Es war früh am Morgen. Der Anruf eines Freundes aus Kolumbien erreichte sie in Chile. Er fragte, wie es ihr gehe. Sie antwortete: "Gut. Stabile Schieflage." Eine treffende Beschreibung ihrer Situation und mehr noch: auch ihrer Person. Diese junge Frau gehört zu den Leuten, die man so bald nicht vergisst. Sie prägen sich ein, werden zu einem Stück unserer eigenen Lebensgeschichte. Vielleicht auch, weil sie so rätselhaft sind und bleiben.
Natürlich, so heißt es jetzt bei Britta Schröder: "Erinnerungen überschreiben sich fortwährend selbst." Das mag der Grund sein, weshalb solche Leute, in womöglich veränderter Gestalt, immer wieder auftauchen. Der Mann von früher, der durchs Gebirge ging und dann, 150 Jahre später, sich in Italien verlor. Der Mann, von dem es heißt: Müdigkeit habe er nicht verspürt, es sei ihm nur unangenehm gewesen, dass er "nicht auf dem Kopf gehen konnte". Dieser Mann, es handelt sich um Georg Büchners "Lenz", tauchte in der gleichnamigen Erzählung Peter Schneiders noch einmal auf. Und jetzt wieder bei Britta Schröder, allerdings diesmal in Gestalt einer Frau.
Nur: Es ist dasselbe Hochgefühl und eine ähnliche Verzweiflung. Eine Leichtigkeit, die es der jungen Frau erlaubt, sich schwebend durch die Welt zu bewegen. Und eine Schwere, die es ihr unmöglich macht, auch nur vor die Tür zugehen. Es ist die gleiche Melancholie, die immer wieder aufbricht, und eine ähnliche Verrücktheit, die das Ganze ins Surreale zu heben scheint. Es ist ein existenzieller Ernst, der hier vorherrscht, und eine spielerische Leichtigkeit, mit der er sich präsentiert.
Britta Schröder, von Haus aus Kunsthistorikerin, lebt als (freie) Lektorin für deutsche und schweizer Verlage in Frankfurt am Main. "Zwölfender", ein schmales Büchlein, "Roman" genannt, ist ihr erzählerisches Debüt.
Ihre Heldin, die junge Frau, macht keine Kunst, wie sie eigens betont, sondern restauriert sie nur und bezieht damit aber ein offensichtlich ansehnliches Einkommen, das ihr einfach mal so einen Flug nach Florida erlaubt und wenig später die Reise nach Chile, die den größten Teil des Buches beansprucht. Es geht also um die halbe Welt und vor allem durch eine ganze Wüste. Diese junge Frau zieht denn auch auf dem Weg zu einer Busstation bereits ihr "Herz an einer fransigen Schnur über den Bürgersteig" und empfindet etwas später, allerdings erst "nach langer Zeit" wieder "so etwas wie Übermut"; sie fühlt sich "so leicht", dass sie "gelegentlich, wenn niemand in Sicht war, zu einem Sprung ansetzte".
Die Plattform, von der sie buchstäblich zu diesem Höhenflug abhebt, steht auf einem (mehr oder weniger) realistischen Handlungsgerüst. Alles beginnt mit einem Besuch beim Vater. "Ich war da, um Frieden zu schließen, nach vielen Jahren eisiger Stille." Jetzt steht sie in seiner Küche. Er fragt, wie es ihr ergangen sei.
"Die Arglosigkeit seiner Frage stieß mir in die Kniekehlen. Schwer zu sagen, was mich härter traf: seine oder meine Verachtung. Ich … . Er drehte sich zu ihr um. Ich nahm das Küchenmesser von der Anrichte und schob es in seinen Körper. Er sackte zu Boden. Es floss wenig Blut. Er atmete flach und sah mich ausdruckslos an. In seinem Blick war nichts. Keine Furcht, kein Flehen, kein Vorwurf, kein Bedauern, kein Zorn. Ich sah, dass er nicht am Leben hing."
