinander bezogen. Es können historische, dokumentierende Texte sein oder Dialoge, in denen sich die beteiligten Personen augenblicksbezogen austauschen, es können weit ausholende rhythmische Schwingungen sein oder kurze Stakkati, es kann der Stierkampf beschworen werden oder ein altes Kochrezept aus dem Wallis zitiert
"Pro Person ein Ei, Milch, Mehl, ein wenig Bouillon, Salz nicht vergessen, ein wenig Öl, damit der Teig nicht austrocknet. Es kommen kleine Speckwürfel hinein. Den Kohl entblättern, waschen."
Und wenn der Autor in die Rolle eines mittelalterlichen Adligen aus Avignon schlüpft, wird der gesamte Text sichtbar: "aus der Gruft trete ich ein in das Leben des letzten Baronelli, Abenteurer, Mystiker, Gralsucher, Schamane, Konquistador, Prophet".
Die unterschiedlichen Texte können leicht auseinanderlaufen, können leicht beliebig wirken, der äußere Zusammenhang künstlich. Pierre Imhasly hat aber eine Klammer gefunden, welche die verschiedenen Textstücke zusammenhält. Es ist eine uralte, epische und das Menschliche bestimmende: es ist die Liebe. In der Stierkampfarena von Nîmes, in der die spanische, klassische Variante des Stierkampfs gepflegt wird, hat Imhasly seine Liebe kennengelernt, und er nennt sie mit Namen: Lucienne Bodrero. So, wie Francesco Petrarca seine Laura, seine Angebetete in Avignon, und so, wie Botticelli seine Venus, seine Simonetta Vespucci preist und ins Künstlerische erhöht - so preist Imhasly seine Lucienne Bodrero; immer wieder taucht sie in den Zeilen seiner Rhone-Saga auf, als Anrufungs- und Beschwörungsformel, mit dem zärtlichen Diminutiv: "Bodrerito", und auf den Aufschlagsseiten des Buches ist das Paar auch auf einem großen Schwarzweißfoto abgebildet: sich einander ansehend, im Hintergrund der Rhonegletscher, die Landschaft des Ursprungs. Bodrerito erscheint in vielen Verwandlungen in Imhaslys Rhone-Saga, als Nausikaa und als Artemis, als Fluchtpunkt des Textes.
Zwischen dem Wallis, der Heimatregion des Dichters am Ursprung der Rhone, und Nîmes, dem Wohnort seiner Geliebten im Mündungsgebiet des Flusses, schweift die Rhone-Saga hin und her, Anfang und Ende sind aufeinander bezogen, die Räume sind zusammengedacht, und alle Einzelheiten seiner Heimat, die Imhasly seiner Bodrerito erklärt, setzen sich spätestens in Nîmes zu einem Gesamtbild zusammen. Die persönlichen Geschichten, die Porträts von Freunden, die Traditionen seiner Heimat erlangen in der weiten Perspektive dieses Textes ihre Welthaltigkeit wie von selbst: im Spiegel von Nîmes, der Corrida, der Liebe zu einer Frau, die in der Stierkampfarena begann - "Corrida ist auch acte d'amour", wie es einmal in einer Fußnote heißt. Der Stierkampf und die Liebe gehen im unübersetzbaren Wort "duende" ineinander über: es bezeichnet den Zustand der höchsten Inspiration, des Außer- und Beisichseins, der vollkommenen Leere und Erfüllung. "Es geschieht mit ihnen", schreibt Imhasly dazu in einem Glossar am Schluß des Buches, in dem er das Wort "duende" den Zigeunern zuschreibt und sie es leben läßt.
Zwischen dem Wallis und Nimes, zwischen dem Dichter und seiner Geliebten fließt die Rhone, entfalten sich Raum und Zeit der Rhone-Saga, und in den großen lyrischen Anrufungen kommt Imhasly dem Grundton des klassischen Epos am nähesten:
"Luna y Sol Grande Femelle dein Land
stark und wild, sieh es im Schlaf, wie es atmet
leise und stark wie der Schnee,
und über den Schlaf hinaus stark und wild sieh diese Anmut,
sieh eine Sanftmut wie von Ewigkeit.
Siehe dein Haar grünend in den Apfelbäumen der Lozère.
Der Arm, unter den Kopf gelegt, reicht nach Avignon,
ove la luce dell'arte nuova da Simone Martini fù espressa,
reicht an den gelben Ventoux mit dem Schatten gelb.
