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Risiken allerorten

Ulrich Beck neigt in seinem neuen Buch "Weltrisikogesellschaft" zum Schwadronieren. Nachhaltige Wissenschaftsprosa sähe anders aus.

Von Jochen Rack | 19.07.2007
    Die Deutsche Bank und die Hypobank ziehen sich aus der Finanzierung eines bulgarischen Atomkraftwerkes zurück, weil sie ein Reputationsrisiko durch die Proteste einer deutschen Umweltgruppe fürchten. Für Flugzeugpassagiere wird die Mitnahme von Flüssigkeiten an Bord verboten, um antizipierte Terroranschläge zu verhindern. Wenn der Klimawandel anhält, können London, Tokio und New York einmal im Meer versinken. Das sind nur einige der Beispiele, die der Soziologe Ulrich Beck seinem neuen Buch "Weltrisikogesellschaft" voranstellt, um plausibel zu machen, dass wir in einer Welt leben, in der lokale Probleme globales Handeln verlangen beziehungsweise globale Probleme jeden einzelnen in seinem Land einholen.

    Und Becks Pointe dabei ist, dass es nicht die real eintretenden Katastrophen sind, die den Wandel der politischen Verhältnisse und der moralischen Verantwortung erzwingen, sondern die antizipierten Katastrophen, anders gesagt: das kalkulierte Risiko.

    "Risiko" ist Ulrich Becks zentrale Kategorie zum Verständnis der modernen Kultur, seit er mit seinem Buch "Risikogesellschaft" bekannt geworden ist, vielleicht nicht zufällig 1986, dem Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die Becks Nachdenken immer wieder beschäftigt. 20 Jahre später hat er seine damalige Diagnose noch verschärft, indem er von der "Weltrisikogesellschaft" spricht. Was motivierte ihn zur Erweiterung seines begrifflichen Instrumentariums?

    "Zunächst einmal bin ich als Autor der 'Risikogesellschaft', der nun 20 Jahre lang die Diskussion beobachtet hat, selbst überrascht, wie der Begriff des Risikos, aber auch die damit verbundene Diagnose, greift. Inzwischen werden fast alle Probleme in Risikokategorien diskutiert, und es sind große Themen dazugekommen. Die Diskussion um die Risikogesellschaft läuft international, um das Buch 'Weltrisikogesellschaft' zu schreiben. Das große Thema, das damit aufgegriffen wird, ist die Globalisierung des Risikos, ein zweites Thema ist die Unterscheidung zwischen Terrorismus und Klimakatastrophe, in dem Sinne - und so hatte ich auch die 'Risikogesellschaft' von Anfang an gedacht -, dass wir es mit Nebenfolgen von Entscheidungen zu tun hatten, auch mit entsprechenden Katastrophen, die daraus entstehen, aber nicht intendierten Katastrophen. Das aber gerade, nämlich intendierte Katastrophen, ist das, was den Terrorismus ausmacht und seine Besonderheit kennzeichnet. Das ist der zweite Gesichtspunkt.

    Darüber hinaus öffne ich mich auch für die Fragen globaler Finanzkrisen, die eine ähnliche und wiederum andere Logik haben als Umweltrisiken und Terrorrisiken und eben dann möglicherweise damit verbundenen Krieg. Der dritte Gesichtspunkt ist der, dass mir deutlicher als in anderen Büchern und Veröffentlichungen inzwischen klar geworden ist, dass man eine Unterscheidung machen muss zwischen Katastrophe und Risiko. Risiko ist nicht Katastrophe. Katastrophe ist ein räumlich und zeitlich begrenztes Ereignis, Risiko ist die Antizipation der Katastrophe, das heißt, ist der Versuch, eine nicht existente Zukunft in der Gegenwart vorwegzunehmen und darauf Entscheidungen zu gründen. Und das ist für den Soziologen eine faszinierende Realität, weil eben das, was existiert, aber noch nicht eingetreten ist, eine mögliche Zukunft, unser Denken und Handeln so beherrscht, dass wie jetzt bei der Klimakatastrophe es ja absehbar wird, in der Tat uns gezwungen sehen, unser Leben zu verändern, unsere Produktionsformen zu verändern und so weiter uns so fort."

