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Ritter: Deutsche Einheit verschärfte Krise des Sozialstaats

Nach Ansicht des Sozialhistorikers Gerhard A. Ritter hat die Wiedervereinigung die Krise des Sozialsysteme verschärft. Kurz vor der Wende habe es zwar auch sozialstaatliche Probleme gegeben, diese seien aber grundsätzlich lösbar gewesen. Die deutsche Einheit habe die Rahmenbedingungen verändert. Doch der Sozialstaat habe sich nicht genügend dem Wandel angepasst.

Moderation: Ursula Welter |
    Ursula Welter: Die Zahl der Arbeitslosen ist unter die Vier-Millionen-Marke gesunken. Das ließ der Bundesarbeitsminister heute früh bekannt geben, pünktlich zum Tag der Arbeit und einen Tag bevor die Bundesagentur in Nürnberg ihre Arbeitslosenstatistik offiziell vorlegen wird. Mehr Arbeitsplätze, das bedeutet auch Entspannung in den sozialen Sicherungssystemen. Dass dennoch Umbau und Reformbedarf besteht, wird in der Tagespolitik der Großen Koalition regelmäßig deutlcih, wenn es um die Frage von Gesundheit, Pflege und Rente geht.

    Wie es um unseren Sozialstaat steht, das hat der Sozialhistoriker Gerhard A. Ritter mit seinem Buch "Der Preis der deutschen Einheit" beschrieben und analysiert. Vor dieser Sendung habe ich ihn zunächst gefragt, in welchem Zustand das soziale System in Deutschland war, als die Mauer fiel.

    Gerhard A. Ritter: Also nicht im allerschlechtesten. Es gab latente Probleme: Überalterung der Bevölkerung, also das demographische Problem, es gab das Problem der zunehmenden Globalisierung, es gab die Explosion der Gesundheitskosten, also es gab durchaus Probleme. Aber ich würde sagen, sie waren im Grundsatz lösbar. Und es hat Ansätze gegeben in den 80er Jahren, sie zu lösen, insbesondere in der großen Rentenreform, die am 09. November 1989, also am Tag des Falls der Mauer, im Deutschen Bundestag durch eine Koalition aller großen Parteien verabschiedet wurde.

    Ursula Welter: Das heißt, es gab Ansätze, sagen Sie, zu konsolidieren, zu Reformen. Dieser Pfad der Konsolidierung wurde dann und musste vielleicht auch dann verlassen werden.

    Ritter: Das ist richtig. Mit der Wiedervereinigung ändern sich die Rahmenbedingungen schlagartig und grundlegend.

    Welter: Inwiefern?

    Ritter: Die Sozialleistungsquote, das ist der Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt, stieg schlagartig durch die großen Transferleistungen in die Sozialsysteme im Osten. Das war also ein Grund. Der zweite war, die Staatsschulden nahmen dramatisch zu, innerhalb von vier Jahren um über das Doppelte auf fast zwei Milliarden D-Mark. Das waren ganz entscheidende Veränderungen der Rahmenlage, dadurch bedingt, dass es die Riesen-Arbeitslosigkeit im Osten - also in den neuen Bundesländern, wie sie jetzt heißen - gegeben hat, die ja - bis heute liegt die Arbeitslosigkeit noch etwa doppelt so hoch wie in den westlichen Bundesländern im Durchschnitt.

    Welter: Lässt sich also sagen, Herr Ritter, dass die alte Bundesrepublik auf dem Weg war zu weniger Staat und dass es dann aber wieder mehr Staat wurde und werden musste?

    Ritter: Das ist richtig. Es waren Ansätze zu weniger Staat vorhanden. Das trifft nicht auf alle Bereiche zu, aber die Grundkonstellation hat sich geändert durch die Einbeziehung der neuen Bundesländer in denen immerhin die Menschen - 17 Millionen - ganz überwiegend ihre Erwartungen an den Staat richteten, weil sie so sozialisiert worden sind.

    Welter: Haben sich nach Ihrer Beobachtung und Untersuchung dann auch Institutionen des Sozialstaates überleben können, die es möglicherweise nicht geschafft hätten in die neue Zeit, wäre die Wiedervereinigung nicht gekommen? Haben vielleicht auch verkrustete Strukturen überlebt?

