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Rohstoffsuche in der Arktis
Manuskript: Frau Marchenkos Gespür für Eis

Seit der Eispanzer der Arktis dahinschmilzt, suchen Gazprom, Statoil, ExxonMobil und Shell nach neuen Fördertechnologien, um die vermuteten Öl- und Gasvorkommen vom Grund der Polarmeere heben zu können. Doch Eis erweist sich immer wieder als unberechenbar, Eisberge und Treibeis machen die Arktis zu einem tückischen Industriegebiet.

Von Andrea Rehmsmeier |
    Die nördlichste Hochschule der Welt liegt mitten im Nordpolarmeer: 78° 13', 1100 Kilometer nördlich des Polarkreises. In Longyearbyen auf der Inselgruppe Spitzbergen, forscht Ida Bueide. Eigentlich hatte die angehende Bauingenieurin einen einfachen Auftrag: Sie sollte für eine Testreihe einen Eisblock herstellen. Jetzt aber steht sie in ihrem dicken Wintermantel vor ihrem Kältebecken und staunt: Dutzende kleine Eiszapfen hängen von der Decke, überall sind die Tropfen festgefroren.
    "Ein kleiner Unfall. Für den Druckausgleich wollten wir mit einem Bohrer die Eisdecke perforieren, die sich auf dem Wasser gebildet hatte. Doch auf einmal ist die Eisdecke aufgebrochen, das Wasser ist bis an die Decke gespritzt – da, dort oben hängt es! Wegen des Drucks."
    Die Naturgewalt Eis: Sie zu bezwingen, ist unserer Zivilisation noch nicht gelungen. Nun, seit die Klimaerwärmung die Polkappen dahinschmelzen lässt und Reedereien und Rohstoffkonzernen ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, wächst der Druck auf die Forschung. Doch wie soll man Eis, sein Entstehen und Vergehen im tosenden Polarmeer zuverlässig berechnen?
    In klarem Blau erheben sich die Berggletscher über dem Fjord. Doch dann schimmert auf den schneebedeckten Kuppen ein zartes Rosa auf, das schnell zu gleißendem Orange erglüht. An Spätwintertagen wie diesem liegt ein Zauber über der Arktis: Die schrägen Strahlen des ersten Sonnenlichts kündigen das Ende der Polarnacht an.
    In Tromsø, dem Hafenstädtchen ganz im Norden von Norwegen, kann man das grandiose Farbspiel bequem durch die Fensterfronten der Nobelhotels verfolgen: Mit der Rückkehr des Tageslichts beginnt die Saison des Kongresstourismus. Die Rohstoffbranche hat zu der norwegisch-russischen Konferenz "Intsok" geladen: Die Energieriesen haben ihre Manager geschickt, die Zulieferfirmen ihre Ingenieure, die Ministerien und Gebietsverwaltungen ihre Diplomaten.
    Rohstoffbranche in Aufregung
    Das rasant dahinschmelzende Polareis hat die Branche in Aufregung versetzt, denn der brüchige Eispanzer gibt Bodenschätze frei. 13 Prozent des bislang unentdeckten Erdöls sollen in der Arktis liegen, schätzt der Geologische Dienst der USA – das meiste davon offshore, im Untergrund der Polarmeere. Die arktischen Reserven an Erdgas sollen sogar 30 Prozent betragen. Gerade ist der Startschuss für ihre großindustrielle Förderung gefallen.
    "Im vergangenen Dezember gab es ein historisches Ereignis: Wir haben das erste Gläschen Öl gekostet, das von der russischen Plattform Prirazlomnaja gefördert wurde. Und wir werden noch viel mehr davon genießen können. Wir schreiben gerade Geschichte. Denn wir handeln. Wie reden nicht nur."
