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Robin Robertson: "Wie man langsamer verliert"
Ein Veteran, ein Storyboard

Mit dem Erzählgedicht "Wie man langsamer verliert" hat es der schottische Lyriker Robin Robertson 2018 bis auf die Shortlist des Booker Prizes geschafft. Der atemberaubende Mix aus Prosa und Lyrik liest sich wie das Storyboard eines Noir-Films, die Handlung spielt im Amerika der Nachkriegszeit.

Von Michael Watzka | 15.03.2021
Ein Portrait des Schriftstellers Robin Robertson und das Cover seines Romans "Wie man langsamer verliert"
Halb Versroman, halb Film Noir: Robin Robertsons "Wie man langsamer verliert" (Cover Hanser Verlag / Autorenportrait Copyright: Niall McDiarmid)
New York am Ende der 1940er Jahre. Walker ist Mitte 20, ein D-Day Veteran. Ihn plagen Erinnerungen an den Krieg und an die Heimat, ein Fischerdorf in Nova Scotia, weit im kanadischen Norden. Dagegen der urbane Müll, die Docks, der Dreck, der Krieg in seiner Gegenwart. Menschen, die sich wie Ameisen in den Straßenschluchten verlieren. Und mitten unter ihnen der Mann, der stets nur mit seinem Nachnamen genannt wird, Walker.
Das Gehen steckt bei Walker bereits im Namen. Wie ein Schatten schält sich die Hauptfigur von Robin Robertsons neuem Versroman zu Beginn aus den kurzen, schlaglichtartigen Szenen. Mitgehörtes, eine Ansicht, Dialoge und Erinnerungen, dann ein Cut. Der Protagonist selbst rutscht kurz ins Bild, dann verlieren wir ihn auch schon wieder aus dem Fokus:
"Er ging stundenlang –
folgte dem Glühen
im Himmel über Uptown, von dem er gehört hatte,
es seien die Lichter von Times Square –
sein Schatten wandert mit ihm
unter den Straßenlampen: dicht, fest,
sehr schwarz und scharf, verkürzt. Doch schon
beginnt er sich zu strecken, während er geht, verblasst
zu einem schwachen Fleck. Dann
unter die nächste Laterne, Schatten
wieder dunkelnd, klar und hart.
Wer er wirklich ist oder war,
liegt irgendwo dazwischen."
Wie ein Feuer brennt in Walker die Straße. Er erläuft sich diese Stadt und wandert weiter, stets verfolgt ihn dabei sein Schatten. Denn die Bilder aus dem Krieg, die Toten wird er nicht mehr los. Ein lautes Geräusch genügt und Walker ist zurück in der Normandie.

Die Veteranen, ohne Ort

Schnitt. Ein neues Kapitel. Walker ist jetzt Anfang dreißig, vom New York der 40er Jahre hat es ihn an die andere Küste verschlagen, ins Los Angeles der frühen 1950er Jahre. Wieder ist er irgendwo dazwischen. Die McCarthy-Ära. Der Boom des Films. Der Jazz.

Es ist Raymond Chandlers LA wie man es aus dem Film "Chinatown" kennt, schwach erkennbar und schon wieder im Auflösen begriffen, gerade als Walker es sich erläuft. Denn das Automobil verdrängt die Menschen. Ganze Viertel werden dem Erdboden gleichgemacht.
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Neue Freeways verbinden die Suburbs mit dem Z entrum, schnüren den Mittellosen im alten Downtown die Luft ab. Jeder sechste Angelino ist ein obdachloser Ex-Soldat. Wie Walker haben sie gekämpft, in der Normandie oder in Korea. Haben, wie es hieß, die freie Welt verteidigt. Doch jetzt ist für sie kein Platz in der schönen neuen Freiheit. In Walkers Notizbuch verschwimmen Erinnerung und Reflexion:
"Ich war im Hochland in den Höhlensystemen spazieren, als ich es fand:
ein Knochenmesser, im sechsten Jahrhundert hingelegt und in diesem wieder aufgehoben.
Amerikanische Städte haben keine Vergangenheit, keine Geschichte. Manchmal denke ich, die einzige amerikanische Geschichte existiert auf Film. August 53"

