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Ritterschlag für Rocker

Die Rock and Roll Hall of Fame erzählt die Geschichte des Rock and Roll und ehrt Künstler, die dieses Musikgenre beeinflusst haben. Dabei gibt es eine Menge Kuriositäten und Sammlerstücke zu bestaunen. Doch nicht jeder Musiker ist erfreut über eine Aufnahme.

Von Michael Marek | 14.04.2012
    Am Rande der ehemaligen Stahlmetropole, direkt am Eriesee, ragt der gewaltige Gebäudekomplex der Rock and Roll Hall of Fame empor. Architekt I.M. Pei wollte mit Turm und Brücke einen Plattenspieler nachempfinden, doch zwischen Clevelands stillgelegten Fabriken wirkt das Monstrum aus Glas und Stahl wie ein Raumschiff aus einem anderen Sonnensystem. Innen wird auf mehreren Stockwerken die Geschichte des Rock and Roll erzählt.

    Beginnend mit den 1940er-Jahren, als die Musik jene Härte, Lautstärke und Vitalität gewann, die ihr weltweit zum Durchbruch verhalf – mit Musikern wie Hank Williams, Robert Johnson, Lead Belly - Namen, die heute kaum jemand noch kennt.

    "We also have listening stations, which is pretty cool,”" sagt Meredith Rutledge, Kuratorin in der Hall of Fame. ""Es gibt auch sogenannte Hör-Stationen. Viele Besucher kennen weder Howling Wolf oder Willie Dixon, aber die beiden haben den Rock and Roll in seinen Anfangsjahren mitgeprägt. Deshalb präsentieren wir Hörbeispiele von diesen Musikern, aber auch ungewöhnliche Artefakte. Der Geldkoffer von Howling Wolf zum Beispiel ist mein Lieblingsausstellungsstück. Wolf war jemand, der den Banken misstraute. Deshalb wollte er vor jedem Auftritt seine Gage in bar bekommen. Das Geld hat Wolf in einen Koffer gepackt und mit auf die Bühne genommen. Dadurch wusste er immer, wo sich sein Geld war – das ist doch ziemlich cool, oder?"

    Alles in der Hall of Fame ist multimedial. Aus allen Ecken tönen Geräusche, Musik- und Videoclips. Entsprechend interaktiv geht es hier im Museum zu – auf Kinoleinwänden, Spielkonsolen und Monitoren. Aber das ist heute längst Standard – ob im Deutschen Historischen Museum oder im Imperial War Museum.

    Und es gibt eine Menge Kuriositäten und Sammlerstücke zu bestaunen: den schwarzen Mantel von Otis Redding, die Lederjacke von Peter Gabriel, Plattencover der Beach Boys oder die Reisepässe der Beatles. Jimi Hendrix wird in einem größeren Ausstellungsbereich gewürdigt - unter anderem mit seiner berühmten Black Widow Akustik Gitarre oder dem handgeschriebenen Voodoo Child-Songtext - auf liniertem Papier. Und dazwischen jede Menge Mischpulte, Instrumente und andere Devotionalien des Rock and Roll. Gegen den Vorwurf, die Hall of Fame erkläre keine Zusammenhänge, sondern bleibe im Anekdotenhaften stecken, verteidigt sich Kuratorin Rutledge vehement:

    "Ein solches Konzept rüberzubringen, das ist ungemein schwer. In den Begleittexten zur Ausstellung versuchen wir das. Wir zeigen, welchen Einfluss der Rock and Roll beispielsweise auf die kulturelle Revolution in den 1960er-Jahren hatte. Musikgeschichte steht immer im Kontext zur Zeitgeschichte, etwa wenn wir über Soul Musik sprechen und den Kampf gegen Zensur und für Bürgerrechte, aber: Die Hall of Fame ist ein Ort, den man selbst erkunden muss. Wir wollen bilden und zugleich unterhalten."

    Entertainment auf Amerikanisch! Auch inhaltlich: Europa ist eindeutig unterrepräsentiert, sogar Großbritannien, wo der Rock and Roll in den späten 1960er-Jahren stärker befeuert wurde als sonst wo. Frankreich, Osteuropa, der Balkan – unwichtig. Immerhin: Abba sind vertreten, aber ist das Rock and Roll?

    "Unser Schwerpunkt liegt auf Künstlern, die den Rock and Roll revolutioniert haben so wie Elvis Presley, Little Richard, Chuck Berry, also amerikanische Musiker. Natürlich haben wir in die Hall of Fame auch britische Bands und Musiker aufgenommen: die Beatles, die Rolling Stones, die Yardbirds, Eric Clapton. Zukünftig werden wir verstärkt internationale Künstler berücksichtigen."

    Deutschsprachige Rock and Roller – Musiker, die in die Hall of Fame aufgenommen wurden? Fehlanzeige! Kraftwerk, Die toten Hosen, Falco, neue deutsche Welle, Can? Als hätte es das alles nicht gegeben! Mit einer Ausnahme:

    "In unserer Heavy Metal-Abteilung haben wir einige Ausstellungsstücke der Scorpions. Zum Beispiel eine Gitarre von Rudolf Schenker und den Originaltext von Wind of Change. Damit wollen wir zeigen, welche Bedeutung der Rock and Roll für den Fall der Mauer hatte."

    Die Aufnahme in die Halle des Ruhms kommt einem Ritterschlag gleich, ähnlich dem Gewinn eines Film-Oscars. Tom Waits, Neil Diamond und Alice Cooper gehören zu diesem erlauchten Kreis ebenso wie Marvin Gaye, B.B. King oder Led Zeppelin. Große Namen, risikolos. Sogar manche Oscar-Entscheidung wirkt gewagter. Angekommen auf dem Olymp werden die Autogramme der Ausgezeichneten auf Glas eingraviert. Eine Wall of Fame. Und jeder der aufgenommen Künstler wird mit persönlichen Ausstellungsgegenständen geehrt – einzige Bedingung: das erste Album muss mindestens ein Vierteljahrhundert alt sein.

    "Diese Jahr werden in die Hall of Fame aufgenommen: Laura Nyro, The Beastie Boys, Guns N’Roses, The Faces, Small Faces, The Chili Peppers. Es geht darum, Künstler zu ehren, die den Rock and Roll wirklich beeinflusst haben. Wenn wir einen Künstler in die Hall of Fame aufnehmen, dann sagen wir: Danke für die Jahre deines Einsatzes. Und es ist auch eine Gratulation vonseiten der Musikindustrie."

    Doch diese Gratulationen gehen nicht ohne Widerspruch über die Bühne: 2006 sollten die Sex Pistols in die Hall of Fame aufgenommen werden.

    Die britischen Punkrocker um Sänger Johnny Rotten lehnten dankbar ab - mit der Begründung, neben ihnen sähe "der Rock and Roll einschließlich der beknackten Hall of Fame aus wie ein Piss-Fleck". 2010 kritisierte Kiss-Gitarrist und Sänger Paul Stanley: Wenn Leute wie Madonna, die ja schließlich überhaupt nichts mit Rock and Roll zu tun hätten, im Museum vertreten seien, dann müsse man den Sinn einer Hall of Fame grundsätzlich infrage stellen. Übrigens: Auch Rush, die Prog-Rock-Band aus Kanada, taucht in der Hall of Fame nicht auf. Dabei wurde sie 1974 erst bekannt, weil ein Radiosender ihren Song "Working Man" rauf und runter spielte – und zwar nirgendwo anders als in der damals noch stolzen Stahlarbeiterstadt Cleveland.