    Ritter: Das ist schwer zu sagen. Ich würde sagen, die Grundstrukturen wären wahrscheinlich erhalten geblieben, aber sie wären flexibler gestaltet worden. Das war nicht möglich, weil praktisch für zwei bis drei Jahre die gesamte Aufmerksamkeit der Menschen, sowohl der politischen wie der sozialen Akteure, sich auf die Wiedervereinigung konzentrierte.

    Welter: Gab es aus Sicht der Sozialpolitiker Blaupausen für das, was geschah? Die Frage ist im Grunde ja die, hätte es auch Alternativen gegeben?

    Ritter: Es gab keine Blaupausen, es konnte sie wahrscheinlich auch nicht geben, weil niemand vorhersehen konnte, in welcher Form die Wiedervereinigung, wenn sie denn überhaupt stattfand, stattfinden würde. Also das, glaube ich, kann man ihnen auch nicht vorwerfen. Vorwerfen kann man eventuell, dass man sehr wenig über die Situation in der DDR Bescheid wusste. Das gilt für alle Institutionen. Man hat die Produktivität der DDR-Wirtschaft weit überschätzt. Das hängt mit den falschen Statistiken der DDR, die sich ja auch selbst belogen hat, zusammen.

    Welter: Eine Fehlleistung auch der westlichen Wirtschaftswissenschaftler?

    Ritter: Das ist schwer zu sagen. Ich würde sagen, wahrscheinlich im gewissen Grade: Ja. Allerdings konnten sie natürlich nicht einfach ihre eigenen Statistiken ohne irgendwelche Unterlagen an die Stelle der falschen, die von der DDR geliefert wurden, setzen.

    Welter: Kann man sagen, Herr Ritter, dass sich die Krise des Sozialstaates, so weit beobachtet, verschärft hat?

    Ritter: Ja, das kann man ganz eindeutig sagen. Also der Präsident der deutschen Bundesbank hat kürzlich gesagt - es ist noch gar nicht lange her - dass etwa zwei Drittel der Gegenwartsprobleme des Sozialstaates durch die Vereinigung bedingt sind. Ob das nun genau stimmt, man kann das sicherlich nicht so quantifizieren, aber sie haben einen großen Anteil an den Problemen, vor denen wir heute stehen.

    Welter: Sind Konstruktionsfehler des Systems auch offenkundig geworden damit?

    Ritter: Ja, es sind - Konstruktionsfehler ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort - aber man hat nicht genügend sich dem Wandel angepasst. Also der deutsche Sozialstaat beruht im europäischen Vergleich - überhaupt, auch im Vergleich mit außereuropäischen Ländern gilt das im gleichen Maße - zu einem ganz, ganz hohen Maße auf der Erwerbstätigkeit, also auf Beiträgen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Der Staat ist im sehr viel geringeren Umfang involviert. Das ist in anderen Staaten nicht so sehr der Fall.

    Nun führt das zu der Konsequenz, dass der Wandel der Arbeitswelt sich niederschlägt in den Problemen des Sozialstaates. Also um es konkret zu sagen, der Sozialstaat beruht auf dem Konzept einer lebenslangen Vollerwerbstätigkeit. Der Wandel der Arbeitswelt hat bewirkt, dass heute immer weniger Menschen eine solche lebenslange Vollerwerbstätigkeit haben. Es gibt Zeitarbeit, es gibt geringfügige Beschäftigung, es gibt Selbständige, die praktisch Ein-Mann-Betriebe sind, und so weiter. Die Basis droht in der Arbeitswelt weg zu brechen. Die Konsequenz ist, dass der Staat einen höheren Anteil übernehmen müsste.

    Welter: Sind steuerfinanzierte Sozialsysteme, die es ja auch gibt, leichter zu verändern, flexibler?

    Ritter: Eindeutig, das ist ganz eindeutig der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat zurecht 1980 in einem Urteil festgestellt, dass etwa in der Rentenversicherung die Anwartschaften zum Eigentum gehören, also dem Eigentumsvorbehalt des Grundgesetzes unterliegen und grundsätzlich nicht geändert werden können. Das macht natürlich eine Änderung sehr viel schwerer als einem steuerfinanzierten System, wo der Staat je nach der Kassenlage, das ist natürlich auch ein Vorwurf, mehr oder weniger gibt.

