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Richard Strauss oder: Der ambivalente Musikzauberer

Der Trost, das Glück und die Friedfertigkeit, die wir in einer bestimmten Literatur, Architektur, Malerei und Musik wahrzunehmen glauben, bilden das Thema unserer Reihe "Kunstbürger - Bürgerkunst. Anfang und Ende der Vision des Glücks".

Von Michael Schmidt | 25.07.2010
    Darin geht es um Porträts von Künstlern, denen gemein ist, dass sie das Alte mit dem Neuen zu versöhnen suchten, ohne mit der Vergangenheit schockartig zu brechen. Michael Schmidt befasst sich in seinem Essay mit dem Komponisten Richard Strauss. Der Autor ist Musikredakteur beim Klassikportal des Bayerischen Rundfunk.



    Richard Strauss oder: Der ambivalente Musikzauberer
    Von Michael Schmidt


    Musik: Richard Strauss: "Einleitung" aus "Also sprach Zarathustra", Tondichtung für großes Orchester, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Lorin Maazel, RCA-Classics

    Richard Strauss war nicht nur der erste Stardirigent im heutigen Sinne. Als erfolgreicher Komponist engagierte er sich für das musikalische Urheberrecht, war Mitbegründer der Salzburger Festspiele wie der Donaueschinger Musiktage und förderte die Aufführung zeitgenössischer Komponisten. Doch obwohl Richard Strauss zu den schillerndsten Musikerpersönlichkeiten unseres Jahrhunderts zählt, ist er von der Musikwissenschaft und -biografik bisher eher stiefmütterlich behandelt worden. Wie auch soll man einen Komponisten, Dirigenten und Geschäftsmann fassen, der zugleich Konventionelles und Revolutionäres produzierte und der sich als Präsident der Reichsmusikkammer zeitweilig für den nationalsozialistischen Unrechtsstaat einspannen ließ - bis er sich 1935 ein partielles Aufführungsverbot einhandelte, weil er sich für seinen jüdischen Librettisten Stefan Zweig einsetzte.

    Richard Strauss lässt sich vielleicht am ehesten als Kunstbürger charakterisieren, und als Egomane, ähnlich dem Helden, der im Zentrum aller seiner Tondichtungen steht. Verfolgt man zum Beispiel die Metamorphose seiner "Alpensinfonie", so erweist sich deren Programm als Ideenverbindung zwischen einer Nietzscheanischen, areligiösen Naturapotheose und einer Idealisierung des autonomen Künstlerlebens. Strauss hatte das Privileg, von Geburt an zu einer gesellschaftlichen Oberschicht zu gehören und war sich dessen auch immer bewusst. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer schreibt dazu:

    "Richard Strauss hat niemals, von sich aus, mit irgendeiner gesellschaftlichen Umwelt gebrochen... Man wird auch die Ablehnung alles melancholischen Selbstmitleids des verkannten Künstlertums bei Richard Strauss aus diesen individuellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten eines Großbürgers interpretieren müssen... Seine Jugend verläuft bereits im Einklang mit Friedrich Nietzsche und mit dem "Zarathustra"... Für den Großbürger Richard Strauss waren Herkunft, Bildungsmöglichkeiten und Bildungsvoraussetzungen selbstverständliche Grundlage eigenen Schöpfertums. Sie führten niemals zum gesellschaftlichen Außenseitertum, zum Kult der Einsamkeit, zur Wollust des Verkanntseins."

