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Risiken einer Boom-Region

An der Uni Bonn ist nun die 21. "European Conference on Modern South Asian Studies" zu Ende gegangen: Diverse Teile Südasiens erleben zurzeit ein exorbitantes Wirtschaftswachstum - an erster stelle Indien. Doch Risiken und Nebenwirkungen sind immer mit im Spiel.

Von Mirko Smiljanic |
    Was ist Indien denn nun? Noch ein Schwellenland, das trotz ethnischer und sozialer Probleme zu einer globalen Wirtschaftsmacht aufsteigt? Oder hat Indien trotz eines durchschnittlichen jährliches Wirtschaftswachstums von 8,8 Prozent noch den Status eines Entwicklungslandes, wie das Auswärtige Amt auf seiner Website schreibt? Argumente für diese These gibt es: Das Prokopfeinkommen beträgt durchschnittlich nur 815 US-Dollar pro Jahr, die USA bringen es auf 47.000 Dollar; 28 Prozent der indischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Kopf und Tag; die soziale Infrastruktur leidet an enormen Defiziten; trotzdem ist Indien nach China das Land mit der am stärksten expandierenden Volkswirtschaft.

    "Ich glaube nach der zögerlichen Entwicklung der Wirtschaft, die in Indien gerne mit der Hindu-Rate des Wachstums von drei bis 3,5 Prozent über Jahrzehnte bezeichnet wird, ist es in der Tat eine freudige Überraschung, dass die indische Wirtschaft in den letzten Jahren so Fahrt zugenommen hat",

    sagt Dr. Wolfgang-Peter Zingel vom Südasieninstitut der Universität Heidelberg. Erfreulich sei die Entwicklung, ja, in gewisser Weise aber auch überraschend, denn Indien ist ein ebenso riesiger wie ethnisch und sozial zerrissener Subkontinent.
    "Wir reden hier über eine Region, wenn wir von Indien sprechen, die von der portugiesischen Atlantikküste bis an den Ural erreicht; wir reden von einer Region, die vom nördlichsten Punkt Europas bis an die französische Mittelmeerküste reicht",

    erklärt André Sarin von der Uni Bonn. Der Asienexperte hat selbst Wurzeln in Nordindien, im Panjab, dessen Bewohner eher unkonventionell sein sollen, ...

    " ... Panjabis wird ja auch gern nachgesagt, dass sie die Italiener Asiens seien, ..."

    Auf jeden Fall aber wohlhabender sind als der Rest des Landes. Das war zwar schon immer so, in den letzten Jahren werden die Unterschiede aber immer sichtbarer.

    "Auch wenn sich absolut dort gar nichts geändert hat, das heißt eben der Unterschied zwischen der absoluten und der relativen Verteilung: relativ wachsen die Unterschiede immer stärker, absolut wachsen sie auch, ohne aber, dass sich notgedrungen irgendwo die Situation verschlechtern müsste, es wird aber sichtbar, und die sozialen Verhältnisse werden im Vergleich wahrgenommen, und das bedeutet, dass immer mehr Menschen die Welt, in der sie leben, mit der Welt im Fernsehen oder der Welt in den Filmen vergleichen und eben auch Forderungen stellen."

    Wir erinnern uns an die ersten Filme aus den USA, an Jeans und Kaugummi, an den Ford Mustang – Indien durchläuft einen Anpassungsprozess, den zumindest strukturell auch Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Allerdings mit ein paar Unterschieden: Die Dimensionen sind in Indien dramatisch größer, außerdem liegt das soziale und wirtschaftliche Gefälle nicht nur zwischen städtischen und ländlichen Regionen, sondern auch

    "zwischen den Städten und auch zwischen den einzelnen landwirtschaftlichen Gebieten, im äußersten Nordwesten, im Panjab, haben wir relativ wohlhabende Bauern, wir haben hohe Erträge, wir haben ein hohes wirtschaftliches Wachstum, hier werden die Überschüsse erzeugt, mit denen die Städte letztlich ernährt werden, und dann im östlichen und im zentralen Indien, in ländlichen Gebieten, gibt es gravierende Unterschiede."