Sie ruft einen Krankenwagen und verlässt dann, wie es heißt, "mit ruhigen Schritten", das Haus. "Zwei Tage nach der Sache mit meinem Vater" fliegt sie nach Florida.
Sie verschwendet keinen Gedanken mehr an dieses Ereignis. Nach ihrer Rückkehr aus den USA erfährt sie, dass ihr Vater überlebt, aber selbst der Polizei gegenüber keinerlei Auskünfte über das Geschehene gegeben habe. Ihrem Freund, der sie fragt, ob sie damit etwa zu tun gehabt habe, antwortet sie ebenso schlicht wie präzise: "Ja". Seine daraufhin spürbare Zurückhaltung verwundert sie nicht.
Hier setzt nun eine Folge von Episoden an, die chronologisch, ohne Rückblenden, äußerst lakonisch erzählt werden, wenn auch gelegentlich von surrealen Einschüssen und vor allem von albtraumartigen Sequenzen durchsetzt. Ein Schrank taucht auf, in dem die Ich-Erzählerin am Anfang und am Ende buchstäblich abtaucht.
Gefühlsregungen kommen nicht vor. Es gibt keine psychologischen Erklärungen. Nur (psycho-)somatische Reaktionen des Ichs auf die Welt. Die junge Frau begegnet auf ihrer Reise einer ganzen Reihe von bemerkenswerten Gestalten, einem etwa gleich alten Anthropologen, einer Pensionswirtin, einem professionellen Pokerspieler, einem Brüderpaar, das sich mit einem Boot und Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. Alle diese Figuren werden nur mit wenigen Worten beschrieben und dabei sofort lebendig. Wie in einem Roadmovie geht es über viele Stationen voran. Es entsteht eine eigenartige Spannung, die durch irritierende Einschiebsel nach jedem Kapitel eher noch gesteigert wird.
Die Erkenntnis der jungen Frau, mit der sie die Wohnung ihres Vaters verließ, traf auch sie selbst. "Seine Heiterkeit, seine Neugierde und Abenteuerlust waren nur ein Schild gewesen, hinter dem sich Leere und Unlust verbargen."
Deshalb hatte sie sich auf den Weg gemacht. "Ich versuche", erklärte sie den beiden Brüdern, denen sie beim Lackieren eines Schiffes half, "ich versuche, mich zu vergessen. Erst erinnern, dann vergessen." "Wenn dir das Lackieren dabei hilft", flachste der eine, dann "kannst du gerne morgen damit weitermachen".
Es hat natürlich nicht geholfen, auch wenn sie weitergemacht hat. Am Ende kehrt die junge Frau nach Deutschland zurück. Einiges an Erfahrungen reicher, dafür an Illusionen ärmer geworden. Sie weiß zwar: "Die Hoffnung verlässt einen nie. Hoffnung ist gedächtnislos. Darin ähnelt sie dem Zufall." Nur: Kann man mit dieser Einsicht leben? Als ihr Freund, um sie um die Realität zurückzuholen, – so "als sei alles normal" – ein Essen für sie arrangiert, steht sie vom Tisch auf, um Flaschenöffner und Feuerzeug aus der Küche zu holen, geht dann aber nicht zurück, sondern "benommen" ins Schlafzimmer. "Ich öffnete den Kleiderschrank und schob die Bügel auseinander. Vor mir lag eine Lichtung. Ich erkannte sie wieder."
Damit schließen sich Anfang und Ende dieses faszinierend rätselhaften "Romans" zusammen. Die Einsprengsel, die in deutlich abgehobener Schrifttype nach jedem Kapitel folgen, habe ich bis zum Schluss nicht auf die Reihe gekriegt. Dafür sind mir die Gestalten, die hier beschrieben werden, um so deutlicher vor Augen getreten. Büchners "Lenz", Schneiders "Lenz" und Britta Schröders "Zwölfender" – sind Erinnerungen geworden, die sich selbst fortschreitend "überschreiben". Und bleiben.