    Besonders fruchtbar für das Bühnenschaffen von Richard Strauss war die Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal. Der Komponist und der Dichter hatten sich 1899 bei einer Abendgesellschaft in Wien kennengelernt und vier Jahre später mit der "Elektra" zu einem gemeinsamen Projekt zusammengefunden. Es war der Beginn einer beispielhaften und kongenialen, musikalisch-literarischen Künstlerpartnerschaft, die bis zu Hofmannsthals Tod im Jahr 1929 andauerte. Von dem Theaterstück "Elektra" des um zehn Jahre jüngeren Schriftstellers war Strauss gleich begeistert. Sie beschlossen, das Werk gemeinsam zur Oper umzuarbeiten, und begannen nach deren erfolgreicher Uraufführung mit weiteren Projekten wie "Der Rosenkavalier", "Ariadne auf Naxos" oder "Die Frau ohne Schatten", die ebenfalls Opern-Welterfolge werden sollten. Menschlich näher kamen sich der feinsinnige Hofmannsthal und der eher bodenständige Strauss dabei nicht. Dafür verband sie eine starke ästhetische Übereinstimmung.

    Ähnlich wie Mozart und Schikaneder 1791, im Vorfeld des ersten europäischen Revolutionskrieges, wirkte das kunstbürgerliche Doppelgespann Hofmannsthal-Strauss um 1914 an einer Märchenoper, der "Frau ohne Schatten", der zwar anders als bei der "Zauberflöte" das politische Konzept fehlt, der dafür aber eine soziale Vision anzumerken ist: Das symbolisch geladene Ehedoppelspiel ist Bürgerkunst "par excellence" und geht letztlich so gut aus, wie die spannungsvoll-stabile Ehe von Richard und Pauline Strauss. Alma Mahler-Werfel bemerkte in diesem Zusammenhang sogar Züge von Masochismus an Strauss, der 1902 "ich brauch' dees!" zu Gustav Mahler gesagt haben soll, als ihn Pauline nach dem Ende der Wiener "Feuersnot"-Premiere mit einem offenen Unmutsausbruch brüskierte. In ihrem Tagebuch konstatierte Alma Mahler-Werfel bei Strauss zudem eine "sonderbare Schwäche und Sehnsucht, unterlegen zu sein", wohingegen sie einige Seiten später die Helligkeit und Sieghaftigkeit seines Musizierens lobte.

    Zweifellos gehörte zur Vielspältigkeit der Persönlichkeit von Richard Strauss eine ausgeprägte Weltangst, die sich auch in seinem umtriebigen Geschäftssinn äußerte. So berichtet Alma Mahler aus dem Jahr 1902 außer von der Pauline-Szene noch von den abstoßenden Gesprächen über Geld, mit denen Strauss Mahler das Premierendinner verdarb. Immerhin konnte Strauss sich vom Geld seiner ersten Opern-Erfolge wie "Salome" oder " Rosenkavalier" in Garmisch, am Fuß der Alpen, eine schöne Villa bauen. Und anders als der großbürgerliche Schriftsteller Thomas Mann, der dem Kriegsausbruch von 1914 einen geistigen Sinn beizuordnen versuchte, zeigte sich Richard Strauss schon früh als fundamental Unpolitischer, der gar mit ironischer Distanz auf die anfängliche, opferwillige Kriegsbegeisterung seines Librettisten Hugo von Hofmannsthal blickte und an dessen Frau schrieb, Dichter könne man zu Hause lassen, wo es zum Beispiel mit Kritikern doch reichlich Kanonenfutter gäbe.

    Zwischen den beiden Kunstbürgern Richard Strauss und Thomas Mann gab es aber durchaus Übereinstimmungen. Beide entstammten einem privilegierten Milieu und pflegten einen gehobenen Lebensstil, der sich auch in ihrem von gediegener Handwerklichkeit und Virtuosität geprägten Selbstverständnis als Künstler ausdrückte. Sie wurden beeinflusst vom geistig-kulturellen Klima des wilhelminischen Deutschland der Gründerzeit mit seinem selbstbewussten Anspruch auf Weltgeltung und auf die Führungsrolle der großen deutschen Kunst. Verwandt waren sich Strauss und Mann zudem in ihrer Wagner-Verehrung und in ihrer oftmals geradezu chauvinistischen Betonung der kulturellen Überlegenheit Deutschlands.

