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Robert Gellately: Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk.

Der kanadische Historiker Robert Gellately gilt als exzellenter Kenner der Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland. Weltweit hat er sich einen Namen gemacht als Gestapo-Experte. In seinem neuen Buch "Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk" hat der Autor eine Fülle von bislang unbekannten Dokumenten zutage gefördert, die den Umgang der Deutschen mit dem Nazi-Terror zum Teil in ein neues Licht stellen – zumindest in ein anderes Licht, als dies die Enkelgeneration glaubt wahrzunehmen aus den Erzählungen ihrer Angehörigen. Danach haben – laut einer Emnid-Umfrage – 26 Prozent der damals erwachsenen Bevölkerung Verfolgten geholfen. 13 Prozent waren im Widerstand aktiv. 17 Prozent haben immer den Mund aufgemacht, wenn es darum ging, Unrecht beim Namen zu nennen. Außerdem war lediglich ein Prozent der Bevölkerung an Verbrechen beteiligt. Antijüdisch sind ganze drei Prozent gewesen. So jedenfalls die Ergebnisse der Emnid-Studie. Man möchte glauben, das deutsche Volk sei zwischen 1933 und 45 ein Volk von Nazi-Gegnern gewesen. Da kommt Gellately zu anderen Ergebnissen. Renate Faerber-Husemann stellt sein neues Buch vor:

Renate Faerber-Husemann |
    Der kanadische Historiker Robert Gellately gilt als exzellenter Kenner der Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland. Weltweit hat er sich einen Namen gemacht als Gestapo-Experte. In seinem neuen Buch "Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk" hat der Autor eine Fülle von bislang unbekannten Dokumenten zutage gefördert, die den Umgang der Deutschen mit dem Nazi-Terror zum Teil in ein neues Licht stellen – zumindest in ein anderes Licht, als dies die Enkelgeneration glaubt wahrzunehmen aus den Erzählungen ihrer Angehörigen. Danach haben – laut einer Emnid-Umfrage – 26 Prozent der damals erwachsenen Bevölkerung Verfolgten geholfen. 13 Prozent waren im Widerstand aktiv. 17 Prozent haben immer den Mund aufgemacht, wenn es darum ging, Unrecht beim Namen zu nennen. Außerdem war lediglich ein Prozent der Bevölkerung an Verbrechen beteiligt. Antijüdisch sind ganze drei Prozent gewesen. So jedenfalls die Ergebnisse der Emnid-Studie. Man möchte glauben, das deutsche Volk sei zwischen 1933 und 45 ein Volk von Nazi-Gegnern gewesen. Da kommt Gellately zu anderen Ergebnissen. Renate Faerber-Husemann stellt sein neues Buch vor:

    Vieles, was der kanadische, in den USA lehrende Holocaust-Forscher Robert Gellately zusammengetragen hat, ist nicht neu. Immer wieder haben Historiker sich mit der Frage beschäftigt: Was wussten die Deutschen wann, und wie haben sie darauf reagiert? Und doch vertieft dieses Buch unser Wissen über die zwölf Jahre des Nationalsozialismus, räumt auf mit der bequemen Vorstellung, in einer brutalen Diktatur habe es praktisch keine Möglichkeit gegeben, Missbilligung und Protest zu formulieren. Und überhaupt hätte der so genannte "kleine Mann" nicht gewusst, was sich hinter den Mauern von Lagern und Gestapogefängnissen abspielte, denn aus guten Gründen sei das dem Volk verschwiegen worden. Das Gegenteil ist richtig und das macht diese umfangreiche Auswertung von Zeitungsartikeln, Gestapo-, Polizei- und Gerichtsakten auch heute noch schockierend: Vom ersten Tage an suchten die Nazis den Konsens mit der Bevölkerung und erhielten Zustimmung zu ihrer "Recht-und-Ordnung"-Politik, unter der in der ersten Phase vor allem politische Gegner wie die Kommunisten zu leiden hatten. Bis zum bitteren Ende habe es sich um eine "populistische Diktatur", um eine "Konsens-Diktatur" gehandelt, weist der Wissenschaftler nach.

    Viele Deutsche, und zwar nicht nur im konservativen, religiösen oder nationalsozialistischen Lager waren der Überzeugung, dass die liberale Weimarer Republik eine entartete Gesellschaft sei und Deutschland sich auf dem Weg ins Verderben befinde.

    Die von Heinrich Himmel schon Anfang 1933 angekündigten Polizeimaßnahmen, "hart, gerecht und ohne Sentimentalität", wie er in einem Interview sagte, fanden die Billigung der Mehrheit, ebenso die "Schutzhaft" für "Staatsfeinde". Allein 1933 wurden rund 100 000 Menschen ohne Gerichtsverfahren verhaftet und in Lager gesteckt, neben Kommunisten vor allem Gewerkschafter, Sozialdemokraten aber auch Anhänger liberaler oder christlicher Parteien. Die Mehrheit glaubte nur zu gerne, was ihnen in den zahlreichen Zeitungsberichten über die Lager vorgelogen wurde, nämlich dass es dort um die Erziehung zu Ordnung, Fleiß, harter Arbeit und gesundem Leben ging. Busweise wurden in den ersten Jahren Journalisten durch die Lager geschleust. Und sie schrieben, was von ihnen erwartet wurde. Das Konzentrationslager Dachau wurde beispielsweise in reich bebilderten Berichten als "eine Hoffnung für die Dachauer Geschäftswelt" gefeiert. Und eine der drei Lokalzeitungen freute sich darüber, dass das "mustergültige KL" die Stadt nun "weit über die Grenzen des Vaterlands bekannt" mache. Die Bevölkerung wusste dennoch mehr, denn schon 1933 kursierte in Bayern der Spottvers:

    Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm.

