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Rigoletto ohne Freude

Michael Thalheimer hatte alles unternommen, damit sich bei seinem "Rigoletto" niemand wohl fühlte. Niemand sollte in die Gefahr geraten, eingelullt zu werden vom Schöngesang dieser Oper und vom Melodram des buckligen Hofnarren Rigoletto, der die Ehemänner und Väter verspottet, wenn ihre Töchter und Gattinnen vom leichtlebigen und nimmersatten Frauenheld, dem Herzog von Mantua, verführt worden sind.

Von Christoph Schmitz |
    Und niemandem sollten die Tränen kommen, wenn der Herzog die schöne Tochter des Narren, Gilda, verführt, Rigoletto den Mord am Herzog in Auftrag gibt und am Schluss erfahren muss, dass seine geliebte Gilda statt des Herzogs in den Dolch des Mörders gelaufen ist.

    Melodram und historische Kulisse hat Thalheimer von der Bühne gefegt und von Bühnenbildner Henrik Ahr einen beklemmend engen weißen Raum bauen lassen, in dem die alltagsbekleideten Figuren gefangen sind.

    Der Herzog ist bei Thalheimer kein heiterer Genussmensch, sondern ein freudloser Triebtäter, der die Frauen nicht langsam um den Finger wickelt, sondern direkt vergewaltigt. Rigoletto ist kein sich chamäleonartig verwandelnder Narr mit bösen Scherzen am Hof und herzlicher Vaterliebe daheim, sondern ein depressiver Durchschnittstyp, der seine Tochter so sehr behütet, dass sie keine Luft mehr zum Atmen hat und nur noch wie ein graues Mäuschen mit strähnigem Haar herumschleicht.

    Wie diese Gilda, so sind bei Thalheimer alle Frauen erniedrigte Objekte männlicher Macht und Lust. Aus freien Stücken agiert hier keiner, auch nicht die Männer - psychopathische Zwangscharaktere sind sie alle.

    Thalheimer verortet seine Gesellschaftsdiagnose nicht. Niemand im Publikum soll sich beruhigt zurücklehnen können und denken, da werden ja nur Phänomene sozialer Randgruppen geschildert. Das Elend der Vereinzelung, die Verrohung der Gefühle, die Verwahrlosung des Sozialen schlägt als kritische und unangenehme Frage auf das Publikum zurück.

    Die Sängerbesetzung kam Thalheimers psychologischem Realismus und seiner Anti-Ablenkungsstrategie gewollt oder ungewollt entgegen. Daniel Kirch, er sang den Herzog, Maya Boog die Gilda und Anooshah Golesorkhi den Rigoletto - sie haben allesamt keine großen Stimmen, die man um ihrer selbst Willen unbedingt hören müsste. Im ersten Akt schienen sie sogar ängstlich darauf bedacht, nur ja keine Brillanz aufkommen zu lassen.

    Und wäre im zweiten und dritten Akt nicht doch ihre ordentliche Stimmkunst zum Tragen gekommen, hätte man an Unvermögen gedacht. Obwohl andererseits Marko Letonja als Dirigent mitunter Schwierigkeiten hatte Chor, Solisten und Orchester zusammenzuhalten.

    Michael Thalheimer hat dem Stück die Oper ausgetrieben. Wobei aber auch kein Theater entstehen sollte. Denn die Protagonisten dürfen nichts tun. Sie dürfen sich kaum anschauen, nicht kommunizieren, sie dürfen meist nur an die Rampe treten und wieder zurück und aneinander vorbei singen, was für Thalheimers Deutung nur konsequent ist. So bietet die Oper Basel fast einen konzertanten Rigoletto in zeitkritischem Gestus, ein säkulares Passionsoratorium.

    Der Preis für die radikale Konzentration auf nur eine Schicht dieses vielfältig changierenden Werkes ist hoch. Die Reibungen etwa mit den heiteren, zärtlichen und erotischen Musik- und Textpassagen sind zum Teil gewaltig.

    Doch das geht in Ordnung, insofern der Rigoletto auf den Bühnen der Welt rauf- und runtergespielt wird und sich im breiten Inszenierungsspektrum radikale Tiefenbohrungen von Thalheimers Akribie lohnen.

    Es war kein "schöner" Opernabend, aber einer, den man auch am nächsten Tag noch spürt.