Archiv


Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen. Leben im Wohlfahrtsstaat

Der französische Soziologe Robert Castel, der vor einigen Jahren mit einer umfangreichen Studie zur historischen Entwicklung der Erwerbsarbeitsgesellschaft auf sich aufmerksam gemacht hat, hat sich nun mit der Frage der Rückkehr der sozialen Unsicherheit beschäftigt. Wie kann ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Integration erhalten bleiben?, so eine seiner Kernfragen.

Rezension von Barbara Eisenmann. Am Mikrophon: Hermann Theißen |
    "Die deutsche Disziplin und Ruhe könnten trügerisch sein. Eine neue RAF ist nicht in Sicht. Aber wenn irgendwo 200 empörte Arbeiter, die entlassen werden sollen, obwohl der Konzern insgesamt schwarze Zahlen schreibt, alles kurz und klein schlagen, kann ein einziger Gewaltausbruch dieser Art einen Flächenbrand auslösen wie einst der unpolitische Mordversuch an Rudi Dutschke zu Ostern 1968. Das ist die "kirgisische Lektion": Der kirgisische Widerstand ist die Reaktion auf den ukrainischen Widerstand, der in Osteuropa noch manchen Umsturz auslösen dürfte. Deutschland ist nicht Kirgisien, Deutschland ist ein Rechtsstaat und hat eine funktionierende Staatsmaschine und eine gute Polizei. Aber wird das reichen?"

    Wohl nicht. Und deshalb müssten auch jene "Eliten", die Forderungen nach Gerechtigkeit und Gleichheit für Relikte aus einem untergegangenen Zeitalter halten, durchaus ein Interesse daran haben, zumindest ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Integration zu erhalten.

    "Die soziale Unsicherheit kehrt zurück. In Zeiten des Wirtschaftswachstums allenfalls eine Randerscheinung, gefährdet sie heute den Fortbestand der Gesellschaft der Ähnlichen, die ihren Mitgliedern zwar keine absolute Gleichheit, wohl aber neben dem Schutz der Grundrechte auch soziale Absicherung garantierte. Was bedeutet es unter diesen Umständen, geschützt zu sein? Wie entsteht gesellschaftlicher Zusammenhalt, und wodurch wird er bedroht? Wie begegnet man der neuen sozialen Unsicherheit?"

    Auf solche Fragen, so die Hamburger Edition, suche der französische Soziologe Robert Castel in seinem Essay "Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat" eine Antwort. Barbara Eisenmann.

    Beitrag Barbara Eisenmann

    Der französische Soziologe Robert Castel, der vor einigen Jahren mit einer großen, umfangreichen Studie zur historischen Entwicklung der Erwerbsarbeitsgesellschaft auch hierzulande auf sich aufmerksam gemacht hat, hat sich nun in einem kleinen Buch mit der Frage der Rückkehr der sozialen Unsicherheit beschäftigt. Der deutsche Titel kommt dabei einigermaßen emphatisch daher: "Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat" heißt das Buch, in dem zwar an die Notwendigkeit einer Reformierung des Sozialstaats europäischer Prägung und damit auch an die Notwendigkeit von staatlich institutionalisierten sozialen Sicherungssystemen appelliert wird, und zwar mit aller Vehemenz, dann aber doch wenig Konkretes dazu zu erfahren ist.

    Zunächst stellt der Autor in einem langen historischen Exkurs dar, wie sich in der modernen Gesellschaft erst sehr langsam der Gedanke auch in der Praxis durchsetzen konnte, dass der Arbeiter als der Nichteigentümer in Zeiten unvorhersehbarer Notlagen zu seiner Existenzsicherung eines den Gesetzen des Marktes entzogenen sozialen Eigentums bedürfe. So war allmählich ein Rechtsanspruch entstanden auf eine ganze Reihe von sozialen Leistungen wie Unfall-, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung, allerdings zumeist gekoppelt an die Erwerbsarbeit. Heute, wo die Erwerbsarbeit auf dem Rückzug ist, sind diese staatlichen Sicherungsleistungen in Gefahr. Castel erörtert nun skizzenhaft die Gründe für die Rückkehr der sozialen Unsicherheit, also die Globalisierung, der Souveränitätsverlust des Nationalstaats gerade in seiner Funktion als Sozialstaat, die zunehmende Unterordnung der staatlichen Logik unter die Unternehmenslogik, auch die Veränderung von Berufen infolge neuer Technologien, und damit verbunden die Erosion der Gewerkschaften. Er kritisiert dabei immer wieder den Staat, der sich den Imperativen des Wirtschaftsliberalismus, also dem neoliberalen Dogma, gegenüber viel zu lax verhielte und Stärke im Ausüben seiner Autorität bloß mehr in Fragen der bürgerlichen Sicherheit zeige, also beispielsweise auf dem Feld der Kriminalitätsbekämpfung, statt sich der Frage des Zusammenhangs von bürgerlicher und sozialer Sicherheit zu stellen.

    Allerdings konstatiert Castel, dass die auf dem Solidarprinzip fußenden Sicherungssysteme erschüttert seien. Er sieht darin eine unumkehrbare Entwicklung, weil die historische Konfiguration von Industriekapitalismus und Nationalstaat sich mitten in einem fundamentalen Wandel befinde. Das klassische Sozialversicherungssystem, das in eben diesem Setting entstanden ist, in dem das Angestelltenverhältnis die Norm war, müsse sich entsprechend wandeln, sprich den flexiblen Erfordernissen anpassen, und das heißt, selbst flexibler werden. Darin sieht Castel die große gegenwärtige Herausforderung, für die es bislang allerdings kaum überzeugende Lösungsvorschläge gibt. Auch er selbst hat wenig zu bieten, außer rechtliche Kontinuität trotz Beschäftigungsdiskontinuität einzuklagen, mithin einen Rechtsanspruch auf Sicherheit auch für den mobilen Arbeitnehmer, der sich heute häufig zwischen Phasen der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit hin und her bewegt. Dass Castel dabei die Möglichkeit von Bürgergeld, also eines Sicherungssystems, das von der Erwerbsarbeit entkoppelt ist, überhaupt nur in einer Fußnote diskutiert, ist bezeichnend für die Blassheit seiner Reformvorschläge. Er selbst gibt am Ende den entscheidenden Hinweis, wenn er sagt, dass eine Beantwortung der vielen offenen Fragen, die er allerdings höchst kenntnisreich zu stellen weiß, davon abhinge, wie man die strukturelle Beschäftigungskrise interpretiere. Ob die zunehmende soziale Unsicherheit aufzuhalten sein wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Erwerbsarbeit gesichert werden kann oder nicht, schreibt er. Daher sieht er die Erwerbsarbeitsgesellschaft noch nicht an ihrem historischen Ende angelangt und scheint sogar auf eine Rückkehr der Vollbeschäftigung zu setzen. Da müssen Bearbeitungen der wirklich interessanten Fragen, die er aufwirft, wie beispielsweise die: "Ist die Arbeit wirklich die einzige 'Anpassungsvariable’, um die Profite zu maximieren?" dann leider auf der Strecke bleiben. Auswege aus der Krise oder gar ein neuer Wohlfahrtsstaat sind auch hier nicht in Sicht.

    Barbara Eisenmann über Robert Castel. "Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat". Der Essay ist in der Übersetzung von Michael Tillmann in der Hamburger Edition erschienen, 136 Seiten für 12 Euro.