    Prirazlomnaja sei die erste, arktistaugliche Offshore-Förderplattform für Öl weltweit, schwärmt Anton Vasiliev, der russische Sonderbotschafter für Arktische Kooperation. Dabei hatte die Inbetriebnahme im Nordpolarmeer vor der russischen Küste keineswegs als technischer Durchbruch Schlagzeilen geschrieben, sondern eher als Beispiel für brachiale Staatsgewalt gegen Umweltbedenken. Die spektakuläre Protestaktion von Greenpeace endete mit der Verhaftung von 30 Aktivisten. Veraltete Fördertechnik, unzulängliche Unfallverhütung und risikoreiche Ausbeutung einer hoch empfindlichen Natur wirft die Umweltorganisation der Betreiberin Gazprom vor. Tatsächlich sind die arktischen Eismeere ein tückisches Industriegebiet - mit monatelanger Dunkelheit und extremer Kälte, mit Nebelwänden, tosenden Stürmen, plötzlichen Wetterumschwüngen - und mit Eis, einer Naturgewalt, mit der die Rohstoffindustrie bislang keinerlei Erfahrung hat. Dennoch werden in den kommenden zehn Jahren wohl an die 100 Milliarden Dollar in die Erschließung des Seegebiets nördlich des 60. Breitengrads fließen, sagen Prognosen. Der Vertreter des norwegischen Bohrtechnik-Herstellers Kværner freut sich auf die "spannende technische Herausforderung".
    "Die technischen Meilensteine der modernen Welt, das sind Gagarins Flug in den Weltraum, und die Mondlandung. Der dritte Meilenstein, das wird die Erschließung der Arktis sein. Mit dem Risiko leben, das müssen wir jeden Tag - sogar wenn wir eine Ampel überqueren. Wenn wir jetzt in die Arktis aufbrechen, dann dürfen wir niemals bei rotem Licht gehen. Dann müssen wir zu 110 Prozent sicher sein, dass Menschen und Umwelt nichts geschieht."
    Auf Spitzbergen, fernab der Arktis-Panoramafenster der Nobelhotels, kämpft sich ein Minivan durch Schneetreiben und dichten Nebel. "Svalbard", nennen die Norweger die Inselgruppe im Polarmeer: "Kühle Küste". Keine zehn Minuten ist es her, seit die majestätische Insellandschaft aus Gletschern und Fjorden unter einem klaren Himmel lag. Jetzt ist der steile Serpentinenweg, der vom Verwaltungszentrum Longyearbyen zum Bergplateau hinaufführt, unter einem milchigen Strudel verschwunden.
    "Nichts zu sehen! Wenn das so weitergeht, dann müssen wir den Hubschrauber der Station benutzen. Das machen wir immer, wenn die Straße wegen Lawinengefahr geschlossen ist."
    Arktis fordert Technik
    Meter um Meter quält sich Torgeir Prytz durch die Neuschnee-Verwehungen. Schon melden sich die Kollegen oben von der Station. Der schlanke Norweger ist auf dem Weg zum weitläufigen Betriebsgelände der Satellitenstation SvalSat. Vor acht Jahren ist der 38-Jährige mit seiner Familie nach Spitzbergen gezogen. Seitdem arbeitet er als Ingenieur bei der norwegischen Hightech-Holding Kongsberg, die die Öl- und Gasindustrie zu ihren Kunden zählt, und auch für die Marine und die Rüstung arbeitet.
    "Wenn die Straße schneefrei ist, dann nehme ich grundsätzlich das Auto. Wenn Du Dich nämlich mit dem Motorschlitten verfährst, dann finden sie Dich erst im Frühjahr wieder!"
    Vor der Windschutzscheibe schimmern rötliche Lichter durch den Nebel. Unter jeder dieser Warnleuchten ahnt man, weiß in weiß, die schemenhaften Konturen von riesigen, kreisrunden Konstruktionen, die wie überdimensionale Fußbälle auf einem verschneiten Feld liegen.
    "Das sind die Schutzhüllen, mit denen wir unsere Antennen vor der arktischen Witterung schützen, wir nennen sie Radom. Auf diese Weise können wir das ganze Jahr über die Satellitendaten übertragen. Ohne Radom könnten wir mit unseren Antennen vielleicht nur, sagen wir, 70 Prozent der Zeit arbeiten. Hier, auf Spitzbergen, geht es im Wesentlichen immer nur um das eine: Die Technik und sich selbst vor dem Wetter zu schützen."
