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Ringen um die Erinnerung

Anlässlich der Debatte um den Sportfunktionär Carl Diem kritisiert der Sportwissenschaftler Michael Krüger den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) scharf. Der Dachverband kümmere sich seit der Fusion 2006 nicht mehr um die eigene Geschichte und sei "kulturell ahnungslos".

Von Erik Eggers | 18.12.2010
    Zuletzt hat der Deutsche Olympische Sportbund DOSB einige historische Projekte initiiert. So stieß der Dachverband des deutschen Sports ein großes, noch laufendes Projekt zur Geschichte des Dopings in der Bundesrepublik an. Auch zählte er zu den Finanziers des biografischen Werks über den Sportfunktionär Carl Diem, das vergangenes Wochenende in Köln mit der Tagung "Erinnerungskultur im deutschen Sport" offiziell beendet wurde. Und doch hat der Sportwissenschaftler Michael Krüger die DOSB-Funktionäre zu diesem Anlass in einer Art Generalabrechnung der Geschichtsvergessenheit geziehen.

    In seinem Vortrag zum Gedächtnis des deutschen Sports warf Krüger den Frankfurter Funktionären nicht weniger als "kulturelle Ahnungslosigkeit und Desorientierung vor". Der deutsche Sport habe seit 2006, als das Nationale Olympische Komitee für Deutschland und der Deutsche Sportbund zum DOSB fusionierten, die ethische und historische Bodenhaftung verloren, glaubt Krüger. Der Führungsspitze des deutschen Sports fehle es bei der Beurteilung der eigenen Geschichte an Maßstäben: "Es geht dem DOSB nur um gute Presse, Show und Unterhaltung", sagte Krüger.

    Als Beispiel nannte der Professor aus Münster den Umgang mit Carl Diem. Hier habe sich der DOSB über bestehende Präsidiumsbeschlüsse hinweggesetzt, als er den Carl-Diem-Preis in Wissenschaftspreis umbenannte, beklagte Krüger. Dies habe vermutlich DOSB-Generaldirektor Michael Vesper veranlasst, da Vesper schon vor seiner DOSB-Funktion als Grünen-Politiker für Umbenennungen votiert habe.

    Auch kritisierte Krüger scharf die Zusammensetzung der von der Deutschen Sporthilfe gegründeten "Hall of Fame", die Persönlichkeiten ehren will, die "durch Leistung, Fairplay und Miteinander Vorbilder geworden sind". Weshalb werde in dieser Hall of Fame der Sporthilfe-Gründer Josef Neckermann geehrt, der in der NS-Zeit schließlich durch "Arisierungen" profitiert habe, und nicht Carl Diem, fragte Krüger. Habe die Nominierung des einstigen Mercedes-Fahrers Rudolf Caracciola womöglich damit zu tun, dass Daimler-Benz-Vorstandschef Dieter Zetsche in der Jury sitze? Weshalb verzichte man auf den Audi-Piloten Bernd Rosemeyer? Und warum werde Torwart Heiner Stuhlfauth aufgenommen, Toni Turek jedoch nicht?

    Das sind in der Tat diffizile Fragen, die sich angesichts der komplizierten deutschen Sportgeschichte stellen. Krüger beklagte, dass die Antworten darauf derzeit vorwiegend von Sportjournalisten und Funktionäre gegeben werden, der Rat der Sportgeschichte indes nicht gefragt sei.