    Auch über Gerichtsverfahren, in denen drakonische Strafen für Kleinkriminalität verhängt wurden und über die ständig zunehmende Zahl von vollstreckten Todesurteilen berichteten die Zeitungen in aller Breite, ohne dass es zu Protesten kam. Die Brutalisierung der Gesellschaft, die Mitleidslosigkeit gegenüber Außenseitern und sozialen Problemfällen war eine bewusste Strategie des Regimes. Durch Zeitungen und Rundfunk wurde die Bevölkerung an Verhaftungswellen, Lager, massenhafte Todesstrafen, die Ausschaltung der deutschen Juden aus dem öffentlichen Leben gezielt gewöhnt. Ein ganzes Land schien in kürzester Zeit seine moralischen Maßstäbe zu verlieren und reagierte mit Gleichgültigkeit und ohne Mitleid auf Mord und Terror an ganzen Gruppen der Bevölkerung. So konnte Heinrich Himmler 1937 in einer öffentlichen Rede die gequälten Menschen verhöhnen:

    Von denen sitzt keiner zu Unrecht; es sind der Aushub von Verbrechertum, von Missratenen. Es gibt keine lebendigere Demonstration für die Erb- und Rassegesetze als so ein Konzentrationslager. Da sind Leute mit Wasserköpfen, Schielende, Verwachsene, Halbjuden, eine Unmenge rassisch minderwertiges Zeugs. Das ist da alles beieinander.

    Und das alles war in den Zeitungen nachzulesen in jenen Jahren und im Rundfunk zu hören. Gellately weist nach, wie breit die Bevölkerung in der "modernen Massenmediengesellschaft" informiert war, wie sorgfältig die Nazis darauf achteten, im Konsens mit der Mehrheit zu handeln. Für ihn war das erste Bindemittel zwischen Staatsgewalt und Bevölkerung, anders als Daniel Goldhagen das in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" sieht, nicht der Antisemitismus, sondern der Krieg gegen Kriminelle und gegen die Unangepassten in der Gesellschaft, also die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung. Dass es dabei nicht nach rechtstaatlichen Grundsätzen zuging, dass die Polizei ganz offen gleichzeitig als Ordnungsmacht, Richter und Henker agieren konnte, schien die Mehrheit der Deutschen nicht gestört zu haben. Im Gegenteil, das Ausmaß der Denunziationen bei Polizei und Gestapo, von Gellately schon in seiner Untersuchung "Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft" dokumentiert, zeigt die moralische Verrohung sogenannter ordentlicher Bürger. Diese gezielte Desensibilisierung gegenüber Unrecht und Leid hat , so argumentiert der Holocaust-Forscher schlüssig, den Boden für den Massenmord an den Juden und die Grausamkeit gegenüber Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern bereitet. Es ist wohl nicht übertrieben, von einer Komplizenschaft zwischen Regime und Bevölkerung zu sprechen, die selbst während des Bombenkrieges stand hielt. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sich vor aller Augen abspielten, wurden aus Gleichgültigkeit und sicher auch aus Angst ignoriert. Während des Krieges gab es beispielsweise in mehreren tausend Städten und Dörfern Lager. Die ausgemergelten Menschen in ihren Häftlingsuniformen wurden durch die Straßen an ihre Arbeitsstellen getrieben . Die Deutschen schauten - wie auch bei den Deportationen ihrer jüdischen Mitbürger - am Straßenrand zu. Die jahrelange Gehirnwäsche , die Gewöhnung an Polizeiwillkür, Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren, Drangsalierung von jüdischen Nachbarn, Denunziantentum, dazu der gern geglaubte Irrsinn von der rassischen Überlegenheit, führten zu Erbarmungslosigkeit gegenüber jenen, die nicht dazu gehörten, anders waren und damit minderwertig. Die Anfänge jener moralischer Verrohung sind nach Getlatelys Ansicht in der Darstellung von Konzentrationslagern und ihren Häftlingen in den Medien zu suchen.

    Was zu kurz kommt in dem aufschlussreichen Buch, ist die Sicht der schweigenden und damit zustimmenden Mehrheit selbst. Der Historiker Dieter Pohl vom Institut für Zeitgeschichte in München hat darauf hingewiesen. Zwar hatte die NS-Führung die Ansicht der Bürger stets im Auge, doch da die Meinungsforscher aufschrieben, was ihre Vorgesetzten lesen wollten, konstruierten sie diese "Volksmeinung" größtenteils selbst. Was die Menschen über das Regime wirklich dachten, bleibt weiter im Dunkeln. Auch die Entnazifizierung nach dem Krieg gibt darüber keine Auskünfte, zeigt sich dort doch das völlig schiefe Bild einer Bevölkerung, die aus verkappten Widerstandskämpfern bestand, nichts gegen Juden hatte, immer schon dagegen und nur unter Zwang in die Partei eingetreten war.

    Eine Rezension von Renate Faerber-Husemann. Es ging um das Buch von Robert Gellately: Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk. Erschienen ist es bei der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart. Das Buch hat einen Umfang von 456 Seiten und kostet 48 € 90.