    Über diese beiden deutschen Kunstbürger reflektiert der Publizist Joachim Kaiser:

    "Was Strauss von Thomas Mann und diesen von Strauss trennte, war offenbar die schicksalhafte Ungleichzeitigkeit strukturell eigentlich analoger Entwicklungen. Als der eine, Thomas Mann, während des 1. Weltkriegs, mit tragischer Bereitschaft, schuldig zu werden, kriegsbegeistert und schicksalsbegeistert, in faszinierend hohem, meisterhaftem Stil antiwestlichen, tiefsinnig deutschen Patriotismus, ja Chauvinismus verteidigte, mit genialer Beredsamkeit predigte, da hielt sich der andere, Richard Strauss, klug zurück. Versuchte besonnen, mit dem geistigen Frankreich in Kontakt zu bleiben. 1933 / 34 ereignete sich dann eine bemerkenswerte Umkehrung. Als nämlich der eine, Thomas Mann, entschlossen öffentlich abgerückt war vom faschistischen Fanatismus und dem politischen Erfolg des "Dritten Reiches", als Thomas Mann 1933 seinen grandios reichen Wagner-Vortrag in München, Amsterdam, Brüssel und Paris gehalten hatte - da akzeptierte der andere, Richard Strauss, für eine kurze Zeit eben doch die anscheinend produktive reinigende Wirkung einer kräftigen nationalen Erhebung, die er auch im Musikbereich für notwendig erachtete. Und ließ sich, ein nahezu 70-jähriger alter Herr, zu einer Führungsposition verführen und auch rasch dazu bestimmen, den Protest der Wagner-Stadt München gegen Thomas Mann mit seinem Namen, seinem Weltruf zu unterstützen."

    Der deutsch-selbstbewussten Künstler-Egomanie von Richard Strauss stand offensichtlich eine eigentümliche, sich in geradezu zwanghaft-ängstlichem Opportunismus äußernde Ich-Schwäche gegenüber. Als Strauss im März 1933 anstelle des von den Nazis bedrohten Bruno Walter ein lukratives Konzert der Berliner Philharmoniker dirigierte, bezeichnete der in der Schweiz gebliebene Stefan Zweig ihn in seinem Tagebuch ärgerlich als "Lakaien". Ganz so opportunistisch war dieses Einspringen von Richard Strauss allerdings nicht motiviert. Nach heutigem Kenntnistand war Bruno Walter bereits in Leipzig an der Leitung eines Konzerts im Gewandhaus gehindert worden. Kurz darauf, am 20. März 1933, sollte er in Berlin die Berliner Philharmoniker dirigieren. Am Tag zuvor erhielt die jüdische Konzertagentur Wolff und Sachs jedoch einen Hinweis aus dem Propagandaministerium, dass Bruno Walter bei dem Konzert kein Schutz garantiert werden könne. Daraufhin versuchten Louise Wolff und ihre Tochter Edith, die Inhaberinnen der Agentur, einen "arischen" Ersatzdirigenten zu finden. Sie wandten sich an Richard Strauss, der sich gerade in der Hauptstadt aufhielt. Aber der wollte sich nicht einmischen und lehnte zunächst ab. Doch Louise Wolff blieb hartnäckig. Der Historiker Michael Kater recherchierte dazu weiter:

    "Sie machte ihm Vorhaltungen gerade wegen der Philharmonie, deren Mitglieder infolge der Weltwirtschaftskrise noch große Not litten. Um Strauss vollends zu überzeugen, schickte sie zwei seiner damaligen Berliner Mitarbeiter zu ihm, die ihn bei der Reformplanung zum Musikurheberrecht unterstützten und die beide aktive Nationalsozialisten waren. Sie mag also bei dem autoritätsgläubigen Strauss bewusst den Anschein erweckt haben wollen, die beiden seien vom Regime beauftragt worden, ihn umzustimmen. Berührt von der Not des Orchesters, mit dem ihn eine fast fünfzigjährige Geschichte verband, willigte Strauss schließlich ein unter der Bedingung, dass sein eigenes Honorar von 1500 Reichsmark den Musikern auszuzahlen sei."