    Diese Regionen werden zunehmend von politischen Krisen heimgesucht, erklärt der Heidelberger Südasienforscher Wolfgang-Peter Zingel.

    "Es gibt einmal Kaschmir und die ganze Grenze zu Pakistan im äußersten Nordosten und es gibt Maoisten oder Naxaliten, wie man in Indien sagt, jetzt im Zentrum von Indien, was der indischen Regierung zurzeit auch große Probleme bereitet."

    Mal abgesehen von den alten Konflikten zwischen Hindus, Moslems und Christen, die selbst Indiens Überautorität Mahatma Gandhi mit seinen Drohungen, sich zu Tode zu fasten, nicht eindämmen konnte. Überhaupt, vermutet André Sarin, verbergen sich ganz andere Motive hinter den religiösen Auseinandersetzungen, etwa beim Konflikt zwischen Hindus und Christen,

    "der sich insofern auswirkt, dass man die Christen aus wirtschaftlichen Gründen aus bestimmten Regionen vertreiben möchte, um Land zu erhalten, oder um sich gewisse wirtschaftliche Vorteile zu erarbeiten, und da wird dann gerne mal die Monstranz des Hinduismus nach vorne geschoben und der Hinduismus instrumentalisiert."

    Vorgänge, die auch der westliche Kultur- und Wirtschaftskreis kennt. Daraus zu schließen, Indien entwickle sich vorhersehbar, man müsse nur die eigenen Abläufe genau genug studieren, ist aber falsch.

    "Entwicklung ist ein Prozess! Es ist nichts, was man von außen bewerkstelligen kann in dem Sinne, dass ich jemanden anderen entwickle, das ist ein Prozess, den die indische Gesellschaft durchläuft, genau wie unser auch. Verschiedentlich sehen wir Parallelen, etwa im Sinne einer Nachholgesellschaft, dass Indien jetzt bestimmte Stadien durchläuft, die wir schon durchlaufen haben, aber eben in vielen anderen Bereichen auch gar nicht."

    Was Hoffnung macht, etwa für den Umweltschutz. Die Vorstellung, Indiens Bevölkerung konsumiere in gleicher Weise wie Nordamerikaner und Europäer, ist wenig ermutigend.

    "Von der Vorstellung der Modernisierungstheorie, dass die einen auf einem Weg schon weiter vorangeschritten sind, den die anderen noch beschreiten müssen oder beschreiten werden, davon verabschieden wir uns immer mehr, man muss ja nicht alle Entwicklungsstufen im Detail genau so durchlaufen."

    Das Problem ist nur: Niemand weiß genau, wie sich Indien entwickeln wird. Weder in den westlichen Industrienationen, noch in Indien selbst. Außerdem lassen sich alte Strukturen nur sehr langsam ändern – wenn überhaupt. Das Kastenwesen, in Europa als Instrument der Unterdrückung angeprangert, gehört dazu.

    "Es ist ein Teil der indischen Gesellschaft, man kann es auch nicht verbieten und es ist auch nicht verboten, aber die indische Verfassung verbietet Menschen aufgrund ihrer Abstammung oder ihres Glaubens zu diskriminieren. Die indische Regierung hat eine Reihe von Programmen, die aktiv die Benachteiligung zu verringern, also positiver Diskriminierung, zum Beispiel, dass man für die Angehörigen der untersten Kasten und der Stammesbevölkerung Studienplätzen und Stellen im öffentlichen Dienst bereithält unter der Voraussetzung, dass ganz bestimmte Mindestanforderungen erfüllt werden."

    Indien ist auf dem Weg zu einer wirtschaftlichen und politischen Großmacht – inklusiver vieler Risiken und Nebenwirkungen. Trotz seiner ethnischen und sozialen Probleme! Aufhalten lässt sich diese Entwicklung nicht.