"Balkanisieren" bedeutet spätestens seit den Balkankriegen 1912 und 1913, ein Gebiet staatlich zu zersplittern und in verworrene politische Verhältnisse zu bringen, wie der Große Duden uns belehrt. Ein Bewohner aber dieser zerklüfteten Bergregion, der Balkaner oder gar "Balkanese", ist - natürlich mit Ausnahme jenes einen, den man zufällig persönlich kennt - grundsätzlich ein Barbar.
So versuchte Dorothea Gräfin Razumovsky in ihrer bereits 1999 bei Piper erschienenen historischen Ortsbestimmung "Der Balkan" das allgemeine Vorurteil auf den spezifischen Punkt zu bringen. Auch Richard Wagner ist zu einer Reise in die zerklüftete Bergregion im Südosten Europas aufgebrochen und hat seine Eindrücke unter dem Titel "Der leere Himmel" im Berliner Aufbau Verlag veröffentlicht.
Wer Richard Wagner bei Lesungen erlebte, der hörte gut formulierte Texte in knappen Sätzen, die oft mit kleineren oder größeren Pointen endeten. So ähnlich ist auch sein jetziges Balkan-Buch gehalten – eine Summe balkanischer Geschichte und Gegenwart, eine Wägung historischer Mythen und Vermächtnisse, eine Reflexion über die alten Wurzeln von neuesten Konflikten, eine Bilanz der Irrwege, die den europäischen Südosten zum Sorgenkind Europas machten. Das alles ist sehr persönlich geschrieben, mit viel lokalem Kolorit angereichert und durch Bemerkungen aus ironischer Distanz aufgelockert. Dabei gelingen Wagner Befunde von geradezu süffiger Eingängigkeit:
Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, das große Krisenszenarium der Wendezeit habe jedem der Balkanländer eine eigene Rolle zugestanden. So wurden die Serben zu Kriegstreibern, die Bosniaken zu Völkermordopfern, die Rumänen zu Reformverschleppern, die Kroaten zu Autoritarismus-Vernarrten, die Albaner zu Anarchisten, die Kosovaren zu Flüchtlingen, die Montenegriner zu Zigarettenschmugglern und die Slowenen zu Musterreformern. Den Bulgaren schien man den Staatsbankrott anvertraut zu haben. Jedes Land hatte etwas vorzuexerzieren: Was passiert, wenn. So wurden sie alle zu abschreckenden Beispielen.
Wagner stellt andere Grundfragen: Was war, was wurde, wie wirkt es nach? Als Antwort präsentiert er einen Gang durch zwei Jahrtausende balkanischer Geschichte, nach Ländern und Völkern der Region differenziert. Das ist ein gewaltiges Vorhaben, und um es den Lesern nicht allzu schwer zu machen, macht Wagner es sich selber leicht. Nicht selten zu leicht: Balkan-Kenner dürften auf vielen Seiten ob der Fülle schlichter Fehler häufig zusammenzucken. Beginnend mit der Schreibweise von Politiker-Namen, die wohl nach dem Zufallsprinzip erfolgte. Anderes ist ärgerlicher: Kyrill und Method schufen nicht das kyrillische Alphabet, sondern das glagolitische. Die Staatssprache von Byzanz war nicht Griechisch, sondern Latein. Die Gebrüder Manaki waren nicht die Begründer des griechischen Kinos, wohl aber der Cinematographie im Osmanischen Imperium. Der bulgarische Gewichtheber Šalamov floh nicht in die Türkei, er wurde Bulgarien für zwei Millionen Dollar abgekauft. Die bosnische Islamisierung ist sehr wohl aufklärbar, und einen allgemeinen jugoslawischen Hass auf die Deutschen hat es nie gegeben, nicht einmal im Zweiten Weltkrieg!