    In den Großraumbüros sitzen die Mitarbeiter konzentriert vor ihren Monitoren. SvalSat liefert Informationen an die Weltraumbehörde NASA und an die großen, internationalen Wetterdienste. Neuerdings boomt auch ein anderes Geschäftsfeld: Der Schiffsverkehr in den arktischen Meeren nimmt zu, aber längst nicht alle Tanker besitzen die Robustheit von Eisbrechern. Wer sein Schiff unbeschadet durch Treibeis und driftende Eisberge hindurchsteuern will, der braucht ständig aktuelle Daten über den Verlauf der tückischen Eiskanten. Im Serverraum laufen die Informationen über Wetter, Seewind und Eisbewegung zusammen. Und sollte sich je eine Öl-Havarie anbahnen, dann, so hofft der Ingenieur Prytz, helfen die satellitengestützten Warnsysteme das Schlimmste verhindern.
    "Sollte es tatsächlich zu einer Ölkatastrophe in der Arktis kommen - die Havarie eines Öltankers oder ein Rohr-Leck - dann kann unsere Satellitenstation genaue Daten darüber liefern, wohin das Öl sich verteilt. Aber ehrlich gesagt: Ich persönlich bin skeptisch, ob wir hier oben tatsächlich Schiffe fahren lassen sollten. Die Natur in der Arktis ist dermaßen verletzlich - da wird alles, was schief geht, sofort zu einer Riesen-Katastrophe."
    Draußen hat das Schneegestöber nachgelassen. Ein weißes Wetterschutz-Radom ragt mit der Höhe eines zweistöckigen Gebäudes in den grauen Himmel, und lässt den Ingenieur an seinem Fuße winzig erscheinen. Im Inneren der Kuppel eine riesige Antenne, deren Empfangsschüssel sich leicht nach Westen in den Himmel neigt. Es dauert nur Minuten, bis die Satellitendaten aus dem Weltraum empfangen, verarbeitet, und an die Großkunden in allen Teilen der Welt weitergeleitet sind, erzählt Prytz.
    "Unsere Antennen sind vermutlich ein bisschen größer als diejenigen, die Sie auf Ihrem Hausdach haben: Diese hier hat einen Durchmesser von 13 Metern. Sehen Sie, wie sie sich langsam bewegt? Sie zielt immer direkt auf den Satelliten, der über uns im Weltraum fliegt. Die Antenne verfolgt ihn. Jetzt gerade kommuniziert sie mit einem Satelliten, der Daten über Wind, Seegang und Wasseroberflächen-Temperatur übermittelt, als Teil des Umwelt-Monitoring. Genau das sind die Daten, die wir hier erheben."
    Plötzlich gerät die riesige Konstruktion in Bewegung. Gemächlich dreht sich die Antenne, und kippt ihre Schüssel nach oben.
    "Das ist die Leerlauf-Position: Die Antenne zeigt direkt nach oben. So bleibt sie erstmal stehen. Ab jetzt wird es etwa zwei Minuten dauern, schätze ich, bis der nächste Satellit Kontakt mit uns aufnimmt. Dann richtet sich die Antenne für den Datenempfang neu aus."
    An der Küste vor Longyearbyen, an der Westseite Spitzbergens, erheben sich schneebedeckte Felsen über dem Isfjord. Ein schneidender Wind peitscht die Wasseroberfläche zu Gischt, und lässt die Wellen an der Steilküste zerschellen. Hier, wo der mächtige Meeresarm der Barentssee tief ins Innere der Insel vorgedrungen ist, kann man die archaische Kraft des Polarmeeres erahnen, in die sich Marine- und Rohstoffindustrie nun hineinwagen wollen. Probebohrungen in der klimatisch harschen Karasee, nördlich der russischen Küste, sollen schon in wenigen Monaten die breite Erkundung der arktischen Meeresböden einleiten. Dann werden Satellitenbilder die schärfste Waffe der Crews gegen die Urgewalt sein. Sie sollen Förderschiffe und schwimmende Bohrplattformen vor herannahenden Eisbergen warnen, so dass diese ihre Verbindung zum Meeresboden rechtzeitig kappen, und die Station aus der Gefahrenzone herausbewegen können. Und Tankern, die Öl und Gas von der Förderstelle abtransportieren, sollen die Weltraumbilder den Weg durch die driftenden Schollen weisen.
    Ökologisch empfindliche Region
    In Tromsø geht ein langer Konferenztag zu Ende. Der Gedankenaustausch bei Kaffee und Naschwerk macht den Entscheidern, Ingenieuren und Diplomaten Lust auf das Get-Together beim abendlichen Buffet.