    Seine Berufung zum Präsidenten der Reichsmusikkammer verstand der konservativ-unpolitische Kunstbürger Richard Strauss zunächst als Zeichen dafür, dass die neuen Machthaber Fanatismus und Intoleranz nicht zu weit treiben würden. Während ihm ein Brief an Hitler, in dem er den Führer als "großen Architekten des deutschen Gesellschaftslebens" ansprach, den Vorwurf eintrug, Mitläufer des Regimes zu sein, verweigerte er doch andererseits jede Unterschrift für die von Goebbels angeordneten Arisierungsaktionen. Strauss' Festhalten an Stefan Zweig, dem Textdichter der "Schweigsamen Frau", deren Dresdner Uraufführung 1935 anstand, führte schließlich zum Bruch mit der von Goebbels dirigierten Gleichschaltungs- und Ausgrenzungsbehörde. Anlass für seinen erzwungenen Rücktritt vom Präsidentenamt war ein Brief an Stefan Zweig, der seinen Adressaten nie erreichte, sondern von der Gestapo abgefangen wurde und dann auf Hitlers Schreibtisch landete. In diesem Brief versucht Strauss auf so unpolitische wie selbstsüchtige Weise, den sich mit den verfolgten Juden solidarisch fühlenden Zweig dazu zu bewegen, trotz der Verhältnisse auch künftig weiter für ihn zu arbeiten.

    Im Schreiben an seinen damaligen Librettisten Stefan Zweig zeigt Richard Strauss durchaus antisemitische Züge. So wirft er ihm dort "jüdischen Eigensinn" vor und auch in einem früheren Brief sprach Strauss in abschätziger Weise vom "Plädoyer eines jüdischen Rechtsanwalts". Auf der anderen Seite wurde dem Komponisten im Frühsommer 1935 bei seiner Entlassung als Präsident der Reichsmusikkammer zum Vorwurf gemacht, dass er bei seiner Oper "Die schweigsame Frau" mit vier Juden zusammengearbeitet habe, und zwar mit dem Librettisten Stefan Zweig, dem Verleger Otto Fürstner, dem ursprünglichen Textautor Ben Johnson und einem nicht benannten Verfasser des Klavierauszugs. Wie passt das zu den antisemitischen Tendenzen bei Richard Strauss? Für Michael Kater ist das Verhalten von Richard Strauss gegenüber Stefan Zweig Indiz eines unspezifischen Antisemitismus:

    "Tatsächlich war Strauss als junger Mann, nach einem von mehreren möglichen Mustern des deutschen Bildungsbürgertums im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, ein Antisemit. Es war in der Zeit der achtziger Jahre, als alte religiöse, wirtschaftliche und ästhetische Ressentiments gegen die Juden in Deutschland von pseudowissenschaftlichen überlagert wurden, im Zusammenhang mit und als Konsequenz der sich entwickelnden Naturwissenschaften und eines diese begleitenden Positivismus in den Geistes- und neu begründeten Sozialwissenschaften. Gegen diese Strömungen war der junge Strauss nicht gefeit... (Seine) Auslassungen (waren) nichtspezifisch und reflektierten somit, als aktuelle Stereotypen, den antisemitischen Zeitgeist eines breiten Flügels des deutschen Bildungsbürgertums... Je reifer und weltmännischer Strauss wurde, desto mehr konnte er sich von den Klischees lösen und desto seltener wurden auch diese Ausfälle."

