Freitag, 29. März 2024

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Rohe Botschaft, frohe Botschaft
"Wir müssen über die Verrohung der Verhältnisse reden"

Das Unsägliche ist sagbar geworden, sagt die Schriftstellerin Husch Josten. "Wir sind längst über diesen Punkt hinaus, dass wir uns Gedanken machen müssen nur über die Sprache." Das größere Problem sei die barbarische Niedertracht dahinter.

Husch Josten im Gespräch mit Christiane Florin | 24.12.2019
Die Kölner Journalistin und Schriftstellerin Husch Josten
Die Kölner Journalistin und Schriftstellerin Husch Josten (Privat / Sandra Then)
Christiane Florin: "Es sind heute Dinge sagbar, von denen ich nie geglaubt hätte, dass man die sagen darf, geschweige denn öffentlich". Das sagte die Präses der evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, im Interview der Woche, das mein Kollege Andreas Main geführt hat. Die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten thematisiert Hass und Pöbeleien.
Die nicht nur sprachliche Verrohung war eines der beherrschenden Themen dieses Jahres. Mit der rohen Botschaft hat sich die Schriftstellerin Husch Josten beschäftigt, zuletzt auf einer Vortragsreise durch Brasilien. Ich habe vor der Sendung mit ihr darüber gesprochen. Meine erste Frage war: Woran macht sie die Verrohung der Sprache fest?
Das Wort "Hass" steht gesprüht in roter Farbe auf einem Stromkasten
Empathie: "Hass ist einfach salonfähig geworden"
Das generelle politische Klima sei im Moment kein fruchtbarer Boden für Empathie, sagte die Neurowissenschaftlerin Grit Hein im Dlf. Negative Erfahrungen würden Mitgefühl hemmen. Deshalb brauche Empathie Beispiele und Vorbilder um sich aufzubauen.
Husch Josten: Die Verrohung der Sprache ist längst Gang und Gäbe. Wir hören in Parlamenten, wir hören von Politikern in ganz hohen Positionen die unsäglichsten Sachen. Wir hören von Bolsonaro in Brasilien, dass er zum Beispiel in einem Radio-Interview sagt, der Fehler an der Diktatur war, dass sie nur gefoltert und nicht getötet hat. Die Grenzen dessen, was sagbar ist, sind schon ganz lange gefallen. Und das Unsägliche ist sagbar geworden.
Florin: Wenn ich mir alte Bundestagsdebatten anschaue: Politiker wie Wehner und Strauß waren nicht zimperlich. Die waren auch dem persönlichen Angriff zugetan. Wir von der Journalie wurden als "Schmeißfliegen" bezeichnet oder von Oskar Lafontaine als "5-Marks-Nutten". Was unterscheidet diesen scharfen Ton von der heutigen Verrohung?
Josten: Damals ging es, glaube ich, mehr um in der Tat wütende, persönliche Angriffe, denen aber unmittelbar auch Reue oder ein Zeichen von Anstand und Sitte wieder folgten. Heute ist das einfach … es bleibt einfach so stehen. Es ist vollkommen selbstverständlich das zu sagen und das sind ganz oft Anfeindungen gegen den Rechtsstaat, gegen die Demokratie. Es sind demagogische, fast diktatorische Parolen. Und das macht schon einen Unterschied, ob ich mich über Journalisten im Eifer des Gefechts aufrege und sie als Schmeißfliegen bezeichne, das ist natürlich nicht schön, es ist auch absolut nicht wünschenswert. Aber es ist etwas Anderes, ob ich das einmal im Affekt sozusagen herausbrülle, aber eigentlich meine Haltung dahinter eine andere ist, was, glaube ich, damals wirklich der Fall war und als gegeben angesehen werden kann oder aber, ob ich ganz systematisch wie Trump sage: "Diese Journalisten sind alle Lügner" und sie nicht zulässt zur Pressekonferenz ins Weiße Haus usw. Also, das ist ein ganz anderer Duktus. Da werden Freiheiten eingeschränkt.
"Flüchtlingswelle" - wie ein Tsunami
Florin: Gibt es Schlüsselwörter der Verrohung?
Josten: Als Beispiel nehme ich immer ganz gerne eins, das zunächst ganz harmlos daherkommt. Das ist zum Beispiel die Flüchtlingswelle. Denn, wenn man die nimmt, dann denkt ja keiner von uns an eine leichte Welle, die irgendwo auf einem karibischen Strand aufschlägt, sondern was wir denken, ist, das ist ein Tsunami. Und in diesem Wort steckt, dass derjenige, der dann Deiche baut, moralisch viel besser dasteht als derjenige, der sagt, nun lasst die Welle, diesen Tsunami doch erst mal kommen und wir leiten das Wasser um.
Florin: Was folgt daraus? Das Wort "Flüchtlingswelle" zu meiden, Verbotsforderungen zu erheben?