Aber solche Monita sind fast schon kleinliche Beckmesserei. Was Wagners Balkan-Buch aus der wachsenden Reihe ähnlicher Publikationen heraushebt, sind die zahlreichen Verweise auf bedeutsame Besonderheiten, was im Leser zustimmende Aha-Effekte auslöst. Beispielsweise die Tatsache, dass der von Meeren und Flüssen umströmte Balkan sozusagen wasserscheu war und blieb:
Das Territorium der Balkanvölker war das Binnenland. Seine Gebirge boten einen Rückzugsraum, Heimat wurde die Unwegsamkeit. Es galt einzig, als Gemeinschaft zu überleben, und alles andere war nebensächlich. Die Unwegsamkeit erwies sich aber nicht nur als Schutz, sondern auch als eine Blockade gegen die Moderne. Der Balkan konnte jederzeit umfahren werden. Im Süden auf dem Wasser des Mittelmeers. Und war das Mittelmeer nicht zu allen Zeiten sicherer als der Balkan? Weder die autochthonen "illyrischen" Völker, die Thraker, noch die später zugewanderten Slawen haben einen Zugang zur Urbanität aufzuweisen. Ihnen sagten die Küsten wenig. Und damit sagte ihnen auch die Kommunikationsidee wenig. Weder die Schifffahrt noch feste Straßensysteme waren Teil ihres Horizonts.
Keine Schifffahrt, keine Urbanität und damit Verbleib in ruraler Rückständigkeit und traditionalistischen Strukturen. Mehr noch: Derart verfasste Gesellschaften hatten und haben, meint Wagner, ein gestörtes Verhältnis zur Stadt und zum Staat, der aus der Stadt kam. Dieses Axiom verfolgt der Autor durch die ganze Geschichte hindurch – bis zu jüngsten Ausprägungen wie den betrügerischen Pyramidenspielen, die 1997 den Staatsbankrott Albaniens auslösten. Er illustriert es mit zwei liebevoll ausgestrichelten Genrebildern: Das eine enthält die historischen Mythen, die jedes Volk hat und hält – vom serbischen Amselfeld-Mythos bis zur griechischen großen Idee einer Wiederherstellung des Weltreichs von Byzanz. Die Beständigkeit dieser Mythen lastet Wagner nicht zuletzt den Kirchen an, die alle Nationalkirchen sind – die orthodoxen sowieso, aber auch die katholische in Kroatien und Slowenien – und die Mythen als Teil nationalen Wesens pflegen. So werden Konfessionen zu Surrogaten von Nationen, verfasst im Zeichen realen oder vorgeblichen Unrechts, das immer anderen angelastet wird. Diesen anderen gilt Wagners zweites Genrebild: Es zeigt die Großmächte und ihr Wirken auf dem Balkan, dessen südliche Hälfte von den Osmanen, der Norden von den Habsburgern beherrscht wurden. Bis heute werden diese Fremdherrschaften überall als Sklaverei, als Joch oder ähnlich martialisch in Erinnerung gehalten, dabei waren sie relativ erträglich, in historischer Bilanz sogar einträglich:
Was würden die Balkanvölker machen, wenn es die Imperien nicht gegeben hätte? Die Balkanvölker leben mit der großen Ausrede, ähnlich wie die Dritte Welt. Nun kann man durchaus sagen, die Imperien haben das eine oder andere Phänomen tatsächlich blockiert, aber sie haben auch vieles, wenn nicht gar das meiste erst angeschoben. Was wäre ohne den jeweiligen Anschub gewesen? Hätte es tatsächlich jene vielbeschworene eigenständige Entwicklung geben? Jene Größe aus eigener Kraft?
Solche Fragen zu stellen, heißt wohl, sie zu verneinen. Wagner, 1952 im rumänischen Banat geboren, kennt aus persönlicher Erfahrung die entwicklungshemmenden Züge der Balkanmentalität: Machtausübung über Gewalt, Korruption, geringes Interesse für gesellschaftliche Belange, Bezugslosigkeit zum Staat, Lethargie, Minderwertigkeitskomplex Europa gegenüber, hysterische Geschichtsmethaphern und anderes mehr. Der Autor bringt es auf eine Formel, die der balkanisch vielfach engagierten Internationalen Gemeinschaft gewiss noch nicht ganz aufgegangen ist:
Der Balkan befand sich seit jeher an der Peripherie der Geschichte, dies hat sich auch am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht geändert. Dort herrschen die Emotionen. Mal ist es der schiere Größenwahn, mal die totale Verzweiflung, die Denken und Handeln beherrschen. Alle Balkanvölker leben weit über ihre Verhältnisse. Es sind Gesellschaften auf Pump. Allen gemeinsam ist entschiedene Ausrichtung nach Europa, die Fixierung darauf. Man kann ja schlecht amerikanischer Bundesstaat werden. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich vorrangig um eine Absichtserklärung handelt, um Rhetorik, die oft genug die reale Ausweglosigkeit verdecken soll.