    Zwar scheute sich Strauss auch nach der erzwungenen Niederlegung seines Amtes als Präsident der Reichsmusikkammer nicht, noch Staatsaufträge wie die Olympische Hymne zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 anzunehmen. Er hatte allerdings nicht nur materielle Gründe, sich anzupassen: Sein Sohn Franz war Gatte einer Frau aus jüdischer Familie und Vater zweier als "halbjüdisch" geltender Kinder. Damit wurde Richard Strauss unter Druck gesetzt, ja seine Familie hatte Verfolgungen zu erleiden. Dabei hätte seine Schwiegertochter, Alice Strauss, eigentlich verschont werden müssen, da sie als Jüdin mit einem "Arier" in einer so genannten privilegierten Mischehe verbunden war. Nicht behelligt wurden beispielsweise der Komponist Franz Lehár oder auch der Schauspieler Hans Moser, die beide ebenfalls mit Jüdinnen verheiratet waren. Die Angriffe gegen Alice Strauss zielten auf ihren Schwiegervater. Michael Kater weiß dazu:

    "Das demnach vorsätzlich von den Machthabern geplante Unheil nahm am 9. und 10. November 1938 seinen Lauf. Am 9. befanden sich Franz und Alice mit Münchener Freunden auf der Gemsjagd in der Nähe von Murnau. Plötzlich erschien ein benachbarter Jäger, der sie drängte, nach Hause zu fahren: "In Garmisch sind Judenverfolgungen." Zu Hause in der Zoeppritzstraße erfuhr das Ehepaar, dass der elfjährige Richard auf dem Schulweg von SA-Männern mit einem Revolver bedroht und genötigt worden war: "Wo ist deine Judenmutter?" Das verängstigte Kind war dann zum Marktplatz geführt worden, wo es Zeuge der Zusammentreibung und Misshandlung anderer Juden aus der Umgebung geworden war. Auch der sechsjährige Christian war abgeholt und gezwungen worden, die Juden dort anzuspucken; die Kinder hatten dann das gleiche Schicksal erlitten."

    Der Druck auf Richard Strauss und seine Familie spitzte sich nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und mit dem Beginn der systematischen Ermordung der Juden in Europa weiter zu. Paula Neumann, die Großmutter von Alice Strauss, war drei Jahre älter als Richard Strauss und wohnte gesundheitlich angeschlagen in Prag. Als sie nach Theresienstadt verschleppt wurde, fuhr Richard Strauss persönlich mit seinem großen Auto bei dem Konzentrationslager vor und begehrte dort mit den Worten "Ich bin Richard Strauss, der Komponist" vergeblich Einlass. Strauss konnte Paula Neumann nicht mehr helfen - sie fiel dem Holocaust zum Opfer wie etwa fünfundzwanzig weitere Verwandte von Alice Strauss. Hierzu noch einmal Michael Kater:

    "Der Druck auf die ganze Strauss-Familie setzte sich 1943 und 1944 fort. Strauss wurde mit einer Zwangsbesetzung seines Garmischer Landhauses bedroht, zu einer Zeit, da Hitler Wilhelm Furtwängler eine Villa an einem schönen bayerischen See zum Geschenk machen wollte. Es hätte nicht viel gefehlt und Alice Strauss wäre von der Gestapo in ein Arbeitslager transportiert worden; mutige Garmischer Gendarmen haben das verhindert. Für Strauss selbst wurden die erst von Schirach groß geplanten Ehrungen zu seinem achtzigsten Geburtstag in Wien im Juni 1944 auf Befehl von Goebbels bewusst klein gehalten - eine vom Regime so gewollte und von Strauss auch so verstandene Demütigung."

