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Richard J. Evans: Das Dritte Reich - Aufstieg

Der erste Band von Richard J Evans NS-Trilogie, eine Monographie über den Alldeutschen Verband, Briefwechsel von Christa Wolf sowie der Briefwechsel zwischen Engelbert Dollfuß und Benito Mussolini, das sind die Themen unserer heutigen Revue politischer Literatur, Volker Ullrich, Klaus Kreimeier, Manfred Jäger und Ursula Rütten die Rezensenten. Am Mikrophon ist Hermann Theißen. Guten Abend.

Von Volker Ullrich | 19.04.2004
    Ich kann nicht wissen, wie ich selbst mich im Dritten Reich verhalten hätte, schon darum nicht, weil ich, hätte ich damals gelebt, ein ganz anderer Mensch gewesen wäre als der, der ich heute bin.

    Diese Plattitüde hat sich kein Oberschüler in einem Abituraufsatz abgequält. Der britische Geschichtsprofessor Richard J. Evans ist zu dieser Erkenntnis vorgedrungen, und er gibt sie zum Besten in der Einleitung zum ersten Teil seiner NS-Trilogie, die jetzt unter dem Titel "Das Dritte Reich - Aufstieg" bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienen ist. Vollmundig hatte die DVA bereits für den letzten Herbst die deutsche Übersetzung dieses Werks als "die erste Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus" angekündigt. Im September lag dann zwar das englische Original von Band 1 vor, doch die deutsche Übersetzung ließ auf sich warten. Das Manuskript sei noch nicht "veröffentlichungsfähig", teilte der Verlag mit und hüllte sich ansonsten in Schweigen. Bei diesem Vorbehalt ging es offensichtlich nicht um Übersetzungsfragen, der Autor wurde vielmehr veranlasst, sein Manuskript noch einmal zu überarbeiten. Die nun vorliegende deutsche Fassung, sagen Kritiker, die Original und Übersetzung gelesen haben, sei gehaltvoller ausgefallen, vor allem aber ist sie um hundert Seiten länger geworden. Volker Ullrich:

    Literatur über das "Dritte Reich" gibt es wie Sand am Meer; doch die Zahl der fundierten Gesamtdarstellungen ist relativ klein. Es gibt die immer noch lesenswerten Werke von Karl Dietrich Bracher "Die deutsche Diktatur" von 1969 und Hans-Ulrich Thamer "Verführung und Gewalt" von 1986; es gibt einen sehr nützlichen Leitfaden durch Grundprobleme und Tendenzen der historischen Forschung von Klaus Hildebrand (2003 in 6. völlig neubearbeiteter Auflage erschienen); dazu die zweibändige große Hitler-Biographie von Ian Kershaw aus den Jahren 1998 und 2000, die über weite Strecken auch eine Geschichte des Nationalsozialismus ist. Und schließlich das Buch von Michael Burleigh "Die Zeit des Nationalsozialismus", ebenfalls 2000 veröffentlicht, das allerdings, anders als vom Verlag etikettiert, keine "Gesamtdarstellung" ist, sondern sich auf einige wichtige neuere Aspekte, wie Euthanasie oder Vernichtungskrieg, konzentriert.

    Nun hat sich mit Richard Evans ein weiterer britischer Historiker an das Wagnis einer großangelegten Trilogie zur Geschichte des Dritten Reiches gemacht. Der in Cambridge lehrende Forscher ist hierzulande kein Unbekannter. Vor allem seine Bücher über die Cholera-Epidemie von 1892 "Tod in Hamburg" (1990) und über die Todesstrafe in Deutschland "Rituale der Vergeltung" (2001) haben ihm zu Recht viel Anerkennung eingetragen. Allerdings galt der exzellente Kenner der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bislang nicht als Spezialist in Sachen Nationalsozialismus. Als Sachverständiger der Verteidigung in der vom Holocaust-Leugner David Irving angestrengten Verleumdungsklage hatte er jedoch Gelegenheit, sich in die Materie einzuarbeiten. Und damals ist der Entschluss in ihm gereift, eine Gesamtdarstellung zu schreiben, wie es sie in diesem Umfang bisher noch nicht gegeben hat.