So versuchte Dorothea Gräfin Razumovsky in ihrer bereits 1999 bei Piper erschienenen historischen Ortsbestimmung "Der Balkan" das allgemeine Vorurteil auf den spezifischen Punkt zu bringen. Auch Richard Wagner ist zu einer Reise in die zerklüftete Bergregion im Südosten Europas aufgebrochen und hat seine Eindrücke unter dem Titel "Der leere Himmel" im Berliner Aufbau Verlag veröffentlicht.
Wer Richard Wagner bei Lesungen erlebte, der hörte gut formulierte Texte in knappen Sätzen, die oft mit kleineren oder größeren Pointen endeten. So ähnlich ist auch sein jetziges Balkan-Buch gehalten – eine Summe balkanischer Geschichte und Gegenwart, eine Wägung historischer Mythen und Vermächtnisse, eine Reflexion über die alten Wurzeln von neuesten Konflikten, eine Bilanz der Irrwege, die den europäischen Südosten zum Sorgenkind Europas machten. Das alles ist sehr persönlich geschrieben, mit viel lokalem Kolorit angereichert und durch Bemerkungen aus ironischer Distanz aufgelockert. Dabei gelingen Wagner Befunde von geradezu süffiger Eingängigkeit:
Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, das große Krisenszenarium der Wendezeit habe jedem der Balkanländer eine eigene Rolle zugestanden. So wurden die Serben zu Kriegstreibern, die Bosniaken zu Völkermordopfern, die Rumänen zu Reformverschleppern, die Kroaten zu Autoritarismus-Vernarrten, die Albaner zu Anarchisten, die Kosovaren zu Flüchtlingen, die Montenegriner zu Zigarettenschmugglern und die Slowenen zu Musterreformern. Den Bulgaren schien man den Staatsbankrott anvertraut zu haben. Jedes Land hatte etwas vorzuexerzieren: Was passiert, wenn. So wurden sie alle zu abschreckenden Beispielen.
Wagner stellt andere Grundfragen: Was war, was wurde, wie wirkt es nach? Als Antwort präsentiert er einen Gang durch zwei Jahrtausende balkanischer Geschichte, nach Ländern und Völkern der Region differenziert. Das ist ein gewaltiges Vorhaben, und um es den Lesern nicht allzu schwer zu machen, macht Wagner es sich selber leicht. Nicht selten zu leicht: Balkan-Kenner dürften auf vielen Seiten ob der Fülle schlichter Fehler häufig zusammenzucken. Beginnend mit der Schreibweise von Politiker-Namen, die wohl nach dem Zufallsprinzip erfolgte. Anderes ist ärgerlicher: Kyrill und Method schufen nicht das kyrillische Alphabet, sondern das glagolitische. Die Staatssprache von Byzanz war nicht Griechisch, sondern Latein. Die Gebrüder Manaki waren nicht die Begründer des griechischen Kinos, wohl aber der Cinematographie im Osmanischen Imperium. Der bulgarische Gewichtheber Šalamov floh nicht in die Türkei, er wurde Bulgarien für zwei Millionen Dollar abgekauft. Die bosnische Islamisierung ist sehr wohl aufklärbar, und einen allgemeinen jugoslawischen Hass auf die Deutschen hat es nie gegeben, nicht einmal im Zweiten Weltkrieg!
Aber solche Monita sind fast schon kleinliche Beckmesserei. Was Wagners Balkan-Buch aus der wachsenden Reihe ähnlicher Publikationen heraushebt, sind die zahlreichen Verweise auf bedeutsame Besonderheiten, was im Leser zustimmende Aha-Effekte auslöst. Beispielsweise die Tatsache, dass der von Meeren und Flüssen umströmte Balkan sozusagen wasserscheu war und blieb:
Das Territorium der Balkanvölker war das Binnenland. Seine Gebirge boten einen Rückzugsraum, Heimat wurde die Unwegsamkeit. Es galt einzig, als Gemeinschaft zu überleben, und alles andere war nebensächlich. Die Unwegsamkeit erwies sich aber nicht nur als Schutz, sondern auch als eine Blockade gegen die Moderne. Der Balkan konnte jederzeit umfahren werden. Im Süden auf dem Wasser des Mittelmeers. Und war das Mittelmeer nicht zu allen Zeiten sicherer als der Balkan? Weder die autochthonen "illyrischen" Völker, die Thraker, noch die später zugewanderten Slawen haben einen Zugang zur Urbanität aufzuweisen. Ihnen sagten die Küsten wenig. Und damit sagte ihnen auch die Kommunikationsidee wenig. Weder die Schifffahrt noch feste Straßensysteme waren Teil ihres Horizonts.