Arles hält dein anderer Arm,
umfängt den Sternenschrein aus Stein,
aber auch Mon Bar, Maria, die Guerilleros der lauten Hände,
auch die Romeros des trüben Suffs,
auch Trinquetaille, was tingelt und Absinth schrillt,
auch Montmajour aus hellester Helle den hellesten Dom.
Es blüht dieses Antlitz, sein Mund spricht occitan.
Die Brüste, puella, turgeszieren,
Languedoc der Bauch - Languedoc hebt und senkt er sich.
Nîmes, Mädchen, eine Stadt schreit Château,
wo zwischen Spelunken und Nonnen und Nonnen und Nutten
deine kleine Kindheit so laut geschwiegen hat.
Auf seiner Flanke lagert das Tier,
die erhabene Hüfte breitet Cevennen aus,
Garrigue, Pracht deiner Blösse aufgetan,
das Spielbein heisst Grand Rhône.
Et dans ton Entre-jambes chiromantisch Camargo.
Die Grosse Lagune.
Floss deiner Freude, Lune Noire,
geht sie aufs Meer.
Meer - und über das Meer hinaus."
Dies ist keine verdichtete Lyrik, keine zeitgenössische Hermetik. Diese Lyrik hat etwas Rhetorisches, hat etwas von Sprechgesang, und wenn der Dichter sich an einer Stelle Bodrerito mit den Worten vorstellt: "Ich bin dein Troubadour", dann ist der Resonanzrahmen erkennbar.
Doch diese lyrischen Schübe sind nur ein Teil der Rhone-Saga. Sie wird mindestens genauso geprägt durch Städtebeschreibungen, durch Porträts von Dichtern und Künstlern, van Gogh und Saint-John Perse, und sie lebt durch die Anrufungen von Freunden, von Künstlerfreunden zumeist, deren Tätigkeit beschrieben und essayistisch nachvollzogen wird: der Poet Maurice Chappaz etwa, der Ikonograph und Autor Nicolas Bouvier in Genf, die Maler Gottfried Tritten und Bruno Baeriswyl aus Fribourg, die Fotografen Oswald Ruppen und Thomas Andenmatten, die auch die meisten Fotos in Imhaslys Rhone-Sage gemacht haben.
Durch diese privaten Gespräche, Notizen vom Alltag mit Freunden wird die Rhone-Saga mitunter zu einem persönlichen Tagebuch, zu einem Fotoalbum, und die Sprache ist hier der Mündlichkeit auf ganz andere Weise geschuldet als im rhetorischen Gestus der Langgedichte: es wird wie im normalen Leben gesprochen. Da ist jemand nicht nur einfach Drucker, sondern hat auch "einen Haufen Literatur intus", da wird festgestellt, "was echt fehlt", und als Imhasly 1969 nach Genf kam, "waren wir mittendrin im 68, Bodrerito, aber voll!" Es gibt Montagen mit sachlichen, unpersönlichen Beschreibungen der Alkoholkrankheit, es gibt ein langes Nachvollziehen von Gesprächen in Seminargruppen und Mitteilungen wie am Kneipentisch: dank Lucien Clergue, dem Fotografen der Corrida, gibt es, so teilt Imhasly mit, noch "die Camargue der Nicht-Touristen, ohne zuschüttende falsche Folklore".
Man würde die Konzeption dieser Rhone-Saga mißverstehen, würde man diese Redetexte, diese Alltagssprache einfach abwerten, in dem Sinne, daß sie gegenüber der hohen epischen Sprache einfach abfalle. Die privaten Mitteilungen, die verschiedenen Stilebenen machen den sprachlichen Kosmos der Rhone-Saga erst aus. Es ist der große Gestus dieses Bandes, der beeindruckt, es ist das Pathos des Dichterischen. Dazu gehört auch, daß die scheinbaren Beiläufigkeiten, die Freundschaften, der Alltag, die Beschreibungen der Entstehung der Rhone-Saga mit in das Buch gehören: auch das Umfeld gehört zum Wesen des Dichterischen. Und so wird in Pierre Imhaslys Rhone-Saga nicht der einzelne Textbaustein zentral, sondern die poetische Haltung zur Welt, die Poetisierung des Lebens. "Nicht Schrift nicht Sprache" ist eine der Zwischenüberschriften in der Rhone-Saga: sie bezeichnet diese eigentümliche literarische Form, die da über Jahre hinweg abseits des Literaturbetriebs entstanden ist, zwischen dem Wallis und Nîmes, zwischen Sprachen und Zeiten - die alte Sehnsucht, Literatur und Leben zu verschmelzen.