    In der Verlagswerbung ist von einem "großen Wurf" die Rede. Man wird darüber endgültig erst urteilen können, wenn das Werk komplett ist, was im Herbst 2007 der Fall sein soll. Der jetzt vorliegende erste Band, der dem Aufstieg des Nationalsozialismus bis zur Machteroberung 1933 nachgeht, wird den hochgesteckten Erwartungen noch nicht ganz gerecht. Evans hat ein Problem, das er sich gewissermaßen selbst eingebrockt hat. Sein Werk wendet sich, wie es im Vorwort heißt, "an Leserinnen und Leser, die nichts oder nur wenig über das Thema wissen und gerne mehr erfahren möchten". Dabei hat der Autor offensichtlich vor allem das Publikum in den angelsächsischen Ländern im Auge. Ihm glaubt Evans grundlegende Kenntnisse über das deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik präsentieren zu müssen, die man bei einem historisch halbwegs gebildeten deutschen Leser voraussetzen kann. So liest sich das Buch streckenweise wie ein kompendienhafter Lehrgang zur deutschen Geschichte.

    Dabei möchte Evans doch gerade der historischen Erzählung wieder zu ihrem Recht verhelfen. Er liebt es, Anekdoten in den Text einzuflechten, und zumeist beginnt er einen neuen Abschnitt mit einem Kurzporträt eines der Akteure. Die sechs Großkapitel folgen der Chronologie; doch innerhalb der einzelnen Kapitel gliedert der Autor nach Sachgesichtspunkten. Das führt dazu, dass der Erzählfluss immer wieder unterbrochen wird und es manchmal zu verwirrenden Zeitsprüngen kommt, die dem wenig bewanderten Leser die Orientierung nicht eben erleichtern.

    Irritierend ist auch, dass der Cambridge-Historiker gleich zu Beginn betont, keine "moralischen Urteile" fällen zu wollen. Kann man eine Geschichte des Dritten Reiches schreiben, ohne dies zu tun? Evans geht sogar noch einen Schritt weiter: "Nachzuvollziehen, wie und warum der Nationalsozialismus an die Macht kam", heiße: "Wir müssen uns in die Köpfe der Nationalsozialisten selbst hineinversetzen." Der britische Autor Anthony Beevor hat in einer Rezension in der "Welt" diese Ankündigung als Tabubruch begrüßt; dadurch werde ein "frischer Blick auf die Dinge" möglich, was immer das heißen mag. Tatsächlich handelt es sich jedoch eher um Lippenbekenntnisse; im weiteren hat sich Evans an die eigenen Vorgaben glücklicherweise nicht gehalten.

    Natürlich steht auch Evans vor der Schwierigkeit, erklären zu müssen, warum sich ausgerechnet in einem industriell fortgeschrittenen, kulturell entwickelten Land wie Deutschland der Faschismus in der besonders barbarischen, mörderischen Spielart des Nationalsozialismus durchsetzen konnte. Von der Theorie eines deutschen "Sonderwegs", wie sie lange Zeit die Diskussion in der deutschen Geschichtswissenschaft beherrschte, hält er gar nichts. Stattdessen spricht er von "deutschen Besonderheiten". Der Nationalsozialismus sei zwar nicht das zwangsläufige Ergebnis der deutschen Geschichte gewesen, wohl aber habe er an politische und ideologische Traditionen anknüpfen können, "die ihrer Natur nach spezifisch deutsch waren". Diesen Traditionen geht Evans im ersten Kapitel nach.

