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Robert Rosentreter: Im Seegang der Zeit. Vier Jahrzehnte Volksmarine

Es war einmal eine deutsche Marine, die im Ostseeraum keine unbedeutende Rolle spielte. Sie nannte sich "Volksmarine" und ging unter, als das Volk sich erhob und die Deutsche Demokratische Republik von der Landkarte Europas verschwand. Es gibt eine ganze Reihe von Büchern über die Volksmarine. Eines der lesenswertesten und kurzweiligsten hat Robert Rosentreter geschrieben. Als Militärjournalist hat er die Seestreitkräfte der DDR auf allen Seewegen - und natürlich auch an Land - begleitet. "Im Seegang der Zeit - Vier Jahrzehnte Volksmarine" - eine Rezension von Peter Joachim Lapp.

Peter Joachim Lapp | 12.03.2001
    Es war einmal eine deutsche Marine, die im Ostseeraum keine unbedeutende Rolle spielte. Sie nannte sich "Volksmarine" und ging unter, als das Volk sich erhob und die Deutsche Demokratische Republik von der Landkarte Europas verschwand. Es gibt eine ganze Reihe von Büchern über die Volksmarine. Eines der lesenswertesten und kurzweiligsten hat Robert Rosentreter geschrieben. Als Militärjournalist hat er die Seestreitkräfte der DDR auf allen Seewegen - und natürlich auch an Land - begleitet. "Im Seegang der Zeit - Vier Jahrzehnte Volksmarine" - eine Rezension von Peter Joachim Lapp.

    Den "Marsch der Volksmarine" hat der Autor und Ex-Fregattenkapitän der 'sehr anderen deutschen Marine' wohl oft und gerne gehört. Der heute 70-Jährige war lange Zeit der Marinekorrespondent der DDR-Wochenzeitung "Volksarmee" und hat jetzt mit seinem Buch der kleinsten Teilstreitkraft der Nationalen Volksarmee ein Denkmal gesetzt. Die 'Geschichten und Anekdoten' über vier Jahrzehnte DDR-Marine geben einen äußerst informativen, farbigen und z. T. auch sehr humorvollen Einblick in das Innenleben der Volksmarine. Von der einst verordneten Enge und Strenge marxistisch-leninistischer Ideologie ist bei Rosentreter kaum noch etwas zu verspüren. Da hat sich einer freigeschrieben vom Frust der verlangten Parteilichkeit zu DDR-Zeiten ohne die eigene Lebensleistung und die seiner Kameraden zu verleugnen. Nicht immer kann man ihm dabei folgen, aber doch - wenn man guten Willens ist - vieles nachvollziehen. Zum Beispiel den Stolz auf die eigenen seemännisch-militärischen Leistungen, vorgezeigt auf publikumswirksamen Flottenparaden:

    O-Ton - Reportage Rundfunk der DDR: "Ein imposantes Bild: an den Bordseiten die Hangare, die Startrampen. Das sind Boote sowjetischer Konstruktion. Sie sind so ausgelegt, dass sie allein oder im Zusammenwirken mit anderen Kräften Überwasser-Kampfschiffe vernichten können. Alle Gefechtsschießen absolvierten diese Boote mit der Note Eins. Das heisst, jede Rakete hat getroffen. Aufgrund ihrer geringen Abmessungen, ihrer hohen Geschwindigkeiten auf See, wird das Ausmachen dieser Schiffstypen sehr, sehr erschwert. Sie eignen sich besonders zum Einsatz auch in engen Seegebieten. Ihre Bewaffnung gestattet es, Ziele auf große Entfernungen zu vernichten - ohne selbst in den Bereich der gegnerischen Abwehr und der gegnerischen Artillerie zu gelangen."

    Vom "Ministerium für Landstreitkräfte", wie die Volksmariner das DDR-Verteidigungsministerium in Strausberg ironisch bezeichneten, wurden derartige "Wasserspiele" ungern zugelassen. DDR-Marineoffiziere fanden selten Gehör und Anerkennung bei den Generalen in 'Steingrau'. Mit Ausnahmen. Eine davon: der Admiral Wilhelm Ehm, Mitglied des Zentralkomitees der SED, zugleich einer der stellvertretenden DDR-Verteidigungsminister. Das 'Weltbild' dieses Mannes entsprach den damaligen Anforderungen:

    "Wie die Nationale Volksarmee generell, so wurden auch ihre Seestreitkräfte von Anfang an als eine Koalitionsflotte aufgebaut. Das entsprach den gegebenen militärischen und militärpolitischen Notwendigkeiten. Nach der durch die Westmächte vollzogenen Spaltung Deutschlands, der Gründung der NATO mit den USA an der Spitze und der Einbeziehung der BRD in dieses imperialistische Militärbündnis, standen wir vor der Notwendigkeit durch kollektive Maßnahmen aller sozialistischen Staaten unsere Errungenschaften zu sichern. Die Übernahme sowjetischer Technik und ihre schnelle Beherrschung mit Hilfe sowjetischer Freunde war der Beginn. Es folgten die ersten Schritte in der Organisation des Zusammenwirkens in der Gefechtsausbildung, deren schließliche Höhepunkte solche bedeutenden Manöver wie 'Waffenbrüderschaft 1970 und 1980' waren."

