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Rock und Revolution auf der Wiese

Das Woodstock-Museum in der Nähe von New York City lässt die wilden 60er-Jahre wieder auferstehen und erzählt die Geschichte der "Three Days of Peace and Music".

Von Tom Noga | 09.08.2009
    "This is about at of us. I love you people!”"

    ""I had a dream last night
    What a lovely dream it was
    I dreamed we all were alright
    Happy in a land of Oz"

    Das Woodstock-Museum thront auf einem Hügel in den Catskills, einem Mittelgebirge, zwei Autostunden nördlich von New York City: ein lang gestreckter Steinbau mit einem Aufbau aus Zedernholz, der an eine Pagode erinnert. Auf der Stirnwand im Eingang prangt eine überdimensionale Version des roten Festivalplakats, mit dem petrolfarbenen Gitarrenhals, auf dem eine weiße Taube sitzt, und dem berühmten Motto: "Three Days of Peace and Music."

    "Die ursprüngliche Idee war, mit diesem Museum an Woodstock zu erinnern. Aber wir haben bald erkannt, dass wir den Bogen weiter spannen müssen. Die 60er-Jahre waren eine fruchtbare Dekade. Die Dinge haben sich auf der politischen, der sozialen und der familiären Ebene verändert. Das wurde in der Mode, in der Musik und in den Beziehungen der Leute zueinander reflektiert. Das hat die Bühne für Woodstock bereitet."

    Wade Lawrence, der Kurator, führt hinein ins Woodstock-Museum. Er trägt einen anthrazitfarbenen Designeranzug und eine randlose Brille. In der ersten Sektion, erläutert er, geht es ausschließlich um die 60er-Jahre. In Musikboxen lassen sich die Hits jedes einzelnen Jahres anhören, eine Zeittafel listet die Ereignisse der Dekade in chronologischer Reihenfolge auf: von der Wahl John F. Kennedys über den Vietnamkrieg und die Bürgerrechtsbewegung bis zum Raumfahrtprogramm, von Showmaster Ed Sullivan über Monumentalfilme wie "Spartacus" bis zum Sommer der Liebe 1967 in San Francisco. Ein bisschen wahllos steht all das nebeneinander, aber vermutlich ist das Leben so.

    "Die 60er-Jahre begannen als Fortsetzung der 50er. Und die 50er waren sehr beschaulich, die Familie stand über allem. Wenn es Probleme gab, in der Welt oder zu Hause, haben wir nicht darüber geredet. Es galt, anständig zu sein und zu tun, was deine Eltern dir sagten. Aber im Laufe der 60er fingen Jugendliche an, die Autorität ihrer Eltern und der Regierung anzuzweifeln. Das hatte viel mit Vietnam zu tun. Der Krieg war unpopulär und wir hatten Wehrpflicht, jeder 18-Jährige musste also damit rechnen, als Soldat in Südostasien zu landen."

    Dem Jahr 1968 ist eine separate Ausstellung gewidmet. Ein achtminütiger Film erinnert an die Ermordung von Martin Luther King und Robert Kennedy und den Wahlerfolg des erzkonservativen, korrupten Republikaners Richard Nixon.

    "1968 war kein angenehmes Jahr, mit zwei schwerwiegenden politischen Morden und den Krawallen beim Wahlparteitag der Demokraten. Die Leute waren sehr pessimistisch, was die Zukunft anging. Aber ein Jahr später, in Woodstock, ist dieses Gefühl einem Optimismus gewichen. Das war erfrischend. Es hat uns wieder aufgerichtet."

    "I'm going up the country, baby, don't you wanna go
    I'm going up the country, baby, don't you wanna go
    I'm going to some place where I've never been before
    I'm going, I'm going where the water tastes like wine
    I'm going where the water tastes like wine
    We can jump in the water, stay drunk all the time”"

    "Goin' Up the Country” von der Blues-Rock-Band "Canned Heat": raus auf das Land, wo das Wasser wie Wein schmeckt, wo ich hineinspringen und die ganze Zeit trunken vor Glück sein kann. "'Canned Heat' haben den Geist der Zeit perfekt auf den Punkt gebracht”, sagt Tim Kelly aus New York. Er steht vor einem Foto der Gruppe bei ihrem Auftritt in Woodstock, groß, massig, mit grauem, schütteren Haar.

    Auch Tim ist in Woodstock gewesen, mit fünfzehn. Seinen Eltern hat er etwas von einem Sommercamp vorgeschwindelt, was auch sonst, bis in die 80er-Jahren waren die Catskills die klassische Urlaubsregion für New Yorker. Angereist ist er mit ein paar Freunden, zu Fuß und per Daumen.