    "Der Schutz der Arktis – das ist allen hier das Wichtigste. Den komplizierten Förderbedingungen unter Eiskonditionen gerecht zu werden, dafür entwickeln wir jetzt Technologien. Ich selbst sehe da mehr Chancen als Risiken."
    Die treibende Kraft bei der Erschließung der Polarmeere ist Russland. Mit beispiellosen Steuergeschenken wirbt Moskau für die Beteiligung von offshore-erfahrenen ausländischen Konzernen an seinen Öl- und Gasreserven. ExxonMobil, Shell und die italienische Eni haben bereits zugegriffen. Terje Dahl, Russland-Manager der norwegischen Statoil, sieht seinen Konzern als idealen Technologiepartner für den russischen Öl-Riesen Rosneft: In der Barentssee, die zwischen Norwegen und Russland für eine strategische Allianz günstig gelegen ist, fördert Statoil seit Jahrzehnten unfallfrei Öl und Gas. Doch dort wärmt der Golfstrom das Wasser. Der Schritt ins Eis ist auch für Statoil neu: Vor Russlands Ost-Küste, im Ochotsk-Meer bei Japan, wo das Wasser nur im Sommer eisfrei ist, sollen die Probebohrungen ab 2016 beginnen. Danach soll es in Russlands hohem Norden weitergehen.
    Dahl: "Im norwegischen Teil der Barentssee, in Ost-Kanada und im Ochotsk-Meer fühlen wir uns schon relativ wohl. Wenn wir aber noch einen Schritt weiter in die Arktis gehen wollen, dann müssen wir unsere Technologie weiterentwickeln und unsere Kenntnisse vertiefen. Statoil hält mit Rosneft eine Förderlizenz für den Standort Perseevsk im russischen Teil der Barentssee. Mit der Erschließung wollen wir ab 2020 beginnen. Rein physikalisch könnten wir zwar schon morgen anfangen. Aber das Risiko durch Extremklima und Eis ist dort hoch. Darum müssen wir noch mehr in Forschung und Technik investieren. Erst ganz zum Schluss werden wir entscheiden, ob wir dort bohren oder nicht."
    Tatsächlich haben sich schwimmende Bohrstationen bislang als nicht sonderlich arktistauglich erweisen. Im Dezember 2011 starben 53 Menschen, als die russische Ölbohrinsel Kolskaja im Ochotsk-Meer sank. Und Shell hat gerade sein arktisches Erkundungsprogramm in Alaska bis auf weiteres eingestellt, nachdem eine Bohrstation in den Dezemberstürmen des Jahres 2012 auf Grund gelaufen war. Die Sicherheitsstandards seien "nicht ausreichend", rügte ein staatlicher US-Bericht. Der Versicherungskonzern Lloyds stuft die Risiken der Rohstoffförderung in vereisten Gewässern insgesamt als unversicherbar ein. Terje Dahl aber hofft, dass Statoil schon in wenigen Jahren eine Lösung anbieten kann.
    "In flachem Wasser kann man schwere Stahlbeton-Anlagen direkt auf den Meeresgrund bauen, und so dem Eis Widerstand bieten. Wenn es allerdings um die Tiefsee geht, dann braucht man schwimmende Bohrplattformen - und da ist natürlich Vorsicht geboten, wenn ein Eisberg naht. Darum wird zurzeit viel an Unterseefabriken geforscht und entwickelt, die man in der Tiefsee komplett auf dem Meeresgrund verankern kann. Solche Unterwasserstädte machen jetzt viel von sich reden. Vor zehn Jahren konnten wir von so etwas nur träumen. Heute ist es Realität, an verschiedenen Standorten der Welt."
    Die Unterwasserstadt: Nicht nur für Statoil ist das die technische Vision für die Arktis. Erfahrungen sammelt der Konzern schon heute auf dem Gasfeld Snøhvit, wo die Förderanlage auf dem Grund der eisfreien Barentssee verankert ist. Und bei Oslo gibt es die Forschungsstadt "Subsea Valley". 200 Unternehmen, fast alle Statoil-Zulieferer, forschen hier daran, Hightech-Bohranlagen auf den Meeresgrund zu verlegen. In der Arktis einsatzfähig sollen sie frühestens 2020 sein. Bis dahin sind die Rohstoffkonzerne darauf angewiesen, das Eisproblem an der Wasseroberfläche in den Griff zu bekommen.