    "Am Anfang war Bismarck", so hebt sein Werk bedeutungsschwer im Stile Thomas Nipperdeys an. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Reichsgründung von 1871 und der "Machtergreifung" von 1933. Aber welchen? Die Antworten, die Evans gibt, bleiben merkwürdig unbestimmt. Er verweist auf den Kult, der um den "Eisernen Kanzler" nach seinem Tode 1898 getrieben wurde, auf das Bedürfnis nach einem "starken Führer", das sich darin ausdrückte, auf die herausgehobene Stellung des Militärs im kleindeutsch-großpreußischen Kaiserreich, auf die Schwäche des Liberalismus, auf die Ressentiments gegenüber Parlamentarismus und Parteien. Doch das alles wird eher angetippt als wirklich entfaltet, und das gilt auch für den Abschnitt über die "Propheten des Hasses", die Propagandisten des Radikalnationalismus und Antisemitismus vor 1914, die Evans als Vorläufer der nationalsozialistischen Ideologie vorstellt.

    Die Zäsur von 1918/19 wird unter der Überschrift "Absturz ins Chaos" abgehandelt. Wenn man bedenkt, wie friedfertig die Novemberrevolution verlaufen war, wie rasch sich die alten Eliten von dem Schock erholten, dann ist das eine unzulässige Dramatisierung. Nachdrücklich zustimmen kann man Evans freilich, wenn er darauf hinweist, dass der Versailler Vertrag, der neuerdings hierzulande von Konservativen wieder gern als eine Hauptursache für das Aufkommen Hitlers ins Feld geführt wird, geradezu milde war verglichen mit dem, was Deutschland im Falle eines Sieges für das übrige Europa geplant hatte. Und ebenso zutreffend ist die Feststellung, dass die vielzitierten Mängel der Weimarer Verfassung nicht die eigentliche Ursache für die Instabilität der ersten deutschen Demokratie waren.

    Eine viel größere Wirkung schreibt der Autor dem Klima der politischen Verhetzung und der Gewalt zu, wie es sich nach 1918 als Folge des verlorenen Krieges und der Hyperinflation ausbreitete. Besonders in den Freikorpsverbänden, die von der SPD-geführten Regierung gegen die radikale Linke aufgeboten wurden, sieht Evans einen "radikalen Geist der Aggression und der Rache" am Werke, "der ans Pathologische grenzte". Zu Recht macht er darauf aufmerksam, dass viele der später führenden Nationalsozialisten ihre Karriere in den Freikorps begannen. Ihren Motiven und Mentalitäten spürt der Autor eingehend nach. Dass die Bereitschaft zu gewalttätigem Handeln sich bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik zunehmend auch gegen Juden richtete, wird mit notwendiger Deutlichkeit hervorgehoben.

    In der starken Betonung der Gewalt als wichtigste Bedingung für den Aufstieg des Nationalsozialismus liegt der wohl interessanteste Aspekt dieses ersten Bandes. Darüber geraten andere Momente in den Hintergrund – etwa die Verführungsmacht Hitlers und des früh um ihn aufblühenden Kults. Wie Hans-Ulrich Wehler im 4. Band seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" beschreibt auch Evans den "Führer" der NSDAP als Charismatiker, doch anders als bei Wehler wird der Begriff nicht entwickelt, sondern einfach gesetzt. Überhaupt vermisst man manchmal eine explizite Auseinandersetzung mit den wesentlichen konkurrierenden Interpretationen der deutschen Historiografie.

    Der britische Historiker macht deutlich, dass die NSDAP bereits vor 1930 sich zu einer schlagkräftigen Organisation entwickelt hatte, dass ihr aber ohne die Weltwirtschaftskrise und deren desaströsen Folgen gerade für Deutschland der Durchbruch zur stärksten politischen Kraft nicht gelungen wäre. Evans spart nicht mit Kritik an der Kommunistischen Partei, deren Hass auf die Weimarer Demokratie sie blind gemacht habe für die Gefahren, die vom Nationalsozialismus drohten. Aber auch mit der Politik der SPD geht er hart ins Gericht. Ihrem Bemühen, durch Tolerierung des auf den Notverordnungsartikel 48 gestützten Präsidialkabinetts unter Reichskanzler Brüning Schlimmeres zu verhüten, bescheinigt er einen vollkommenen Realitätsverlust. Unerörtert bleibt die Frage, welche Handlungsalternativen die Sozialdemokraten überhaupt noch besaßen.