    ""Auf der Bundesstraße 17b steht alles still, ein riesiger Stau. Plötzlich geht es weiter. Wir holen eine Dose Pfirsiche aus unserem Rucksack und sprechen den Fahrer eines alten VW Käfer an: 'Nimmst du uns auf dem Trittbrett mit, wir geben Dir dafür die Pfirsiche?' - 'Klar', sagt er. Wir springen auf. Er fährt ungefähr 20 Meter. Dann stock der Verkehr wieder. Nach fünf Minuten auf dem Trittbrett kapieren wir, dass wir so nie ankommen. 'Trotzdem danke', sagen wir und gehen zu Fuß weiter."

    Zwischen 300.000 und 500.000 Zuschauer haben das Festival miterlebt, je nachdem, welcher Zählung man glaubt. "Vermutlich blieben noch einmal so viele Menschen unterwegs stecken”, schätzt Tim. Vor einem Bild hält er inne. Es zeigt einen Stau bis zum Horizont und links und rechts parkende Fahrzeuge. "Die Leute ließen ihre Autos einfach stehen”, erzählt er weiter, "manche 50, 60 Kilometer vom Festivalgelände entfernt.”

    "Da drüben am Ende der Straße war ein Maschendrahtzaun. Als wir ankamen, drückten jede Menge Leute dagegen. Die Pfosten waren nur in den Boden getrieben, nicht einbetoniert. Die Leute haben gegen die Pfosten gedrückt, noch ein bisschen und noch ein bisschen, bis sie umfielen und den ganzen Zaun auf 35 Metern niederrissen. Dann strömten sie auf das Gelände. Wir sahen uns an, guckten auf unsere Karten und wollte sie wegwerfen. Aber einer von uns sagte: 'Besser, wir heben sie auf. Vielleicht werden wir drinnen noch kontrolliert.'"

    Tim lacht: was für ein törichter Gedanke? Natürlich haben es die Leute an anderen Stellen ebenso gemacht. Und den Veranstaltern ist nichts anderes übrig geblieben, als Woodstock zum Gratisfestival zu erklären. Auch das ist Teil des Mythos'.

    "It's a free concert from now on."

    "Da lief ein Mann rum mit einem Schaf. 'Freunde, esst keine Tiere', hatte er drauf gepinselt. Wir waren 15 und dachten nur: 'Oh, oh!' Freitag war der Folkabend, Ritchie Havens war klasse, aber Folk war nicht so unser Ding. Am Samstagmorgen spielten ein paar Bands, später kamen 'Mountain' auf die Bühne. Sie waren wirklich beeindruckend. Und mit ihnen fing Woodstock richtig an."

    "Wir verlassen die 60er-Jahre und kommen zu dem Teil des Museums, der dem Festival gewidmet ist. Vor uns ein Bild von Artie Kornfeld, Michael Lang, Joel Rosenman und John Roberts, den Veranstaltern. Am Anfang hatten Artie und Michael die Idee, in der Künstlerkolonie Woodstock ein Studio zu bauen. Bob Dylan und 'The Band' lebten dort, Joe Cocker hatte dort ein Haus und viele andere bekannte Musiker auch. Artie und Michael dachten, dass sie diese Musiker in ihrem Studio produzieren könnten. Um das Geld zusammenzukriegen, wollten sie ein Konzert veranstalten, ein kleines Konzert."

    Vorbild waren die sogenannten "Sound Outs", Festivals auf der grünen Wiese, wie sie in Woodstock seit ein paar Jahren jeden Sommer stattfanden. Der Rest ist Geschichte: Binnen Wochen haben die Veranstalter im Vorverkauf über 50.000 Tickets abgesetzt - zu viele für Woodstock, den Ort. Sie wollen ein brachliegendes Industriegebiet in Wallkill im Tal des Hudson River anmieten, doch die Stadtverwaltung stemmt sich dagegen.

    "Schließlich fanden sie einen Farmer namens Max Yasgur in Bethel. Er hatte eine Weide, auf der er Alfalfa für sein Vieh anbaute. Einen Monat vor dem Festival schlossen sie den Vertrag ab. Der Sommer war sehr feucht und Yasgur brauchte das Geld, um Heu zu kaufen. Aber er schloss den Vertrag auch aus einem anderen Grund, wie mir sein Sohn erzählt hat. Die Leute hier auf dem Land wollten keinen Hippies in ihrem Garten haben und übten Druck auf Max aus. Max hielt weder etwas von freier Liebe, noch hatte er etwas mit Gegenkultur zu tun. Er mochte nicht einmal diese Musik. Aber er fand, dass die Hippies als amerikanische Staatsbürger das Recht hatten, ihr Festival hier zu feiern."