    Welter: Ein Angebot, dass sozusagen neu auf den Markt des Sozialstaates gekommen ist nach der Wiedervereinigung trotz aller Probleme, war die Pflegeversicherung, deren Reform jetzt ansteht. Haben Sie den Eindruck, Herr Ritter, dass da nach den richtigen Antworten gesucht wird?

    Ritter: Ich glaube schon, obwohl es sich noch nicht abzeichnet, wo die wirkliche Lösung sein wird. Zunächst einmal glaube ich, dass das eine notwendige Ergänzung des bestehenden Sozialstaates war. Im Gegensatz zu manchen anderen Leistungen, die sozusagen zusätzlich waren und auf die man vielleicht auch hätte verzichten können, ist Pflege ein großes Problem, die immer mehr Menschen beschäftigt, mit der Alterung der Gesellschaft und auch mit der Veränderung der Familienstrukturen. Frauen haben einfach nicht mehr die Möglichkeit wie früher, weil sie selber berufstätig sind, ihre Eltern in dem Umfang zu pflegen, wie das vorher der Fall war. Also, sie war meines Erachtens notwendig.

    Kritik hat man daran geäußert, dass keine Rücklagen gebildet sind, sondern dass man sie nicht aufgrund eines Kapitaldeckungsverfahrens - ich werde gleich klären, was das ist - sondern eines Umlageverfahrens finanziert hat. Umlageverfahren bedeutet, dass die gegenwärtigen Menschen das finanzieren, was geleistet werden muss, in der Hoffnung, dass das in der Zukunft für sie auch zutrifft. Kapitaldeckungsverfahren ist das, was jede private Versicherung, jede Lebensversicherung macht, dass sie Rücklagen bildet, aus denen dann die Leistungen bezahlt werden. Man hätte sicher ein Element der Rücklagenfinanzierung mit einbauen sollen.

    Welter: Vor diesem Hintergrund, Sie haben nun mit Ihrem Buch den Blick zurück geleistet, wie wird der Sozialstaat, unser Sozialstaat, sagen wir, am 01. Mai 2017 aussehen?

    Ritter: Es wird sicher eine weitere Reform der Systeme geben müssen. In der Rentenversicherung hat man ja immer wieder grundlegende Reformen gemacht. Zunächst, ich sagte das, 1989/92. Ich nehme das zweite Datum, weil die Verabschiedung am 09. November 89 war, es aber erst zum 1. Januar 92 in Kraft trat. Dann kam die Riester-Rente, wo ein privates Element eingefügt worden ist, und jetzt neue Reformen, die den Anstieg der Rentenversicherungsbeiträge bisher mit einem ziemlichen Erfolg reduziert haben. Wir liegen ja immer noch mit 19,9 knapp unter der 20 Prozent Grenze. Ohne diese Reform läge es heute schon bei 27, 28 Prozent. Das ist also die Rentenversicherung.

    In der Krankenversicherung, im Gesundheitswesen glaube ich, dass wir das Ergebnis noch nicht erreicht haben. Ich sage Ihnen keine Neuigkeit, wenn ich sage, dass es ein sehr mühsam zustande gekommener Kompromiss ist, der sich noch bewähren muss und der im Grunde genommen weder dem Konzept der CDU/CSU noch dem der SPD entspricht. Man wird sehen müssen, wie das in der Zukunft sich weiterentwickelt. In der Pflegeversicherung, hatte ich schon angedeutet, wird man möglicherweise ein Rücklageelement einbauen müssen. Man wird sicherlich die Beiträge erhöhen müssen, hoffentlich nicht zu viel. Und man wird sicherlich Demenzkranke einbeziehen müssen.

    Welter: Also der Sozialstaat bleibt eine Baustelle?

    Ritter: Er bleibt eine Baustelle. Aber das war er immer. Er muss sich an den Wandel der Bedingungen anpassen. Man kann nicht heute etwas festlegen, oder sagen wir mal, Bismarck konnte nicht in den 80er Jahren festlegen, was heute nach 120 Jahren noch so ohne weiteres weitergeführt werden kann ohne entscheidende Änderungen.