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Ringen um Wahrheit

Der Faust des französische Opernkomponisten Philippe Fénelon ist ein Arzt, ein kirchenkritischer Bergsteiger, kein Emporkömmling, aber einer der die dünne Luft der Höhe atmen will. Fénelons vor drei Jahren enstandene Oper nach Nikolaus Lenau ist nun an der Nationaloper in Paris neu zu sehen.

Von Frieder Reininghaus | 20.03.2010
    Der Kontrast war denkwürdig. Im September 2001 wurde im altehrwürdigen Palais Garnier Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" gezeigt - die erste neue Produktion nach der Uraufführung in Hamburg: mit ruhigen Farbflächen hinterlegt und mit explosiven Lichteffekten versehen entfaltete die Musik zu reduzierten Bildern von einem kalt-traurigen deutschen Märchen ihre auf- und tiefschürfende Wirkung. Und nun die deutscheste aller deutschen Fabeln - als spätberufene Literaturoper am selben Platz. Reichlich bedacht mit alt-neuem symphonischem Pomp.

    Deutsch bis auf die Knochen blieb Dr. Faust auch im dramatischen Gedicht des ungarischen Adeligen Nikolaus Lenau (1802-50). Das war einer der nicht ganz konventionell lebenden und von vormärzlichem Oppositionsgeist erfüllten Autoren in Österreich und Württemberg. Sein Geistesheroe tritt zunächst als bergsteigender religionskritischer Mediziner in Aktion. Nach dem Zustandekommen des leitmotivischen Blutspaktes bricht Fausts zweiter Frühling anlässlich des Besuchs einer Hochzeitsfeier an - mit Annette, die er rasch ruiniert und flieht. Unterwegs wird aus einer Amoure am Wegesrand mit der Frau eines Schmieds nichts, dafür klappt es mit der Herzogin (deren Gatte allerdings muss abgestochen werden, wofür die Schuld aber womöglich bei der Geburt Christi liegt, weil Gott den Menschen der Natur entfremdete ...). Und dann geht es noch mit dem Schiff in neue Welten, bevor den Doctor Faust kontraktgemäß der Tod ereilt. Philippe Fénelon hat die 3437 Verse Lenaus auf zehn appetitanregende Häppchen verkürzt. Dieser Komponist reüssierte 1998 an der Pariser Opéra Bastille mit der Flaubert-Oper "Salammbô", ohne für die Vielschichtigkeit der literarischen Vorlage musikalische Entsprechungen zu entwickeln. Nun hat nun bei diesem weiteren Opernprojekt auch nicht wirklich schlüssig unter Beweis zu stellen vermocht, warum die von ihm verarbeitete alte Geschichte zwingend eine so ausladende und dicht bis dick grundierte Musik benötigt. Im Grunde passt die von ihm vorgenommene musikalische Möblierung mit dem Arsenal der Grand Opéra - nebst großen Ballett-Tableaus - wie eine imperiale Faust auf Lenaus lyrische Biedermeier- und Vormärz-Augen.
    Dem Hang zu Vergrößerung und Vergröberung, Simplifizierung und Banalisierung erlag auch der Regisseur, Bühnen- und Lichtgestalter Pet Halmen. Der Berg, auf dessen Gipfel sein Faust zu Beginn stürmt, ist ein monströser Totenkopf, durch dessen Gedankenfach sich die aus dem Paradies entwischte Schlange schlängelt. Konsequenterweise nimmt Dr. Faust die nächtlichen Autopsien, durch die er dem menschlichen Lebensprinzip auf den Grund kommen möchte, auch auf dem überdimensionalen Schädel vor - Méphistophélès gesellt sich hinzu, der in der repräsentativen Gestalt und mit dem sonoren Bariton von Robert Bork als Regisseur der Intrige hervortritt. Im Grunde hat er leichtes Spiel mit Arnold Bezuyen als Faust, da dieser gar nichts Intellektuelles ausstrahlt.

    Pet Halmen bemüht dort, wo Lenau religionskritische Erwägungen verästelt, mit praller Wucht Symbole der katholischen Konfessionsgeschichte - in glatter Pracht. Auch das Volksbockfest mit überbordend kostümierten Folklore-Tänzern folgt dem Trend zu gleißenden Bildern, deren Symbolik dekorativ angelegt ist, nicht konstruktiv. So rundet sich der überwältigende Eindruck.
    Welch wundersamer Kontrast zur Pariser Überwältigungskunst in einem Brüsseler Vorstadttheater. Da meldet sich Ismene zu Wort, die von der Literatur- und Theatergeschichte bislang vernachlässigte, ein wenig opportunistische Schwester der Antigone. Ismène, die Tochter des altthebanischen Königs Oedipus sowie Tochter und Enkelin von dessen Ehefrau und Mutter Iokaste, teilt ihre weibliche Befindlichkeit, ihre Sorgen und Ängste mit. Marianne Pousseur, nur mit ein paar Perlenketten bekleidet, tut es erst am Rand, dann mitten in einer am Ende mit griechischem Text versehenen und raffiniert in Bewegung versetzten Wasserfläche: in einer Produktion, die sich aufs Wesentliche konzentriert und bei der Anspruch, Aufwand und sparsam-musikalische Zutat von Georges Aperghis völlig im Lot sind.