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Robert N. Proctor: Blitzkrieg gegen den Krebs. Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich

Trotz der Massenentlassungen jüdischer Wissenschaftler erschien die überwältigende Mehrheit der medizinischen Zeitschriften bis 1938 ohne Unterbrechung und Einschränkung weiter, ja, es wurden sogar mehr als ein Dutzend neuer Journale gegründet. Nach Berechnungen füllten die deutschen medizinischen Zeitschriften in diesem Zeitraum mehr als hundert laufende Regalmeter - mehr als in irgendeinem anderen Land der Welt in dieser Zeit. Gefördert vom Regime erzielte medizinische Forschung in Deutschland beachtliche Ergebnisse auf Gebieten, die heute als sehr "fortschrittlich" und sozial verantwortlich anmuten: auf dem Gebiet der langfristigen Wirkungen von Umweltgiften oder der toxischen Effekte von Tabak, Schwermetallen, Asbest oder Alkohol. Nazi-Mediziner propagierten eine gesunde, ballaststoffreiche Ernährung, warnten vor den schädlichen Wirkungen des Alkohols und drängten erfolgreich auf die Einführung strenger Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz. Sie waren, wie der amerikanische Medizinhistoriker Robert Proctor jüngst belegte, auch Pioniere der Krebsvorsorge. Sie wiesen den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs nach, prägten den Begriff des Passivrauchens und führten die ersten öffentlichen Anti-Raucher-Kampagnen der Zeitgeschichte. Hinzuzufügen ist, dass die Beweggründe des Kampfes gegen den Krebs dieselben waren wie für die medizinischen Verbrechen: ein rassenhygienisches Utopia, reserviert für gesunde und immer gesündere Deutsche, unter Ausschluss von der Vernichtung preisgegebenen Kranken und "Blutsfremden".

Tillmann Bendikowski | 29.07.2002
    Trotz der Massenentlassungen jüdischer Wissenschaftler erschien die überwältigende Mehrheit der medizinischen Zeitschriften bis 1938 ohne Unterbrechung und Einschränkung weiter, ja, es wurden sogar mehr als ein Dutzend neuer Journale gegründet. Nach Berechnungen füllten die deutschen medizinischen Zeitschriften in diesem Zeitraum mehr als hundert laufende Regalmeter - mehr als in irgendeinem anderen Land der Welt in dieser Zeit. Gefördert vom Regime erzielte medizinische Forschung in Deutschland beachtliche Ergebnisse auf Gebieten, die heute als sehr "fortschrittlich" und sozial verantwortlich anmuten: auf dem Gebiet der langfristigen Wirkungen von Umweltgiften oder der toxischen Effekte von Tabak, Schwermetallen, Asbest oder Alkohol. Nazi-Mediziner propagierten eine gesunde, ballaststoffreiche Ernährung, warnten vor den schädlichen Wirkungen des Alkohols und drängten erfolgreich auf die Einführung strenger Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz. Sie waren, wie der amerikanische Medizinhistoriker Robert Proctor jüngst belegte, auch Pioniere der Krebsvorsorge. Sie wiesen den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs nach, prägten den Begriff des Passivrauchens und führten die ersten öffentlichen Anti-Raucher-Kampagnen der Zeitgeschichte. Hinzuzufügen ist, dass die Beweggründe des Kampfes gegen den Krebs dieselben waren wie für die medizinischen Verbrechen: ein rassenhygienisches Utopia, reserviert für gesunde und immer gesündere Deutsche, unter Ausschluss von der Vernichtung preisgegebenen Kranken und "Blutsfremden".

    So steht es in einem Aufsatz der Historikerin Margit Szöllösi-Janze über "Universitäten und Wissenschaften im Dritten Reich". Erschienen ist er in einem sehr nützlichen Sammelband, den Bernd Sösemann bei der DVA herausgebracht hat. "Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft - Einführung und Überblick" ist das Werk überschrieben, und es versammelt kurze, auf dem jeweiligen Stand der Forschung argumentierende Beiträge zu Themen wie "Der NS-Film" oder "Wunschbilder des Nationalsozialismus in Kultur und Künsten". Die von Margit Szöllösi-Janze erwähnte Studie über die nationalsozialistische Krebsforschung ist jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen.