    Im Szenario der "Weltrisikogesellschaft", das Ulrich Beck in seinem 400 Seiten starken Buch entfaltet, erscheinen die genannten Risiken als Folge von Modernisierungsprozessen, die die erste Moderne bestimmt haben und die nun in der Gegenwart, die Ulrich Beck und andere "zweite Moderne" genannt haben, ihre Nebenwirkungen hervorkehren. Den tendenziell katastrophalen Nebenwirkungen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts zu begegnen, so Becks zentrale These, reichen die Institutionen der ersten Moderne, die sich im Rahmen von Nationalstaaten entwickelt haben, nicht mehr aus. Um die Klimaveränderung, den Terrorismus oder globale Finanzströme kontrollieren zu können, bedürfe es transnationaler Anstrengungen, das heißt einer kosmopolitischen Perspektive. Wenn wir alle unfreiwillig zu Mitgliedern einer Weltgefahrengemeinschaft geworden sind, so Beck, muss eine "planetarische Verantwortungsethik" in ihr Recht gesetzt werden, die bornierten Nationalstaaten hilft, ihre unzureichenden Lösungsansätze zu überwinden.

    Beck versteht sich zwar als Mahner, aber nicht als Hieronymus Bosch der Soziologie, der bloß Risikofantasien ausspinnt. Vielmehr möchte er politische Handlungsperspektiven entwickeln. Aber wie soll der geforderte Kosmopolitismus der Verantwortung ganz konkret auf die Herausforderungen der Weltrisikogesellschaft reagieren?

    "Zunächst einmal, in der Tat, konfrontieren uns globale Risiken mit dem kulturellen Anderen in neuer Weise, weil der Andere, den wir bisher ausgeschlossen haben aus dem nationalen Rahmen, plötzlich Teil dieser globalen Risikowirklichkeit wird, ob wir das wollen, ob uns das interessiert, ist ganz egal. Viele reagieren sogar auf diese neue kosmopolitische Situation mit neuen Abgrenzungen, mit neuer Fremdenfeindlichkeit. Ändert aber die Situation nicht. Wir können den anderen als Mitproduzent oder Mitleidenden dieser Risiken nicht länger ausschließen. Das ist eine neue kosmopolitische Situation, die sehr ambivalent ist. Auf der einen Seite müssen wir erkennen, dass unsere bisherigen Institutionen unzureichend sind. Sie sind nicht völlig überflüssig, aber sie sind unzureichend und bedürfen grundlegender Ideen, neuer Prinzipien, wie sie wieder funktionsfähig gemacht werden können.

    Auf der anderen Seite ist damit eine Situation eingetreten, die früher auch einmal als Utopie galt. Nämlich der Kosmopolitismus als etwas, wo man die Anerkennung des anderen als einen positiven Wert interpretiert, ist sozusagen zur Geschäftsgrundlage geworden, ob das die Menschen wollen oder nicht. Nun fragen Sie, was meint eigentlich "planetarische Verantwortung"? Der Punkt ist bei dem Risikothema immer die Zurechenbarkeit von Folgen der Entscheidung. Das ist ein zentraler Punkt, der natürlich auch im Rechtssystem, aber auf der Grundlage auch der Ethik, einer Verantwortungsethik behandelt werden muss. Wer ist für die Folgen verantwortlich? Diese Definitionsverhältnisse sind bisher auf den Nationalstaat eingeschränkt, und wir produzieren Folgen im globalen Ausmaß.

    Das hat zum Beispiel die Möglichkeit, Risiken auf die dritte Welt abzuschieben. Dazu wäre es notwendig so etwas wie ein, ich würde das sagen, Risikoweltbürgerrecht zu institutionalisieren, in dem Sinne, dass diejenigen, die von den Folgen von Entscheidungen betroffen werden im negativen Sinne erstmal ein Informationsrecht bekommen über die Folgen und möglicherweise auch ein Mitspracherecht über die Entscheidungen.

    Das heißt konkret, wenn es darum geht, bestimmte Entscheidungen im Nationalstaat zu treffen über die Institutionalisierung von Kernenergie oder auch den Gebrauch von Kohlekraftwerken, das hat ja alles Folgen für die Nachbarstaaten, dann stellt sich die Frage, wie diejenigen, die potenziell oder aktuell davon betroffen sind, in diesen Entscheidungsprozess einzubeziehen sind, welche Informationsrechte sie haben, wie die Folgen, die daraus entstehen zurechenbar gemacht werden können, und was im Katastrophenfall geschieht, wer notfalls die Kosten übernimmt. Alles das ist im nationalstaatlichern Rahmen relativ gut geregelt, im zwischenstaatlichen Rahmen, auf globaler Ebene nicht."