    Eine eigenwillige Interpretation, bei der man nicht weiß, wo die Legende aufhört und die Dichtung beginnt. Wade Lawrence durchquert einen großen, offenen Raum. An den Wänden Fotos von Zuschauern, das Mädchen, das sich auf den Schultern ihres Freundes im Takt der Musik wiegt, Nacktbadende in einem Teich, ein Dutzend Leute, die sich frierend um ein Lagerfeuer drängen.

    Vor einem psychedelisch bemalten Schulbus bleibt Wade stehen. Mit einem solchen Gefährt sind die "Merry Pranksters" durch die Gegend gezogene, eine Gruppe von Außenseitern, die sich Anfang der 60er-Jahre um den Schriftsteller Ken Kesey geschart hatte. Die "Pranksters" waren so etwas wie die Keimzelle der Hippiekultur.

    In diesem Bus läuft ein Video über die Reise nach Woodstock. Ken Babbs, einer der "Pranksters", erzählt, wie sie dem Ruf folgen mussten, wie sie sich mit 30 Leuten in vier Bussen auf den Weg machten, unterwegs anderen mit dem selben Ziel begegneten und nach und nach verstanden, dass Woodstock zum großen Happening ihrer Generation werden würde.

    "Wir gehen jetzt zwischen zwei gelben Boxentürmen in einen drei Stockwerke hohen Raum; drinnen vier Bildschirme bis unter die Decke und neun Projektoren: Sie vermitteln eine Art Surround-Erlebnis: das Festival im Zeitraffer, drei Tage in neun Minuten aus der Sicht der Zuschauer."

    Mitten im Raum ein Dutzend weiche, große Kissen, wie geschaffen, um sich auszustrecken und diese Mischung aus Sound- und Gesprächsfetzen, Bühnenansagen und angespielten Songs auf sich wirken zu lassen. Der erste Abend: Ritchie Havens, Melanie, Joan Baez. Der Himmel verdunkelt sich, es wird Nacht, sternenklar. Die Sonne geht auf, Janis Joplin spielt, "Canned Heat" und "Creedence Clearwater Revival".

    Fauchender Wind kündigt Regen an - schon beginnt es zu prasseln. So intensiv ist das Sound-Erlebenis, dass man meint, die Tropfen auf der Haut zu spüren. Der Sonntag: "Jefferson Airplane", wieder ein Wolkenbruch, "Crosby", "Stills", "Nash & Young". Und schließlich "Jimi Hendrix", der zur amerikanischen Nationalhymne improvisiert - ein symbolträchtiges Ende.

    "Beautiful people, you live in the same world as I do
    But somehow I never noticed before today
    I'm ashamed to say.
    Beautiful people
    We share the same back door
    And it isn't right
    We never met before
    But then
    We may never meet again”"

    All die schönen Menschen: Sie leben in der selben Welt wie ich, eine Schande, dass ich sie vor heute nie wahrgenommen habe. Aber nun, wo ich sie kenne, werde ich sie vielleicht nie wiedersehen. Für Gayland Bowles aus Enfield, North Carolina, ist Woodstock so gewesen, wie die Folksängerin Melanie es besungen hat. Er hat viele Leute getroffen und mit einigen wenigen noch eine Weile Kontakt gehabt, dann hat er sie alle aus den Augen verloren.

    Das bringt das Dilemma mit Woodstock auf den Punkt: Für einen magischen Moment haben sie alle die Kraft und die Möglichkeiten einer Generation gespürt, ohne genau zu wissen, was sie damit anfangen sollten - und dann hat jeder sein Leben weiter geführt wie zuvor.

    ""Aber jetzt bin ich wieder hier, zum ersten Mal seit damals. Ich trage sogar dieselben Sandalen. Sie sehen ein bisschen abgewetzt aus, aber sie passen noch. In die Jeans von damals komme ich aber nicht mehr rein. 1969 war ich ja ein dünner 19-Jähriger. Ich habe sie in dieser Plastiktüte, auch den Poncho, der mich damals trocken gehalten hat. Es hat ja ganz schön geregnet."

    Gayland Bowles sitzt in der Bar des Woodstock-Museums, vor sich einen dünnen Kaffee, neben sich seine Frau Jill. Er trägt Khakis, kariertes Hemd, Brille und Schnäuzer. Sein Haar ist zu schwarz und sitzt zu akkurat, um echt zu sein. Und seine Sandalen sehen eigentlich gut erhalten aus. Kaum aus Woodstock zurück, hat er sie in den Schrank gelegt und erst heute wieder herausgeholt. Er klappt ein Fotoalbum auf.