    Auf den ersten Blick scheint dieses Buch die unsägliche Debatte um das angeblich Moderne des Dritten Reiches wieder aufleben zu lassen. Eine Debatte, die zuweilen aus zweifelhaften Motiven und außerdem ohne wirklichen Ertrag für unser historisches Wissen geführt wurde. In seiner Studie "Blitzkrieg gegen den Krebs" untersucht Robert N. Proctor gesundheitspolitische Aspekte des NS-Staates, die aus heutiger Perspektive angeblich "fortschrittlich" und - so verspricht es der Klappentext in erschreckender Sorglosigkeit - "sozial verantwortungsvoll" gewesen sein sollen. So fragt der Autor eingangs nach den vermeintlichen Leistungen des NS-Systems:

    Wer hat schon davon gehört, dass die Nationalsozialisten eine der weltweit ambitioniertesten Kampagnen gegen den Krebs führten, in deren Verlauf sie bereits damals Beschränkungen in der Verwendung von Asbest und Rauchverbote erließen sowie krebsauslösende Pestizide und Lebensmittelfarben verboten?

    Fragen, die zweifelsohne zunächst einmal neugierig machen. Der Autor beginnt ihre Klärung mit der Betrachtung der deutschen Krebsforschung, die lange vor 1933 großes internationales Ansehen genoss. Sie erfuhr nach der Machtübernahme eine neue Schwerpunktsetzung: Jetzt sollte vor allem die Vorbeugung gegen die bereits damals weit verbreitete Krankheit im Vordergrund der Bemühungen stehen. Krebs galt - und das bei weitem nicht nur den Nationalsozialisten - als Ausdruck einer angeblich "unnatürlichen" Zivilisation, eines liberalen, modernen Zeitalters, das man nun zu überwinden glaubte. Ebenso wollte man den Krebs als Symbol dieser Zeit überwinden. Dazu sollte in erster Linie eine gesündere Ernährungsweise dienen. Es setzte eine Aufklärungskampagne ein, die sich mühelos in die Vorstellung von der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" einpasste. Das Ziel war ein gesundes Volk, und diesem Ziel - so forderte es ein zeitgenössischer Propaganda-Slogan - habe sich der Einzelne unterzuordnen:

    Dein Körper gehört deiner Nation! Dein Körper gehört dem Führer! Du hast die Pflicht, gesund zu bleiben! Ernährung ist keine Privatsache!

    Die Ernährung wurde zu einer originären Angelegenheit des totalen Staates erklärt; er bestimmte, was gesund war für die Deutschen. Die sollten fortan beispielsweise bevorzugt Nahrungsmittel aus - so wörtlich - echtem "Schrot und Korn" zu sich nehmen, sich ausreichend bewegen und auf den übermäßigen Genuss von Alkohol und Tabak verzichten. Diese Vorgaben, das macht der Autor immer wieder deutlich, folgten zugleich dem Willen, dass mit dem finanziellen und - das klingt in diesem Zusammenhang erst richtig schrecklich - mit dem humanen Potenzial des Volkes sorgsam umgegangen werden sollte. Zuweilen allerdings versuchte die Propaganda für gesunde Ernährung schlicht die nicht immer ausreichende Versorgung der Bevölkerung zu kaschieren. Dies galt vor allem nach Beginn des Krieges. Etwa bei der Kampagne gegen den Fleischkonsum, die zuweilen mit dem Kampf gegen übermäßige Genüsse einherging:

    Es gibt Menschen, die lassen sich von ihrem Magen regieren. In ihrer Gier verlangen sie sowohl nach Gulasch wie nach einer großen Portion geschlagener Sahne, bevor sie gesättigt sind. Aber wir fleißigen Kameraden deutschen Blutes wissen, was auf dem Spiel steht! Wir wissen, dass sich der ernsthafte und hart arbeitende Deutsche nicht von geschlagener Sahne und Bananen ernährt.