Keine Schifffahrt, keine Urbanität und damit Verbleib in ruraler Rückständigkeit und traditionalistischen Strukturen. Mehr noch: Derart verfasste Gesellschaften hatten und haben, meint Wagner, ein gestörtes Verhältnis zur Stadt und zum Staat, der aus der Stadt kam. Dieses Axiom verfolgt der Autor durch die ganze Geschichte hindurch – bis zu jüngsten Ausprägungen wie den betrügerischen Pyramidenspielen, die 1997 den Staatsbankrott Albaniens auslösten. Er illustriert es mit zwei liebevoll ausgestrichelten Genrebildern: Das eine enthält die historischen Mythen, die jedes Volk hat und hält – vom serbischen Amselfeld-Mythos bis zur griechischen großen Idee einer Wiederherstellung des Weltreichs von Byzanz. Die Beständigkeit dieser Mythen lastet Wagner nicht zuletzt den Kirchen an, die alle Nationalkirchen sind – die orthodoxen sowieso, aber auch die katholische in Kroatien und Slowenien – und die Mythen als Teil nationalen Wesens pflegen. So werden Konfessionen zu Surrogaten von Nationen, verfasst im Zeichen realen oder vorgeblichen Unrechts, das immer anderen angelastet wird. Diesen anderen gilt Wagners zweites Genrebild: Es zeigt die Großmächte und ihr Wirken auf dem Balkan, dessen südliche Hälfte von den Osmanen, der Norden von den Habsburgern beherrscht wurden. Bis heute werden diese Fremdherrschaften überall als Sklaverei, als Joch oder ähnlich martialisch in Erinnerung gehalten, dabei waren sie relativ erträglich, in historischer Bilanz sogar einträglich:
Was würden die Balkanvölker machen, wenn es die Imperien nicht gegeben hätte? Die Balkanvölker leben mit der großen Ausrede, ähnlich wie die Dritte Welt. Nun kann man durchaus sagen, die Imperien haben das eine oder andere Phänomen tatsächlich blockiert, aber sie haben auch vieles, wenn nicht gar das meiste erst angeschoben. Was wäre ohne den jeweiligen Anschub gewesen? Hätte es tatsächlich jene vielbeschworene eigenständige Entwicklung geben? Jene Größe aus eigener Kraft?
Solche Fragen zu stellen, heißt wohl, sie zu verneinen. Wagner, 1952 im rumänischen Banat geboren, kennt aus persönlicher Erfahrung die entwicklungshemmenden Züge der Balkanmentalität: Machtausübung über Gewalt, Korruption, geringes Interesse für gesellschaftliche Belange, Bezugslosigkeit zum Staat, Lethargie, Minderwertigkeitskomplex Europa gegenüber, hysterische Geschichtsmethaphern und anderes mehr. Der Autor bringt es auf eine Formel, die der balkanisch vielfach engagierten Internationalen Gemeinschaft gewiss noch nicht ganz aufgegangen ist:
Der Balkan befand sich seit jeher an der Peripherie der Geschichte, dies hat sich auch am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht geändert. Dort herrschen die Emotionen. Mal ist es der schiere Größenwahn, mal die totale Verzweiflung, die Denken und Handeln beherrschen. Alle Balkanvölker leben weit über ihre Verhältnisse. Es sind Gesellschaften auf Pump. Allen gemeinsam ist entschiedene Ausrichtung nach Europa, die Fixierung darauf. Man kann ja schlecht amerikanischer Bundesstaat werden. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich vorrangig um eine Absichtserklärung handelt, um Rhetorik, die oft genug die reale Ausweglosigkeit verdecken soll.