Kein Wunder, daß T.C.Boyle, der im selben Ort, Montecido/Kalifornien in der Nähe von Santa Barbara wohnt, sofort wach wurde, als er von dieser Geschichte hörte. Es stellt für einen Schriftsteller eine besondere Herausforderung dar, einen Irren in das Zentrum seiner Geschichte zu stellen. Aus der Perspektive dieses Kranken erzählt T.C.Boyle allerdings nur ganz selten - in Form eines inneren Monologs, der auch noch kursiv gesetzt ist zur Hervorhebung des Besonderen. Es wird mehr von Stanley McCormick erzählt und über ihn berichtet, was ihn aber nicht minder lebendig und präsent erscheinen läßt als die beiden anderen Hauptfiguren, in deren Haut T.C.Boyle schlüpft: Stanley McCormicks Ehefrau Cathrin Dexter McCormick und Eddie 0'Kane, sein Oberpfleger. Wenngleich Anzeichen von Schizophrenie bei dem sehr gut ausehenden, 1,93 m großen Millionärssohn kaum zu übersehen waren - Aussetzer, Tics und aggressive Anwandlungen -,heiratete Cathrin Dexter ihn im Jahre 1904 dennoch, in der trügerischen Hoffnung, daß ihre Liebe zur Heilung seiner schizoiden Schübe führen würde.
Sie blieb zeitlebens mit ihm verheiratet, zeitlebens unberührt und getrennt von ihm lebend. Cathrin Dexter verwaltete sein Vermögen, und sie engagierte sich in der amerikanischen Frauenbewegung. Zweite Hauptfigur ist der Oberpfleger Eddie 0'Kane, ein stämmiger, stattlicher Ire mit großen Körperkräften, die er auch braucht, um den irren Riesen McCormick zu bändigen, und mit ebenso großem Appetit auf Alkohol und Frauen. T.C. Boyle entstammt selbst der Arbeiterklasse, seine Eltern waren beide Trinker, und es wundert also kaum, daß er den alltäglichen Irrsinn, die Bars und Flüsterkneipen, die kreischenden vernachlässigten Ehefrauen, die schlimmen Alkohol- und hoffnungsfreudigen Sex-Exzesse, die dieser flotte Eddie 0'Kane sucht und durchlebt, mit großer Eindringlichkeit zu gestalten versteht. Wie überhaupt das ganze Buch nur so wimmelt von quicklebendigen Nebenfiguren aller Schichten und Milieus.
Riven Rock spielt in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Interesse für Geschichte ist für Amerikaner, wenn man Cowboy-Geschichten mal außen vorläßt und abzieht, nicht gerade besonders typisch; diese Tatsache oder Meinung hat Jean-Luc Godard, der französische Regisseur, einmal boshaft auf die folgende Sentenz gebracht: "Die Europäer haben Erinnerungen, die Amerikaner haben T-Shirts."
"Zu diesem Satz von Godard gibt es sicher eine ganze Menge zu sagen", so T.C. Boyle. "Erstens einmal hat er völlig recht: Amerikaner, und die meiner und der nachfolgenden Generation ganz besonders, interessieren sich nicht besonders für Geschichte. Wir leben im Augenblick. Ich war Hippie, müssen Sie wissen. Wir haben den Sex und die Musik und die langen Haare erfunden. Niemand vor uns hatte jemals Sex so wie wir, davon waren wir überzeugt. Ich persönlich habe mich immer sehr zur Geschichte hingezogen gefühlt. Geschichte hat mich immer fasziniert, denn ich fühle mich in diesem unseren seltsamen Universum ohne Regeln und Sinn sehr wurzellos und ohne festen Boden unter den Füßen. Was kommen wird, weiß ich nicht, aber es ist doch schön zu wissen, daß vor uns auch schon etwas gewesen ist. Daß es Menschen gegeben hat mit ganz ähnlichen Problemen, wie wir sie heute haben. Das liefert mir einen Kontext, um eine Geschichte zu bauen und für mich persönlich eine Art Weitsicht zu finden. Deshalb begeistere ich mich sehr für Geschichte. Und dies ist schon mein vierter historischer Roman."
Bei der amerikanischen Kritik hat Boyle einiges an Schelte einstecken müssen - vor allem von der vornehmen "New York Times": er beschreibe keine Charaktere, sondern Karikaturen; es fehle ihm an einfühlender Sympathie für seine Figuren. Das mag wohl stimmen - wir werden beim Lesen nicht zu Tränen gerührt oder von Mitleid ergriffen. Dazu ist Boyle ein zu gnadenloser Beobachter mit Hang zur Satire. Ein weiterer Vorwurf aus New York: "Der Wahnsinn seiner Hauptfigur ist unzureichend erklärt". Ich muß der angesehenen "New York Times" allerdings eines entgegenhalten: Wahnsinn läßt sich - bei allem guten Willen - leider nicht zureichend erklären! Dieser Stanley McCormick, der von einer von Etiquetten und Standesdünkeln besessenen Mutter erzogen oder besser gesagt dressiert worden ist - in dem körper- und natürlich auch sexfeindlichen Korsett dieser Zeit - wird geisteskrank - aber er wird es nicht aufgrund dieser Umwelt zwangsläufig.
Auch mir als Leser stellte sich anfangs immer wieder die neugierige Frage: wie will dieser Boyle es schaffen, den Wahnsinn "zu erklären"? Diese völlige Unfähigkeit, sich zu beherrschen und dem zu entsprechen, was die Gesellschaft nicht zu unrecht als normales Verhalten erwarten darf? Denn krank ist dieser Millionärssohn tatsächlich: ein hoffsloser Zwangsneurotiker, der zwischen Phasen völliger Katatonie und Erstarrung, wilder Aufgeregtheit oder Aggressivität und ruhigem, friedfertigem Benehmen auf völlig unberechenbare und unvorhersehbare Weise hin- und herschwankt. 'Riven Rock' bedeutet soviel wie der 'Zerrissene Felsen'. Symbolisch ist damit die zerrissene Persönlichkeit des hünenhaften Milliorenerben Stanley McCormick gemeint. Und auf dem Anwesen in Montecido existiert tatsächlich ein Sandsteinfelsen, in dessen Spalte eine Eichel gefallen war, die dort Erde fand, um zu wachsen und als Baum den Felsen auseinanderzusprengen; ein hoffnungsfrohes Symbol also.
Cathrin Dexter McCormick, die Ehefrau, gibt die Hoffnung auf eine Heilung ihres Ehemanns niemals auf. Auf Auswege aus der Misere der Geisteskrankheit sinnen natürlich auch Stanley McCormicks wechselnde Psychiater mit strengen Regeln oder mit lockeren, mit viel Bewegung an der frischen Luft oder mit "Redekuren" und Psychoanalyse. Der Wahnsinn wird nicht erklärt, aber er wird auf untergründige, fast gemeine und verstörende Weise fühlbar.
Wie Flaubert beim Schreiben von "Madame Bovary" soweit kam, daß er bei dem Wort 'Nervenkrise' selber von einer Nervenkrise geschüttelt wurde, so ähnlich erging es auch T.C.Boyle: wenn er noch ein weiteres Buch dieser Art schreiben müßte, verriet er, würde er bald selbst verrückt. Und ähnlich geht es dem Leser: er fühlt sein unterdrücktes Potential an Verrücktheit aktiviert.