    Das Seminar "Eismechanik für Ingenieure", im Universitätszentrum Spitzbergen, am Lehrstuhl für Arktische Technologie. Professor Alexei Marchenko gilt als Koryphäe auf diesem Gebiet. Der gebürtige Moskauer betreut eine Vielzahl von Forschungsprojekten, die die Physik von H2O im Übergang zwischen fest und flüssig zum Thema haben - unter anderem im Auftrag des russischen Staatskonzerns Gasprom.
    "Wir untersuchen zum Beispiel die Auswirkungen von Eis auf liegende Rohre am Meeresboden, wenn sie die Küste erreichen. Denn liegende Rohre müssen vor Frost geschützt werden: Wenn sie erst einmal mit Eis ummantelt sind, dann bersten sie."
    Eis ist eine Urgewalt
    Das schmale Büro des Professors ist vollgepackt mit Büchern und Dokumentenstapeln, mit Bauteilen und Messtechnik. Hier wartet seine Ehefrau Natalja, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl angestellt ist. Ihr Spezialthema ist die arktische Schifffahrt: Natalja Marchenko hat fast 100 Schiffsunfälle der vergangen Jahrzehnte in den Gewässern der Arktis analysiert – fast immer waren Eisberge und Treibeis die Ursache.
    "Eis ist eine mächtige Kraft. Wenn sich Eis auf eine von Menschen betrieben Station zubewegt, dann hilft manchmal auch kein Eisbrecher. Gerade kurz vor Neujahr ist es doch schon wieder passiert, in der Antarktis: Die 'Akademik Schakalskij' saß im Eis fest – obwohl man doch nun glauben sollte, dass wir allmächtigen Menschen solche Situationen längst im Griff haben. Aber nichts dergleichen! Drei Eisbrecher wurden in den Rettungseinsatz geschickt. Und was geschieht? Die frieren ebenfalls fest! Also wurden die Menschen mit Helikoptern evakuiert. Und am Ende war es der Wind, der das Eis um die Schiffe herum losgebrochen hat. Ja, gegen Eis kann man kämpfen. Aber es ist sehr hart."
    In Longyearbyen, auf Spitzbergen, hat das Forscherehepaar einen nahezu idealen Standort für seine Polarstudien gefunden. An hochwertiger Laborausstattung und vielfältigen Projekten herrscht hier kein Mangel: Denn was der Norwegische Wissenschaftsrat nicht finanziert, das bezuschusst die Industrie. Aus einer Zimmerecke wuchtet Alexei Marchenko ein zylinderförmiges Gerät.
    "Das ist ein GPS-Peilsender, den wir für drei Monate auf einer Eisscholle in der Barentssee fixiert haben. Hier sehen Sie die Batterien, das Modem und die Sender-Einheit. Dieses Gerät ist unser besonderer Schatz: Im März haben wir ihn mit dem Helikopter auf der Eisscholle ausgesetzt. Er hat die ganze Barentssee von Osten nach Süden durchschwommen. Und im Juni ist er zu uns zurückgekehrt – fast direkt nach Longyearbyen."
    Der Zickzack-Kurs von Eisschollen durch die Barentssee, aufgezeichnet mitsamt aller Zusammenstöße, Wasserwirbel und Strömungen, liefert Marchenko Informationen über Driftgeschwindigkeit, Beweglichkeit und Aufprallenergie von Treibeis – Grundlagenforschung, mit deren Hilfe sich detaillierte Seekarten für die Schiffsnavigation erstellen lassen. Eine wichtige Erkenntnis haben die Peilsender-Studien bereits gebracht: Treibeis bewegt sich deutlich schneller als bislang vermutet wurde.
    Alexei Marchenko: "Stellen Sie sich vor, ein Tanker ist auf dem Weg zu einer Förderplattform. Für die Navigation braucht er die Information, in welche Richtung sich das Treibeis bewegt, und auf welches Tempo es sich beschleunigen kann. Nach unseren Studien liegt die mittlere Geschwindigkeit von Treibeis bei über einem Meter pro Sekunde. Es kann sogar anderthalb Meter pro Sekunde erreichen. Das ist schnell! Wenn Sie jetzt noch bedenken, dass Eisschollen bis zu einem Meter dick sein können, dann ist das ein ganz schönes Tempo."