    O-Ton - Reportage Rundfunk der DDR: "Kombinierte Luft- und Seelandeoperationen im Rahmen des Manövers 'Waffenbrüderschaft'. Das, was wir hier gerade erleben, erwartet jeden Aggressor, jeden, der es wagt, die Grenzen der sozialistischen Länder anzutasten, nämlich nicht mehr aber auch nicht weniger als seine völlige Vernichtung, und zwar auf seinem eigenen Territorium."

    Admiral Wilhelm Ehm, ein beleibter Mann, Jahrgang 1918, wurde verehrt, geachtet oder wenigstens akzeptiert. Rosentreter:

    "Die Entwicklung zu einer beachtenswerten "Randmeermarine" ... hatte dieser Mann in den 28 Dienstjahren als Chef maßgeblich mitbestimmt und geprägt. Er war damit länger im Amt als Tirpitz, der Schöpfer der Kaiserlichen Flotte. Man registrierte das in der Volksmarine teils ironisch, weil der Vergleich wohl allzu sehr hinkt, jedoch auch mit Hochachtung."

    Der Vergleich erscheint in der Tat gewagt. Tirpitz konnte gestalten, Ehm allenfalls das durchführen, was in Moskau, Leningrad und Ostberlin beschlossen wurde. Bis Mitte 1953 hatte man große Pläne. Aufgrund wirtschaftlicher Probleme und als Folge des Volksaufstandes am 17. Juni trat man dann kürzer. Der


    "Die Träume von einer großen Flotte der DDR waren Anfang der 50er Jahre vorüber. Die U-Boot-Schule in Saßnitz-Dwasieden wurde Knall auf Fall geschlossen. Der Lehrbetrieb hatte gerade erst im Januar 1953 begonnen.... Fünf ehemals deutsche Unterseeboote des Typs VII C, den Sowjets als Kriegsbeute zugefallen, hatte die künftige DDR-Unterseewaffe als Grundstock erhalten sollen."

    Größere Überwassereinheiten, U-Boote, Marineflieger und Marineinfanterie, alles das hatte der "große Bruder", die Sowjetflotte. Eine ausgewogene Flotte also. Dazu reichten die materiellen Möglichkeiten der DDR nicht oder nur ansatzweise. Von Anfang an litt man auch unter Rekrutierungsproblemen.

    "Was der jungen Marine fehlte, waren erfahrene Ausbilder. Es gab keinen einzigen Stabs- noch Admiralstabsoffizier. Unter den wenigen ehemaligen Kriegsmarine-Angehörigen, kaum mehr als 500 Mann, darunter nur 39 Offiziere bis zum Dienstgrad Kapitänleutnant, gab es so gut wie keine gestandenen Lehrer, keine gewachsenen Kommandeure von Flottenverbänden, keine Experten für Bewaffnung, Navigation, Nachrichtendienst, Logistik."

    Da war die westdeutsche Bundesmarine besser dran. Ihre Admirale und Stabsoffiziere in der Aufbauphase kamen alle aus der alten Kriegsmarine mit entsprechenden Erfahrungen und Kenntnissen. Diese Bundesmarine stand immer im Mittelpunkt des Interesses der 'sehr anderen deutschen Seestreitkräfte', man beobachtete sie genau:

    "Der Dienst auf 'Vorposten 72', am Ausgang des Fehmarn Belt, gehörte seit Ende der 1950er Jahre zu den Alltagsaufgaben der Volksmarine.... Die Entfaltung eines Beobachters direkt vor der bundesdeutschen Haustür führte zu Gegenreaktionen der Bundesmarine. Es begann mit kurzen Stippvisiten ihrer Schnellboote: Heranfahren, nach dem Rechten, besser gesagt, 'nach den Linken schauen', Ablaufen. Bald fanden die Schnellbootsbesatzungen der Raubtierklasse ihren Spaß daran, die rote 'Krake' (Typbezeichnung von Minenleg- und Räumschiffen) in hoher Fahrt möglichst dicht zu umkreisen und sie 'tanzen' zu lassen. Das zwang die Volksmarinekommandanten, Anker auf zu gehen, wenn sich ein 'Jaguar' näherte..."