    Ob beispielsweise Hitler in größerer Menge Bananen konsumiert hat, wissen wir nicht; erscheint aus heutiger Sicht auch eher unerheblich. Doch während des Dritten Reiches war das Ernährungsverhalten des Diktators wesentlicher Bestandteil der propagierten Ernährungspolitik. So schwadronierte etwa Reichsjugendführer Baldur von Schirach über Hitlers angeblich so gesunde Lebensweise, die der deutschen Jugend ein Vorbild sein sollte:

    Unser Führer Adolf Hitler trinkt keinen Alkohol und raucht nicht. Ohne andere im geringsten in dieser Richtung zu bevormunden, hält er sich eisern an das selbstauferlegte Lebensgesetz. Seine Arbeitsleistung ist ungeheurer.

    Selbstverständlich wollten Hitler und seine Führungsclique die Menschen in dieser Hinsicht bevormunden. Sie wollten ihnen mit Blick auf ein erhöhtes Krebsrisiko vor allem den Genuss von Alkohol und Tabak gründlich austreiben, ohne aber - denn hier fürchteten die Nazis Sympathieverluste - als Genussverächter dazustehen. So entwarf und nutzte die NS-Propaganda das Bild vom staatszersetzenden Schädling: Der faule, rauchende und trinkende Geselle wurde als Gegenbild zum fleißigen und gesunden Nationalsozialisten konstruiert. Der Autor zeigt eindrucksvoll, dass dies im besonderen Maße für die Frauen galt, an deren gesunden Körper der NS-Staat aus Gründen möglichst hoher Geburtenraten ein besonderes Interesse hatte:

    Die Vorstellungen bezüglich der Geschlechter vermengten sich mit anderen Bildern wie den Stereotypen von Rasse und sozialer Herkunft. Rauchen wurde nicht nur mit sexueller Verderbtheit und Zügellosigkeit assoziiert, sondern auch mit Kommunismus und Judaismus. Bei jüdischen und kommunistischen Frauen hielt man es für besonders wahrscheinlich, dass sie rauchten und ihre schlechten Gewohnheiten anderen aufdrängen würden.

    Doch die NS-Propaganda blieb über weite Strecken erfolglos: Der Alkohol- wie der Tabakkonsum nahmen im Laufe der 30er Jahre mit Stärkung der allgemeinen Kaufkraft zu, eine Entwicklung, die erst durch kriegsbedingte Versorgungsengpässe gestoppt wurde. Was blieb, war die breite Kampagne zur Vorbeugung von Krebs, wenngleich - das kann der Autor klar nachweisen - keine einheitliche nationalsozialistische Politik in dieser Frage existierte. Vielmehr tummelten sich auf diesem Feld verantwortungsvolle Wissenschaftler und Ärzte ebenso wie romantische Spinner und Spiritisten oder auch selbsterklärte Fortschrittsfreunde, die Radiumtherapien als Allheilmittel anpriesen. Der NS-Staat war in dieser Hinsicht kein monolithisches Gebilde. So gesehen, hat Proctor einerseits das durchaus Systemtypische anhand des Kampfes gegen den Krebs herausgearbeitet. Andererseits kann er schließlich das spezifisch Nationalsozialistische an diesem Kampf benennen und somit der - allerdings selbst gestellten - Falle nach einer vermeintlichen Modernität entkommen. Übrigens ist das Werk auch nicht jene kritische Geschichte der Wissenschaft im Dritten Reich, die der Autor eingangs viel zu leichtsinnig verspricht, weil es zu wenig die Mechanismen des Wissenschaftsbetriebs beschreibt. Aber das macht eigentlich nichts. Denn dafür ist ein Buch herausgekommen, das ausgesprochen anschaulich und gut lesbar zuverlässig über die Funktionsweise des Dritten Reiches Auskunft gibt. Über Propaganda, Ideologie, über politische Bilder von Krankheit und Gesundheit. Das ist keine geringe Leistung, deshalb: ein empfehlenswertes Buch.

    Tillmann Bendikowski über Robert N. Proctor: "Blitzkrieg gegen den Krebs. Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich". Die Studie ist erschienen im Verlag Klett-Cotta, umfasst 448 Seiten und kostet Euro 25.50.