    Wieviel zerstörerische Kraft kann Treibeis entfesseln, wenn es auf eine Stahlkonstruktion trifft? Für Ingenieure und Entwickler ist das bis heute eine nahezu unkalkulierbare Größe.
    Neue Technologien für den Umweltschutz
    Während in Tromsø, im noblen Radisson Blu, die Industrie tagt, hat die Universität zu "Arctic Frontiers" geladen - der renommierten Konferenz über die Zukunftsfragen der Arktis. Die Fachvorträge über den Zustand des sensiblen Ökosystems verheißen nichts Gutes: Die Eischmelze verläuft dramatisch, die Konzentration von Plastikpartikeln im Meerwasser steigt ebenso rasant wie die Schadstoffbelastung in der Muttermilch von Eisbären. Die Foren über die technischen Fragen der Arktiserschließung laufen im hinteren Bereich des Gebäudes. Der Jurist Roman Sidortsov vom Polarforschungsinstitut der Universität Cambridge hat den Katalog von Sicherheitsstandards untersucht, den Norwegen und Russland für die gemeinsame Erschließung der Barentssee aufgestellt haben. "Barents2020" ist in enger Zusammenarbeit von Behörden, wissenschaftlichen Instituten und Energiekonzernen entstanden - ein zukunftsweisendes Regelwerk, beispiellos in Umfang und Tiefe, lobt der gebürtige Russe – und dennoch, so drückt er es aus, "an manchen Stellen mit Luft nach oben". Doch sind die Arktis-Anrainer-Staaten, die jetzt die Industrialisierung der Polarmeere so gezielt vorantreiben, auf die Risiken der Rohstoffförderung tatsächlich vorbereitet? Etwa auf das Schreckensszenario von auslaufendem Öl, das sich unter einer geschlossenen Eisdecke ausbreitet?
    "Alle – überall auf der Welt, einschließlich der Leute hier an der Universität Tromsø - alle arbeiten wirklich hart, und kommen mit neuen Technologien heraus, die Ölpests reinigen sollen. Aber: eine Ölpest in Eis – insbesondere eine große Ölpest in Eis ... ich meine .... Also, das ist eine Sache ... puh. Ich bin nicht sicher, ob man sich mit dem bisherigen Wissensstand von Forschern und Ingenieuren eine solche Katastrophe überhaupt ausmalen könnte. Aber am Ende ist das eine politische Frage, nicht wahr?"
    Die Marketingbeauftragten der Spezialfirmen, die auf der Konferenz ihre Ölbekämpfungsstrategien mit Imagefilmen bewerben, versprechen Abhilfe durch Infrarottechnik und Multibarrierensysteme. Tatsächlich sind im Bereich Unfallverhütung und Ölpestbekämpfung in den vergangenen Jahre große Fortschritte erzielt worden, bestätigt die Soziologin Maaike Knol. Sie hat am Lehrstuhl für Fischereiwissenschaft an der Universität Tromsø eine Analyse darüber geschrieben, inwieweit Norwegens erprobte Strategien auf die vereisten Polarmeere übertragbar sind.
    "Die 'Deep Water Horizon'-Havarie im Golf von Mexiko war ein großer Unfall - schlimmer als die schlimmste Ölpest, die wir uns vorher je hätten ausmalen können. Das war ein Weckruf für den Rest der Welt. Auch Norwegen hat danach eine Neubewertung seiner Unfallverhütungsmaßnahmen durchgeführt, und neu kalkuliert, was im Unglücksfall alles zur Verfügung stehen muss – an Helfern und Ausrüstung wie Tanker und Auffang-Container. Seitdem ahnen wir die Dimension dessen, was wir alles noch verbessern müssen, wenn wir die Ausbeutung der Rohstofffelder im hohen Norden planen."
    Das Eis der arktischen Meere erhöht nicht nur die Unfallgefahr, es würde im Unglücksfall auch die Aufräumarbeiten stark behindern, sagt Maaike Knol. In den Wintermonaten, bei klirrendem Frost und Dunkelheit, könnten die Rettungsteams womöglich nicht einmal zur Unfallstelle vordringen. Öl in Eis, gibt die Expertin zu, ist auch für Spezialfirmen ein weitgehend ungelöstes Problem.