    "Jaguar", das war die Typbezeichnung für mehr als 40 Knoten laufende westdeutsche Schnellboote, die solche Aktivitäten als 'TN', als "Technische Nahaufklärung" bezeichneten. 'Anker auf' gingen die Volksmarinefahrzeuge aber auch deshalb, weil diese 'Nahaufklärung' eigene Leute zur Republikflucht verleiten konnte. Der Umgang der beiden deutschen Marinen auf See war bis Anfang der 70er Jahre rauh und selten herzlich, man pöbelte und frotzelte. Eher harmlos war so etwas:

    "Auf den an sich höflichen, doch mit einem ironischen Unterton versehenen Westwunsch 'Auf Wiedersehen und gute Wache!' folgte die klassenkämpferische Ost-Antwort: 'Wache für den Sozialismus ist immer gut!'"

    Ungnädig kommentierten DDR-Marine-Journalisten Bundesmarine-Aktivitäten in der Ostsee überhaupt:

    O-Ton - Reportage Rundfunk der DDR: "Im Belt und in der Kieler Bucht wie in der gesamten Ostsee aktiviert sich die NATO zunehmend. Unsere wissen das, halten die Augen offen. Ein U-Jäger der Bundesmarine. Welchen Auftrag er wohl hat hier oben? - Rostock und Szczecin um vieles näher als Kiel. Die DDR liegt an der Nahtstelle der mächtigsten Bündnissysteme unserer Zeit. Die andere Seite im Blick zu behalten, das ist für unsere Vorpostenschiffe und ihre Besatzungen ein Stück militärischer Alltag."

    Zu diesem 'Alltag' gehörte es zu DDR-Zeiten immer, den Volksmarineangehörigen eine Hass- und Feindbilderziehung zu vermitteln, ein Spitzelsystem des Ministeriums für Staatssicherheit auch in der Flotte zu unterhalten, vor allem aber - durch Kräfte der 'Grenzbrigade Küste' - die Flucht über die Ostsee zu unterbinden. Rosentreter geht diesen Themen nicht aus dem Wege, auch wenn er hier vielleicht ein wenig zu nachsichtig formuliert. Immerhin räumt er ein:

    "Die Sicherung der Staatsgrenze bestand zum großen Teil darin, die 'Republikflucht' von DDR-Bürgern zu verhindern. Doch an der rund 350 Kilometer langen Außenküste der DDR war alles anders als in Berlin oder entlang der Westgrenze..."

    In diesem Zusammenhang weist der Ex-DDR-Marine-Journalist darauf hin, dass es an der Seegrenze der DDR Tote und Verletzte durch Schusswaffeneinsatz nicht gegeben habe. Tote gab es dennoch: Mehr als 170 Menschen kamen seit dem 13. August 1961 bei der Flucht über See durch Ertrinken ums Leben. Insgesamt liefert der Fregattenkapitän außer Diensten ein sicher weitgehend realistisches Bild der Volksmarine. Und er informiert - eher beiläufig - darüber, wie diese Marine überhaupt ihren Namen erhielt:

    "Die Frau Walter Ulbrichts, Lotte Ulbricht, hatte während eines Besuches in Warnemünde geäußert, sie fände die Bezeichnung 'Seestreitkräfte' unpassend, vor allem zu lang. Konteradmiral Neukirchen, der mit seiner Frau Irmgard die Ulbrichts begleitete, meinte daraufhin: 'Ich wüsste einen besseren Namen, der auch in der Tradition steht: Volksmarine!' Ein Vorschlag, auf den Lotte Ulbricht einging. 'Was denkst Du, Walter?' - Ulbricht dachte wie seine Frau, stimmte sofort zu und gab die nötigen Weisungen..."

    Der Vorschlag kam von Admiral Neukirchen, dem langjährigen Stabschef der DDR-Marine, der - man glaubt es kaum - 1944/45 als "Nationalsozialistischer Führungsoffizier" in der Kriegsmarine diente. Robert Rosentreter, Diplom-Journalist und promovierter Historiker, hat mit dem vorgestellten Werk allen denen ein Geschenk gemacht, die Lebensleistung zu DDR-Zeiten erbrachten, einschließlich des Dienstes in der Flotte, in der Nationalen Volksarmee. "Im Seegang der Zeit" ist die Volksmarine zwar untergegangen, doch ihre Angehörigen können mehrheitlich erhobenen Hauptes auf diese Jahre und Jahrzehnte zurückblicken. Auf der "falschen Seite" gestanden zu haben, muss kein Makel sein.

    Peter Joachim Lapp über Robert Rosentreter: Im Seegang der Zeit. Vier Jahrzehnte Volksmarine, Ingo Koch Verlag, Edition Konrad Reich, Rostock 2000.