Josten: Nein. Da sind wir bei der "Political Correctness", die ich ganz schwierig finde. Ich glaube, dass es wichtig ist, natürlich darauf hinzuweisen, wenn Begriffe falsch sind. Aber man kann durch zu viel Political Correctness in der Sprache auch davon ablenken, was eigentlich das Problem ist. Und das Problem ist ja nicht die Sprache an sich. Die ist der Ausdruck dessen, was an Haltung dahintersteht. Und die Haltung ist das Problem.
Florin: Es gibt Wörter, die herabsetzend sind, beleidigend – Kopftuchmädchen, Messermigranten. Wir haben ja vorhin über das Thema Flüchtlinge gesprochen. Es gibt aber mittlerweile auch eine ganze Reihe von auf den ersten Blick harmlos klingenden Formulierungen. Also, wenn zum Beispiel eine Gewalttat bekannt wird, dann steht in Tweets sofort: Das wird wieder einer von "Merkels Gästen" gewesen sein. "Merkels Gäste" - was halten Sie solchen Formulierungen entgegen?
Josten: Ich glaube, wir reden häufig über die Verrohung der Sprache, wo wir aber eigentlich über die Verrohung der Verhältnisse reden müssen. Das ist doch der Punkt. Natürlich kann ich sprachlich nichts gegen das Wort Gast sagen, aber was dahintersteckt, ist doch eine ganze Welt an barbarischer Niedertracht. Da müssen wir doch ansetzen. Es geht doch darum, dass wir das Gefühl - Sprache transportiert ja immer ein Gefühl - im Auge behalten und dafür sorgen, dass es ein viel größeres Wirgefühl gibt, das den Mut aufbringt, sich gegen solche Äußerungen, gegen solche Haltungen zu stellen. Es hat keinen Sinn, wenn man nur die Sprache in Ordnung bringt oder Regeln dafür aufstellt. Ich habe neulich mit einer Mutter gesprochen, die ein Kind mit Behinderung hat. Und die sagte zu mir, nachdem ich einen Vortrag über Sprache gehalten hatte: Mein Sohn ist behindert und er sagt selber: Ich bin behindert. Es ist völlig egal, ob er sagt, er ist ein Kind mit Behinderung oder er ist behindert. Das ändert überhaupt nichts an seinem Stolz und an der Tatsache, dass er weiß, dass er eine Behinderung mit sich trägt. Darum geht es nicht. Sie sagt, es geht um die Haltung. Und seine Haltung ist eine ganz gute und stolze und ihm begegnet auch viel Gutes. Natürlich liegt für mich sehr viel auch in der Sprache. Aber wir können sie nicht zu Tode regulieren. Damit schrecken wir eher Menschen ab, die mit dieser ganzen Regulierung gar nicht mehr zurechtkommen. Das ist eine Form von Ausgrenzung derer, die dann nicht mehr Bescheid wissen oder sich zurückgesetzt fühlen und sagen: Ich weiß eh nicht mehr, was man da noch richtig und falsch sagen kann. Und damit macht man genau das Gegenteil.
"Es gibt einen Raum, in dem es um die Anfeindung von Demokratie und Rechtsstaat geht"
Florin: Wie wollen Sie denn die Haltung regulieren – wenn es schon mit der Sprache nicht geht?
Josten: Durch Bildung. Nur durch Bildung, durch ganz klare Grenzen, die aufgezeigt werden. Schon in Schulen. Die Ökonomisierung des Unterrichtsstoffs zum Beispiel sorgt dafür, dass viele Kinder nicht mehr lesen, nicht mehr Zusammenhänge herstellen zwischen ganz unterschiedlichen Fächern. Sie sind darauf gedrillt, in kürzester Zeit dieses und jenes Fach, was ihnen dann und dann weiterhilft, zu lernen. Die Zwischentöne werden immer weniger. Aber die Zwischentöne sind es, die uns das Leben erklären und die Dinge begreifbar machen.
Florin: Aber Vertreter und Vertreterinnen der Partei, die Begriffe benutzt wie Kopftuchmädchen, Messermigranten haben zumindest formal eine akademische Bildung. Das ist doch kein reines Bildungsproblem.
Josten: Nein, nein. Es geht natürlich um die Frage, was in diesen Schulen überhaupt transportiert wird. Aber nehmen wir doch zum Beispiel mal den Rechtsausschuss. Als (der AfD-Politiker) Brandner aus dem Rechtsausschuss gewählt wurde, das ist doch ein Zeichen, wo sich Menschen gegen Hetze aufgelehnt haben, und zwar mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln des Rechtsstaates.
Natürlich muss Demokratie andere Meinungen aushalten und natürlich ist es unbequem. Aber es gibt einen Raum, in dem es um ganz unterschiedliche Meinungen geht und es gibt einen Raum, in dem es um die Anfeindung von Demokratie und Rechtsstaat geht. Und das ist der Raum, in dem man sich wehren muss. Und da muss sehr deutlich werden, in Schulen, in Universitäten, all überall: Hier ist Schluss.