    Um der "organisierten Unverantwortlichkeit" entgegenzuwirken, die durch nationalstaatlich beschränkte Politik und Wissenschaft entsteht und die auch durch die diversen Ethik-Kommissionen und Sachverständigenräte nicht aufgehoben wird, verweist Beck auf die aufklärerische Kraft zivilgesellschaftlicher Gruppen: NGOs wie Greenpeace zum Beispiel, die durch ihre Protestaktionen den Staat und das Kapital zum Handeln zwingen können, die, nicht selten der neoliberalen Ideologie verhaftet, bloß auf die Selbstheilungskräfte des Marktes verweisen. Boykottaktionen und mediale Spektakel können verantwortliches Handeln induzieren.

    "Sie müssen sich fragen, warum wir diese Umweltminister und Verbraucherschutzministerien haben. Die sind ja nicht aus der Politik und den Parlamenten entstanden, sondern aus den sozialen Bewegungen. Die sozialen Bewegungen haben diese Fragen des Umweltschutzes auf die Tagesordnung gesetzt und wurden lange Jahre dafür verlacht und in die Defensive getrieben. Es ist interessant, dass auch die Wissenschaften selbst diese Art der Kritik der wissenschaftlichen Rationalität aus sich heraus nicht hervorgebracht haben. Es ist eine Entwicklung der zivilgesellschaftlichen Bewegungen.

    Übrigens, Ihre Frage hat einen merkwürdig deutschen Hintergrund, denn im angelsächsischen Bereich würde man keine Differenzierung zwischen Demokratie und zivilgesellschaftlichen Bewegungen vornehmen, das ist es sogar umgekehrt so, dass der zivilgesellschaftliche Bereich der Hintergrund ist, aus dem die Demokratie und die politischen Parteien entstehen. Nur eine lebendige Zivilgesellschaft kann eine Repräsentation über politische Parteien und Parlamente herstellen, und das ist insofern interessant, weil in der Tat die zivilgesellschaftlichen Bewegungen übrigens auch in der Befreiung Osteuropas von der Sowjetherrschaft, aber auch in vielen anderen Bereichen über die Grenzen hinweg tätig geworden sind. In ihnen sind viele der kosmopolitischen Impulse entstanden, die dann im Nachhinein von den politischen Parteien auch aufgegriffen und umgesetzt wurden.

    Das Interessante meiner Diagnose ist, dass eben die Wahrnehmung globaler Gefahren ein Mobilisierungspotenzial enthält in der ganzen Komplexität, die dadurch hergestellt wird, also in der Kooperation, in Verbindung zu den Massenmedien, zu den sozialen Bewegungen, zu den Folgen, die das für das Rechtssystem und das politische System hat, aus denen heraus Dinge entstehen und Entwicklungen möglich werden, die anders gar keine Durchsetzungschance haben."

    Fragen kann man allerdings, ob Beck die Kraft nationalstaatlicher Institutionen nicht unterschätzt, die für die Bürger eines Landes als Adressaten von Sorgen und Wünschen dienen, während, um das Beispiel der EU zu nennen, europäische Institutionen oft als bürgerfern und fremd erlebt werden, was durch die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden ins allgemeine Bewusstsein rückte. Skepsis gegen Becks kosmopolitische Emphase ist also angebracht, auch wenn man sich seinen Grundeinsichten schwerlich entziehen kann, freilich auch das Gefühl nicht los wird, dass der Autor mit seiner Analyse offene Türen einrennt.

    Hat man einmal Becks Kernthese des Kosmopolitismus begriffen, wird man leider weite Strecken seines Buches redundant finden. Beck neigt zum Schwadronieren und bleibt auch stilistisch dem geneigten Leser manches schuldig. Verquaste Terminologie, schräge Metaphorik und ein über weitverzweigte Satzkonstruktionen wuchernder Nominalstil, der sich gern genitivisch verklumpt, stehen eben für jene fachwissenschaftliche Borniertheit, die Beck so gerne geißelt. Nachhaltige Wissenschaftsprosa sähe anders aus.

    Abspecken hätte man sich gewünscht, 200 statt 400 Seiten: Small is beautiful, lautete einmal eine Einsicht der Ökologiekritik, der Beck sicher seine Zustimmung nicht verweigern würde.
    Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft
    Ulrich Becks "Weltrisikogesellschaft". (Suhrkamp Verlag)