Britta Schröder: "Zwölfender". Roman.
Weissbooks, Frankfurt am Main 2012, 159 Seiten, 16,90 Euro.
Natürlich, so heißt es jetzt bei Britta Schröder: "Erinnerungen überschreiben sich fortwährend selbst." Das mag der Grund sein, weshalb solche Leute, in womöglich veränderter Gestalt, immer wieder auftauchen. Der Mann von früher, der durchs Gebirge ging und dann, 150 Jahre später, sich in Italien verlor. Der Mann, von dem es heißt: Müdigkeit habe er nicht verspürt, es sei ihm nur unangenehm gewesen, dass er "nicht auf dem Kopf gehen konnte". Dieser Mann, es handelt sich um Georg Büchners "Lenz", tauchte in der gleichnamigen Erzählung Peter Schneiders noch einmal auf. Und jetzt wieder bei Britta Schröder, allerdings diesmal in Gestalt einer Frau.
Nur: Es ist dasselbe Hochgefühl und eine ähnliche Verzweiflung. Eine Leichtigkeit, die es der jungen Frau erlaubt, sich schwebend durch die Welt zu bewegen. Und eine Schwere, die es ihr unmöglich macht, auch nur vor die Tür zugehen. Es ist die gleiche Melancholie, die immer wieder aufbricht, und eine ähnliche Verrücktheit, die das Ganze ins Surreale zu heben scheint. Es ist ein existenzieller Ernst, der hier vorherrscht, und eine spielerische Leichtigkeit, mit der er sich präsentiert.
Britta Schröder, von Haus aus Kunsthistorikerin, lebt als (freie) Lektorin für deutsche und schweizer Verlage in Frankfurt am Main. "Zwölfender", ein schmales Büchlein, "Roman" genannt, ist ihr erzählerisches Debüt.
Ihre Heldin, die junge Frau, macht keine Kunst, wie sie eigens betont, sondern restauriert sie nur und bezieht damit aber ein offensichtlich ansehnliches Einkommen, das ihr einfach mal so einen Flug nach Florida erlaubt und wenig später die Reise nach Chile, die den größten Teil des Buches beansprucht. Es geht also um die halbe Welt und vor allem durch eine ganze Wüste. Diese junge Frau zieht denn auch auf dem Weg zu einer Busstation bereits ihr "Herz an einer fransigen Schnur über den Bürgersteig" und empfindet etwas später, allerdings erst "nach langer Zeit" wieder "so etwas wie Übermut"; sie fühlt sich "so leicht", dass sie "gelegentlich, wenn niemand in Sicht war, zu einem Sprung ansetzte".
Die Plattform, von der sie buchstäblich zu diesem Höhenflug abhebt, steht auf einem (mehr oder weniger) realistischen Handlungsgerüst. Alles beginnt mit einem Besuch beim Vater. "Ich war da, um Frieden zu schließen, nach vielen Jahren eisiger Stille." Jetzt steht sie in seiner Küche. Er fragt, wie es ihr ergangen sei.
"Die Arglosigkeit seiner Frage stieß mir in die Kniekehlen. Schwer zu sagen, was mich härter traf: seine oder meine Verachtung. Ich … . Er drehte sich zu ihr um. Ich nahm das Küchenmesser von der Anrichte und schob es in seinen Körper. Er sackte zu Boden. Es floss wenig Blut. Er atmete flach und sah mich ausdruckslos an. In seinem Blick war nichts. Keine Furcht, kein Flehen, kein Vorwurf, kein Bedauern, kein Zorn. Ich sah, dass er nicht am Leben hing."
Sie ruft einen Krankenwagen und verlässt dann, wie es heißt, "mit ruhigen Schritten", das Haus. "Zwei Tage nach der Sache mit meinem Vater" fliegt sie nach Florida.