    Musik: Richard Strauss: "Im Abendrot" aus "Vier letzte Lieder", Antje Harteros, Staatskapelle Dresden, Lorin Maazel, Sony Classical CD

    Während sich Opernhits wie der "Rosenkavalier" oder Orchesterhits wie "Also sprach Zarathustra" beim Publikum unverminderter Beliebtheit erfreuen, haben Intellektuelle wie Theodor W. Adorno und Ernst Bloch die Werke von Strauss heftig kritisiert, ja ihnen Unoriginalität und innere Leere als Ausdruck des Mangels an gesellschaftlicher Realität attestiert. So sah Bloch in Strauss allenfalls einen Meister der Oberfläche:

    "Er ist gewöhnlich, und man sieht in ihm einen betriebsamen Mann, der zu genießen und das Leben zu nehmen weiß. Aber dafür und trotzdem ist Strauss im höchsten Grade gute Gesellschaft. Er ist auch dort, wo er nichts als schlau ist und Modeerfolge komponiert, mitten im entsetzlichsten Kitsch, durchaus Oberschicht mit freien, spielenden, souveränen, weltläufigen Manieren, aus denen jede Spur des alten deutschen Kleinbürgertums verschwunden ist. Er ist weiterhin gesinnungslos und nimmt sein Material, wo er es findet; aber zu Zeiten findet er auch etwas Gutes, in dem Vertrauen auf seine mühelose, unbedenkliche und an sich völlig naive Freude am Musizieren ... Er hat keinen Kern, der anders reifen müsste als vom Ständchen beliebig hinauf bis zur Elektra und dann wieder hinunter, für die Bedürfnisse des neuen Geldadels nach geschlossener Melodie, zum Rosenkavalier, um zuletzt, wie es scheint, das Heil in einer sehr wohlklingenden, sehr erotischen Märchenmusik zu versuchen. Strauss triumphiert überwiegend nur mit Schmiss und Sinnlichkeit, den Erbschaften eines frühen, bäurisch-kräftigen, bunten Überbrettlstils, die er mit einem außerordentlichen Verstand in seiner Art fruchtbar gemacht hat. Dadurch klingt alles ganz vortrefflich, und es jubelt oft wunderbar in dieser Musik auf."

    Für den Philosophen Theodor W. Adorno war Scheinhaftigkeit das besondere Charakteristikum der Musik von Strauss:

    "Der Gegenstand seiner Musik ist das Leben: Leben in der spezifischen Bedeutung, die in der Philosophie Nietzsches, Simmels und Bergsons begrifflich geformt wurde, der in der Kunst etwa die Bilder von Slevogt und Corinth, die Skulpturen von Rodin, die Romane von Anatole France und Thomas Mann entsprechen. Überall hier soll Leben, für sich des Sinnes noch bar, selbst der letzte Sinn sein; überall hier erschöpft sich Leben in der sinnleer ablaufenden Zeit; überall hier versteht sich der Mensch nicht als Kreatur, die sich von Gott abhängig weiß, sondern setzt sich als oberstes Maß der Dinge ... Zerbinetta behält nämlich wahrhaft recht mit ihrem neuen Gott, da die Welt des Bacchus als Welt bloß sinnlicher Ekstase ebenso scheinhaft ist wie die Buffowelt, über die sie sich erheben will. Es ist leicht, mit Bloch die Scheinhaftigkeit auch dieser Tiefe zu erspähen; dankbarer aber wäre es, die Tiefe dieser Scheinhaftigkeit zu bestätigen, die das Leben, da es mehr sein möchte als die Formen, in seine Sphäre zurück verweist."

    Angesichts dieser philosophisch-ästhetischen Kritik erregte Glenn Gould 1962 Aufsehen, als er Richard Strauss in einem Aufsatz als die größte musikalische Gestalt dieses Jahrhunderts bezeichnete. Die Frage wurde laut, warum sich ein avantgardistischen Pianisten so für einen als konservativ belächelten Komponisten einsetzte, der im Unterschied zu Schönberg und Strawinsky auf die Erweiterung und Erneuerung des musikalischen Materials verzichtet hatte. Für Gould zählten jedoch andere Kriterien - zum Beispiel die individuelle Behandlung der Tonalität, besonders im Strauss'schen Spätwerk.