    "Dieses Bild ist vom Sonntagmorgen. Das müssten 'Jefferson Airplane' auf der Bühne sein. Es ist ziemlich kalt, wie man hier an der Atemwolke von diesem Typen sieht. Und das ist eine Aufnahme der Menschenmenge."

    Dann sein Lieblingsbild: Santana, von einem Hügel weit weg von der Bühne aufgenommen. Für Gayland war die blutjunge Fusionband aus Los Angeles die Entdeckung des Festivals. Zu Hause in North Carolina hat er im Plattenladen nach ihnen gefragt und nur Kopfschütteln geerntet. "Was für eine unschuldige Zeit", sinniert Gayland, "und wie groß die Welt damals war".

    Noch mehr Bilder, vor allem vom Publikum: ganz normale junge Amerikaner. Gut, viele hatten längere Haare, manche nahmen Drogen, andere liefen nackt herum. Aber die meisten waren wie er selbst, findet Gayland Bowles.

    "Vor allem die Leute auf dem Land verstanden die Jugend damals nicht. Sie waren konservativ bis auf die Knochen, und in den Medien hieß es immer, die Hippiebewegung habe mit radikalen Ideen zu tun. Aber das stimmt so nicht. Ich zum Beispiel war nie ein Radikaler, auch wenn ich vielleicht so aussah."

    Wade Lawrence bleibt vor einem interaktiven Modell des Festivalgeländes stehen. Per Mausklick lässt sich eine Uhrzeit wählen und ein Ort - schon erfährt man, was wann wo passiert ist. Auf der Bühne, bei der Essensausgabe, organisiert von einer Kommune namens "Hog Farm", im Freak-Out-Zelt, wo Zuschauer behandelt wurden, die zu viele Drogen genommen hatten. Ein paar Schritte weiter ein Schaukasten mit allerlei Papierfetzen.

    "Von allen Ausstellungsstücken gefallen mir diese am besten. Es sind Nachrichten, die Festivalbesucher anderen hinterlassen haben. Wie kontaktiert man jemanden in einer Menschenmenge von einer halben Million? Nun, man schreibt seine Nachricht auf einen Papierteller und heftet ihn an ein Schwarzes Brett. Diese hier ist die schönste: 'Für Cindy mit den schwarzen Haaren. Es tut mir Leid, dass ich zu sehr neben der Spur war, um nach deiner Adresse zu fragen. Bitte rufe mich im Lauf der Woche an. Dan.' Ob Cindy und Dan sich je wieder getroffen haben."

    Ein Besucher hat mal sein Handy gezückt und die Nummer angerufen, erzählt Wade. Sie existiert noch, aber Dan lebt dort nicht mehr. Schließlich die letzte Sektion: Woodstock und die Folgen. Nancy Reagan, die Frau des damaligen Gouverneurs von Kalifornien und späteren Präsidenten Ronald Reagan, darf noch einmal prognostizieren, dass in ein paar Jahren niemand mehr von "diesem Festival" sprechen werde.

    Dann weisen die Museumsmacher das Gegenteil nach: Auf Schautafeln und mit Hörbeispielen wird die heutige Popmusik direkt auf Woodstock zurückgeführt, vorbei an späteren popkulturellen Strömungen wie Punk, Hip-Hop oder Techno. Und politisch wird der Bogen vom Festival bis zu Al Gore gespannt, dem Umweltaktivisten und Nobelpreisträger - eine zu simple Sicht der Dinge. Wade Lawrence lässt solche Einwände nicht gelten.

    "Die Ideen der Hippies von Liebe und Frieden waren lange aus der Mode. Aber die Grundgedanken der Bewegung, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, jeder einzelne, dass wir respektvoll und kooperativ miteinander umgehen müssen - all das ist heute etabliert, dank der Leute, die es ins Zentrum der Gesellschaft getragen haben. Veränderung ist dialektisch, mal ebbt das Bedürfnis danach ab, mal schwillt es an. Woodstock hat dieses Bedürfnis hervorgerufen und gleichzeitig reflektiert. Jetzt sehen wir, wie es wieder stärker wird, dass der Optimismus zurückkehrt: Yes, we can! Darin schreiben sich die 60er-Jahre fort."

    "Find the cost of freedom, buried in the ground
    Mother earth will swallow you, lay your body down
    Find the cost of freedom, buried in the ground
    Mother earth will swallow you, lay your body down.
    Good night, God bless you."