    Auffallend ist, wie wenig Aufmerksamkeit Evans den konservativen Eliten in der Endphase der Weimarer Republik schenkt. Über die Beziehungen zwischen Großindustrie und Nationalsozialismus verliert er nur wenige Worte, und auf die verhängnisvolle Rolle, die gerade die preußischen Agrarier bei der Berufung Hitlers zum Reichskanzler spielten, geht er nur am Rande ein. Das Drama des Januar 1933 – es bleibt in dieser Darstellung überraschend spannungsarm.

    Dafür wird der Leser entschädigt durch die beiden letzten Kapitel über die Etablierung des "Dritten Reiches", die dem Autor hervorragend gelungen sind. Evans schildert eindrucksvoll anhand vieler Einzelbeispiele, wie die Nationalsozialisten in den ersten Wochen nach der "Machtergreifung" "eine Orgie der politischen Gewalt und des Terrors" entfesselten, "die alles bislang Erlebte in den Schatten stellte". Betroffen waren zunächst Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, bald aber auch die Juden. Sehr gut wird das Wechselspiel zwischen Initiativen von oben und unten herausgearbeitet, das die Gewaltaktionen vorantrieb: Hitler und seine Chargen erklärten in hasserfüllten, aber allgemein gehaltenen Wendungen, dass etwas geschehen müsse – und die SA-Leute übersetzten diese Appelle in ihre eigene Sprache und schritten zu konkreten Taten.

    Das extreme Ausmaß von Einschüchterung und Terror liefert dem Autor auch die Erklärung dafür, warum die Nationalsozialisten, die bei den letzten halbwegs freien Wahlen am 5. März 1933 mit 43,9 Prozent der Stimmen die Mehrheit deutlich verfehlt hatten, in nur wenigen Monaten die Reste der Weimarer Demokratie beseitigen und eine Einparteiendiktatur aufrichten konnten. Freilich macht Evans, anknüpfend an Sebastian Haffners Beobachtungen, auch deutlich, dass es nicht nur Gewalt war, die zu diesem Ergebnis führte, sondern viel opportunistische Anpassung, freiwillige Selbstgleichschaltung und – gerade auf Seiten der bürgerlichen Eliten – auch begeisterte Zustimmung zu Hitlers "Kulturrevolution".

    Diesen Begriff führt Evans ein, um die Dimension des Gleichschaltungsprozesses zu verdeutlichen. Denn tatsächlich habe es sich bei der von den Nationalsozialisten als "nationale Revolution" bezeichneten Umwälzung nicht um gesellschaftliche Strukturveränderungen, sondern um eine grundlegende Transformation des gesamten kulturellen Lebens gehandelt. Das oberste Ziel sei die Entfernung von Juden, Linken, Demokraten, Pazifisten aus allen Sparten des Kulturbetriebs und der Wissenschaft gewesen. Der ungeheure Verlust, den der Exodus gerade der besten deutschen Künstler und Wissenschaftler bereits im ersten halben Jahr der NS-Herrschaft bedeutete – er wird hier so anschaulich wie bislang in kaum einer anderen Darstellung.

    "Das Dritte Reich war geboren", beschließt Richard Evans seinen ersten Band. Man ist nun gespannt auf den nächsten, der bis zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs 1939 führen soll. Darin wird der britische Historiker stärker als bisher neben Repression und Terror auch die andere Seite des Nationalsozialismus berücksichtigen müssen – nämlich Verlockung und Verführung, die dem Regime eine Massengefolgschaft sicherten.

    Volker Ullrich über den ersten Teil der NS-Trilogie von Richard J. Evans. Der Band trägt den Titel "Das Dritte Reich - Aufstieg". Er ist erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt in München, umfasst 752 Seiten und kostet 39,90 Euro