    Ähnlich wie bei postmodernen Künstlern lässt sich bei Strauss zudem eine spielerische Fragmentierung und Collagierung von unterschiedlichen Stilelementen beobachten sowie eine ironische Distanz und ein Jonglieren mit Masken. Geradezu frappierend ist der Reichtum seiner Einfälle, sein geradezu magischer Klangsinn, sein sicherer Umgang mit verschiedenen Zeitstilen - ein Teil seines Schaffens ist einer schwerblütigen Spätromantik verhaftet, ein anderer dem 18. Jahrhundert und einem schwebend-lichten Rokoko, wieder ein anderer einem psychologisch-avantgardistischen Expressionismus. Über diese besondere, zugleich vor- und rückwärts gewandte Ästhetik bemerkt der Musikwissenschaftler Volker Scherliess:

    "Gemessen an 'Salome' und 'Elektra', mit denen sich Strauss in die vorderste Linie vorgewagt hatte, bedeutet 'Der Rosenkavalier' einen Rückzug auf sicheres Gelände. Ja, man merkt der Partitur im doppelten Wortsinn 'Rücksichtnahme' an: Retrospektive und zugleich Schonung des Publikums. Doch dieser Vorwurf ist einseitig. Denn die Stellung im Spannungsfeld von Reaktion und Fortschritt ist ja nicht die einzige - und nicht die entscheidende - Kategorie der ästhetischen Wertung, und sie wird vollends unbrauchbar bei einem Werk, das bewusst die Vergangenheit hinauf beschwört. Dessen retrospektive Tendenzen sind mehrschichtig und fließen ineinander."

    Musik war für Richard Strauss nicht nur klingender Wahrheitsausdruck, sondern auch ein komplexes Tonspiel - bis hin zur Imagination einer historischen Ferne. Und doch bemühen sich die Gestalten in den Opern-Gemeinschaftswerken von Strauss und Hofmannsthal im Sinne ambitionierter Bürgerkunst immer wieder um die Durchbrechung einer beziehungs- und verantwortungslosen Isolation hin zu einem "Weg zum Leben und zu den Menschen", einem "Weg zum Sozialen".

    Im "Rosenkavalier", diesem Hohelied der Künstlichkeit, vermischen sich Wirkliches, Maskierungen und Spiegelungen. Oft sind die Personen mehr Typen als Individuen, tendiert die wild durcheinander wuselnde Handlung zu sinnleerer Geschäftigkeit. Aber die verfallende Zeit wird im "Rosenkavalier" nicht nur als Zeit des Verfalls dargestellt: Als der jugendliche Octavian der schönen Sophie die silberne Rose, das Verlobungsgeschenk des alternden tumben Ochs überreicht, da durchbricht die Wirklichkeit ihrer Liebe als monumentale Zeit die Liebesfarce. Und die Marschallin singt am Ende des ersten Aktes ihr wunderschön-wehmütiges Lied von der Endlichkeit und Ambivalenz der Zeit wie der des Begehrens. Mit "Salome" nach der Dichtung von Oscar Wilde, diesem "schamlosesten und obszönsten Werk der Opernliteratur", wie Marcel Reich-Ranicki es einmal nannte, komponierte Strauss hingegen einen dunkel-ekstatischen Innen-Spielraum für unbewusste Triebkräfte. Ein unappetitlich-grässliches Geschehen, ausgestattet mit der liebestrunkensten und rauschhaftesten Musik. Während Kaiser Wilhelm II. den Komponisten Richard Strauss nach der Premiere abmahnte, die "Salome" hätte ihm großen künstlerischen Schaden zugefügt, wurde sie in Wirklichkeit sein erster großer künstlerischer Durchbruch. Das Opernpublikum weiß sich den meisten Strauss-Opern bis heute verbunden. Und die Bürgerkunst dieses ambivalenten Musikzauberers wird uns auch in Zukunft weiter faszinieren.

    Musik: Richard Strauss: "Tanz der sieben Schleier" aus "Salome", Wiener Philharmoniker, André Previn, Deutsche Grammophon CD