Bilder der vergangenen Welt

Walkers LA ist eine kleine Welt. Große Teile der Handlung s pielen in den Straßen des untergegangenen Viertels Bunker Hill. Heute findet man dort Hochhäuser und Parkplätze. Im Buch erinnern Fotos und eine Karte an alte Straßentunnel, an Treppen und Gebä ude. Behutsam beschwört Robertson das Bild dieser vergangenen Welt herauf. Wie in den Gedichten Lawrence Ferlinghettis flimmert hier das Amerika der 1950er Jahre, das Viertel und seine Bewohner leuchten wie die Figuren in den Texten Patrick Modianos. Die Zeit vergeht. Und Walker zieht es weiter:
"Im Licht der Dämmerung
lag etwas vertraut Rosiges, eine Reinheit in der Luft.
Er spähte durch die Jalousie: Da lag Schnee auf Angels Flight
Los Angeles war weiß,
so weiß wie City Hall.
Und er spürte sie wieder, diese Hitze in sich: die Straße.
Unter der Erde wie ein Kohlebrand."
Walker verschlägt es nach San Francisco. Für eine Zeitung schreibt er über die Obdachlosen. Bei seiner Rückkehr hat sich das Viertel verändert, ganze Häuserblocks fehlen.

Sonnenaufgänge und Brandbomben

Die Handlung umfasst ein knappes Jahrzehnt. Immer wieder sehen wir Walker aus dem Schatten der Nachkriegsgeschichte heraustreten. In kurzen, prägnanten Schnappschüssen fängt Robertson seinen Helden hier und da wie mit einer Filmkamera ein, manchmal knistert der Film grob und körnig, die Kamera wackelt, und manchmal glänzt es ganz hell und klar, etwa in der Erinnerung an den Sonnenaufgang über Nova Scotia. Oder an die Brandbomben in der Normandie. Immer wieder kehrt Walker im Kopf zu den traumatischen Erlebnissen zurück:
"Der Deutsche in Nijmegen, in den er
sein Bajonett gestoßen hatte, seine Lunge japste –
diese Minuten, in denen er ihn langsam in sein eigenes Blut sinken sah.
Was er gesehen hatte. Was er getan hatte."
Tagebucheinträge, Briefe, Gesprächsfetzen. Wie das Storyboard eines Films kann man Robertsons gut 230 Seiten langen Text lesen. Kein Erzähler funkt hier dazwischen, wenig Kontext gibt es, kaum Beschreibungen, nur Darstellung." The Long Take" lautet der Titel des englischen Originals, die lange Einstellung, und wie die lange, wackelnde Kameraeinstellung eines Noir-Streifens der Zeit wirkt stellenweise auch das Buch in seinem Mix aus freien Versen, Dialog und Prosa.

Kritik am paranoiden Amerika

Robertsons Sozialkritik am konservativen, paranoiden Amerika der 1950er Jahre hat mit dem Deutschland der Weimarer Jahre sowie mit Trumps Amerika gleich zwei Bezugspunkte. Denn je mehr die Gegenwart der Zukunft weicht und Bunker Hill dem Erdboden gleichgemacht wird, desto mehr flüchtet Walker sich in die Vergangenheit und den Alkohol:
"Er wollte Delirium und wollte es jetzt,
trank einen im Stehen in jeder Bar,
zog durch Downtown Block um Block durch neues
Neongeplärr. Straßenlaternen, Scheinwerfer
und Schaufenster, alles
verwischt, als wär’s überbelichtet:
flackernde Lichtspuren in Rot, Grün,
Weißgold – wie bei Jackson Pollock
diese Lichtschweife
durch Menschenströme, auf die Netzhaut flutend."

Widerstand gegen das Stromlinienförmige

Robertsons Schöpfung ist zugleich das Porträt einer Zeit als auch das eines Mannes. Walker ist sein Name, aber genauso geht es hier um das Gehen als Konzept, das Mäandern als eine Lebenshaltung, eine Idee. Oft fühlt man sich an die Prosa Jörg Fausers erinnert oder an Brechts Lyrik der Großstädte. Walker ist ein Chamäleon, ein Verlorener, sein Durch-die-Städte-Streifen ein Widerstand gegen alles Stromlinienförmige, Einheitliche, Effiziente im schönen neuen Amerika.
Und genau das lässt sich auch über Robertsons unkonventionelle Erzählweise sagen. Sie verbindet Episches, Romanhaftes, Filmisches und Lyrisches zu einem ungewöhnlichen und mitreißenden Narrativ. Diesen Flow, den Slang der Zeit und die zugleich dichten poet ischen Bilder erfasst Anne Kristin Mittags grandiose Übersetzung aufs Genauste. Auf eine zweisprachige Ausgabe verzichtet man da gerne.
Robin Robertson: "Wie man langsamer verliert"
Aus dem Englischen von Anne Kristin Mittag
Hanser Verlag, München
256 Seiten, 25 Euro