Florin: Wie zieht man die Grenze? Wir haben schon viele Gespräche in dieser Sendung geführt, auch in anderen Sendungen. Da fiel dann das Wort: Es muss ganz klar rote Linien geben. Aber praktisch ist es schwierig. Wenn ich nicht Wörter verbieten will, wenn ich sage, Diskurs und Demokratie leben davon, andere Meinungen auszuhalten.
Josten: Also, ich habe kein Patentrezept dafür, wie man das alles gelöst bekommt, aber ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir alle – und jeder in seinem Bereich – Flagge zeigen dafür, was geht und was nicht geht, und zwar im unmittelbaren privaten Umfeld. Wir müssen gucken, ob jemand an unserem Tisch sitzt und von der Flüchtlingswelle redet oder von "Gästen" oder von "das wird man doch noch sagen dürfen" oder, oder. Diese ganzen Phrasen, die uns inzwischen alle schon zu den Ohren rauskommen. Wenn wir da nicht anfangen zu diskutieren oder zum Beispiel Kindern klarmachen: "Das ist sagbar, das ist nicht sagbar. Das ist ein Schimpfwort, das niemals benutzt werden darf, und wenn du das auf dem Schulhof hörst, stell dich dagegen." Da fängt das an. Es fängt ganz, ganz früh an.
"Es fängt beim Widerspruch an"
Florin: Also, beim Widerspruch?
Josten: Es fängt beim Widerspruch an.
Florin: Sie haben in Rio eine Rede über die Verrohung der Sprache gehalten. Sind Sie Menschen begegnet, die Ihnen gesagt haben: "Wieso, was Sie Verrohung nennen, das begeistert mich. Bolsonaro benennt doch die Dinge, wie sie sind"?
Josten: Ja, absolut. Das ist mir auch begegnet in Diskussionen. Ich hatte ja viele Podiumsdiskussionen dort auch. Tatsächlich kommt dann immer durch: Aber der sagt doch, was wir eigentlich meinen. Der drückt doch nur aus, was wir nicht mehr sprechen dürfen usw. Das sind ja die Argumente. Und da hilft nur, in jedem einzelnen Fall dagegenhalten und die Fakten benennen und sagen: Aber es kann nicht sein. Es ist nicht so einfach. Die Frage ist viel komplexer. Das ist ja das Unbequeme an Demokratie wie auch am Glauben: Die Antworten sind nicht einfach zu haben. Sie sind ein ständiger Diskurs und eine ständige Auseinandersetzung.
Florin: Und wenn Sie sagen: "Hier sind die Fakten oder der Sachverhalt ist viel zu komplex für einfache Lösungen", haben Sie dann schon mal einen gegenüber erlebt, der sagt, ja, stimmt?
Josten: Ja, ganz oft.
Florin: Das haben Sie erlebt? Also, eine Läuterung?
Josten: Läuterung würde ich es nicht nennen, aber es ist wirklich ganz erstaunlich. Wenn man ganz ruhig und vernünftig mit den Leuten spricht, passieren interessante Dinge und dann ist eine Unterhaltung möglich. Und das ist das, was ich meine. Es muss ein größeres Wir-Gefühl geben. Es kann nicht sein, dass man sich aufhält an Fragen der Sprache. Die ist natürlich wichtig und sie ist das Medium, das das transportiert. Aber wir sind doch längst über diesen Punkt hinaus, dass wir uns Gedanken machen müssen nur über die Sprache. Wir müssen den Menschen mit Haltung begegnen, mit Standpunkten.
Gleicht das Frohe das Rohe aus?
Florin: Als Sie hier zuletzt in der Sendung zu Gast waren – das war im Oktober 2018 – haben wir über Ihren Roman "Land sehen" gesprochen. Das ist, ganz einfach gesagt, die Geschichte eines Mannes, der sich einem sehr strengen Orden anschließt. Wir bekommen bisweilen Rückmeldungen so nach dem Muster: "Ach, reden Sie doch jetzt nicht so viel über Konflikte, über Streit, über Skandale, über Polarisierung oder beteiligen Sie sich nicht an Polarisierungen. Machen Sie doch mal eine Sendung voller positiver Nachrichten, erst recht so um Weihnachten herum." Ist es eine gute Idee, der rohen Botschaft irgendeine Form von froher Botschaft entgegenzusetzen?
Josten: Alles zu seiner Zeit. Ich finde das eine sehr interessante Geschichte, diesen konstruktiven Journalismus, der ja positive Nachrichten nach vorne stellt. Ich finde das auch sehr wichtig. Im Prinzip könnte man sagen, die Populisten, die sogenannten, die sich immer einfach Sprache bedienen, um einfach Inhalte prägnant rüberzubringen, tun ja genau das. Sie verkürzen. Eine frohe Botschaft verkürzt unter Umständen auch. Wir müssen sorgsam mit den Worten und den Begrifflichkeiten umgehen. Und das auch mal in einer frohen Botschaft zu tun, das Positive nach vorne zu stellen, halte ich für ungeheuer wichtig.
Florin: Gleicht das Frohe das Rohe aus?
Josten: Es kann Hoffnung geben. Und ich finde, es sollte ganz viel Hoffnung geben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.