    "Mechanische Methoden wie Absaugen werden kaum funktionieren. Man kann also nur versuchen, das Öl auf chemischem Wege aufzulösen, oder es zu verbrennen. Beides hätte Umweltfolgen, die wir nicht einmal abschätzen können. Ich denke, wenn die Risiken derartig groß sind, sollte man die industrielle Erschließung der Arktis so lange aufschieben, bis man wirklich über geeignetes technisches Gerät für das Clean up verfügt. Andernfalls sollte man die Rohstoffförderung in dieser verwundbaren Weltgegend einfach sein lassen. Aber das ist meine persönliche Meinung."
    Die persönliche Meinung einer Expertin für Unfallverhütung. Sigurd Enge, Aktivist der Umweltorganisation Bellona, hätte sich auf der "Arctic Frontiers"-Konferenz mehr davon gewünscht – nicht nur in Interviews mit Medien, sondern auch auf dem Podium der Fachforen.
    "Hier sagen alle: Ja, das ist schon eine schlimme Sache, das mit der Industrialisierung der Arktis.Aber es bietet ja auch Perspektiven. Und so läuft die Sache dann weiter. Das ist hier eine reine Industriegeschichte, und keineswegs eine ganzheitliche Herangehensweise. Hier spricht das Geld, und nicht die Zukunft. Die Biologen dagegen, die in Norwegen zu Fragen der Arktis forschen, die äußern sehr klar, dass sie die Pläne für zu riskant halten. Immerhin gibt es an der Barentssee die größte Konzentration von Seevögeln der gesamten westlichen Hemisphäre. Aber wenn man eine Milliarde Liter Öl gegen ein paar Seevögel aufwiegt, dann gewinnt immer das Öl."
    Selbst Unterwasserförderstationen – sogar wenn diese zukünftig tatsächlich solide funktionieren sollten – könnten das Eis-Problem allenfalls teilweise lösen, sagte Enge. Denn auch sie müssen von der Wasseroberfläche aus aufgebaut und gewartet werden, und gegen Ölhavarien im unterseeischen Pipelinesystem sind sie nicht besser geschützt als konventionelle Stationen auch. Doch über innovative Designs, entscheidende Studienergebnisse und belastbare Risikoevaluierungen kann der Bellona-Experte nur Vermutungen anstellen, denn diese liegen in den Tresoren der Konzerne. Sie sind vom Geschäftsgeheimnis geschützt, und nicht für die öffentliche Diskussion bestimmt.
    Ense: "Das alles ist Teil eines Informationskriegs. Unabhängige Wissenschaftler, die in diesen Fragen eine Stimme hätten, gibt es nicht. Denn schließlich bekommen ja auch die Universitäten eine Menge Geld von der Öl-Industrie. Und selbst unsere großen norwegischen Forschungsinstitute, wie beispielsweise Sintef, beziehen etwa 40 Prozent ihres Einkommens von der Öl-Industrie."
    Auch Eisforscherin Natalja Marchenko aus Spitzbergen ist auf der "Arctic Frontiers"-Konferenz als Referentin geladen. "Herausforderungen des arktischen Schiffsverkehrs", heißt ihr Vortrag nüchtern, doch er enthält brisante Details. Seit die Nordostpassage für den internationalen Schiffsverkehr freigegeben ist, berichtet Marchenko, ist die Zahl der Warentransporte stark angestiegen: 2013 hat die russische Regierung weit über 600 Erlaubnisse für den Transit erteilt. Doch das Wetter war kapriziös in diesen Sommermonaten: Die Eis-Verhältnisse erwiesen sich streckenweise als deutlich schwieriger als erwartet. Trotz strenger Vorschriften gab es heftige Zusammenstöße. Erst im September riss eine Eisscholle ein Loch in eine Bordwand. Die Schiffscrew konnte die Ölhavarie verhindern, sagt Natalja Marchenko. Aber es war knapp..
    Marchenko: "Die Rettungsteams ließen eine ganze Woche lang auf sich warten. Die Medien haben später beklagt, dass Russland sich vier Eisbrecher für militärische Zwecke leistet, aber keinen einzigen für die Rettung beschädigter Tanker. In diesem Fall gab es ein Happy End. Aber so viel Glück werden wir nicht immer haben. Wir werden unsere Schiffe verbessern, und die Vorhersage des Seewetters. Aber die Natur bleibt unbeherrschbar. Herzlichen Dank an meine Projektträger, und danke für Ihre Aufmerksamkeit."