Sie verschwendet keinen Gedanken mehr an dieses Ereignis. Nach ihrer Rückkehr aus den USA erfährt sie, dass ihr Vater überlebt, aber selbst der Polizei gegenüber keinerlei Auskünfte über das Geschehene gegeben habe. Ihrem Freund, der sie fragt, ob sie damit etwa zu tun gehabt habe, antwortet sie ebenso schlicht wie präzise: "Ja". Seine daraufhin spürbare Zurückhaltung verwundert sie nicht.
Hier setzt nun eine Folge von Episoden an, die chronologisch, ohne Rückblenden, äußerst lakonisch erzählt werden, wenn auch gelegentlich von surrealen Einschüssen und vor allem von albtraumartigen Sequenzen durchsetzt. Ein Schrank taucht auf, in dem die Ich-Erzählerin am Anfang und am Ende buchstäblich abtaucht.
Gefühlsregungen kommen nicht vor. Es gibt keine psychologischen Erklärungen. Nur (psycho-)somatische Reaktionen des Ichs auf die Welt. Die junge Frau begegnet auf ihrer Reise einer ganzen Reihe von bemerkenswerten Gestalten, einem etwa gleich alten Anthropologen, einer Pensionswirtin, einem professionellen Pokerspieler, einem Brüderpaar, das sich mit einem Boot und Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. Alle diese Figuren werden nur mit wenigen Worten beschrieben und dabei sofort lebendig. Wie in einem Roadmovie geht es über viele Stationen voran. Es entsteht eine eigenartige Spannung, die durch irritierende Einschiebsel nach jedem Kapitel eher noch gesteigert wird.
Die Erkenntnis der jungen Frau, mit der sie die Wohnung ihres Vaters verließ, traf auch sie selbst. "Seine Heiterkeit, seine Neugierde und Abenteuerlust waren nur ein Schild gewesen, hinter dem sich Leere und Unlust verbargen."
Deshalb hatte sie sich auf den Weg gemacht. "Ich versuche", erklärte sie den beiden Brüdern, denen sie beim Lackieren eines Schiffes half, "ich versuche, mich zu vergessen. Erst erinnern, dann vergessen." "Wenn dir das Lackieren dabei hilft", flachste der eine, dann "kannst du gerne morgen damit weitermachen".
Es hat natürlich nicht geholfen, auch wenn sie weitergemacht hat. Am Ende kehrt die junge Frau nach Deutschland zurück. Einiges an Erfahrungen reicher, dafür an Illusionen ärmer geworden. Sie weiß zwar: "Die Hoffnung verlässt einen nie. Hoffnung ist gedächtnislos. Darin ähnelt sie dem Zufall." Nur: Kann man mit dieser Einsicht leben? Als ihr Freund, um sie um die Realität zurückzuholen, – so "als sei alles normal" – ein Essen für sie arrangiert, steht sie vom Tisch auf, um Flaschenöffner und Feuerzeug aus der Küche zu holen, geht dann aber nicht zurück, sondern "benommen" ins Schlafzimmer. "Ich öffnete den Kleiderschrank und schob die Bügel auseinander. Vor mir lag eine Lichtung. Ich erkannte sie wieder."
Damit schließen sich Anfang und Ende dieses faszinierend rätselhaften "Romans" zusammen. Die Einsprengsel, die in deutlich abgehobener Schrifttype nach jedem Kapitel folgen, habe ich bis zum Schluss nicht auf die Reihe gekriegt. Dafür sind mir die Gestalten, die hier beschrieben werden, um so deutlicher vor Augen getreten. Büchners "Lenz", Schneiders "Lenz" und Britta Schröders "Zwölfender" – sind Erinnerungen geworden, die sich selbst fortschreitend "überschreiben". Und bleiben.
Britta Schröder: "Zwölfender". Roman.
Weissbooks, Frankfurt am Main 2012, 159 Seiten, 16,90 Euro.