Sonntag, 28. April 2024

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Roland Barthes

Es gibt wenige Autoren, die ihre Leser so zu irritieren wußten wie Roland Barthes. An seiner Person scheitern alle Definitionen, die wachsame Hüter über Rolle und Funktion des europäischen Autors verhängt haben. Die vielfältigen Schreibweisen, weitgefaßten Text-"Sorten" des Roland Barthes setzen herkömmliche Ordnungswerte außer Kraft.

Gisela von Wysocki | 25.05.1998
    Die Allegorie, die Erzählung, das philosophische Traktat, die biografische Mitteilung, essayistische Prosa: in all diesen Formen erkannte und erkundete Roland Barthes verschiedenfarbige, differierende Erscheinungsweisen der Wahrheit. Man könnte im Hinblick auf sein proteushaftes Werk von einer Form-Explosion sprechen. Oder von einer Kern-Spaltung, bei der die versprengten Teile eines Ganzen gleichberechtigt ihre Existenz behaupten.

    In Künstlerkreisen, im Milieu der Schauspieler, Theaterregisseure und der Autoren, bedeutet der Hinweis auf die Homosexualität eines Künstlers keinen Tabubruch mehr. Man ist sich darin einig, daß hier ein durchaus eigener, spezifischer Zugriff auf die Wirklichkeit und die Wahrheit, auf den Eros und den gesellschaftlichen Alltag vermutet werden muß. Daß Unterschiede in der Wahrnehmung, daß andere Facetten im Spiel sind als bei einer eher normativ aufs "andere" Geschlecht gerichteten Libido.

    Anders in der großen, weltgeschichtlichen Manege der Wissenschaft. Hier hat die Idee einer "objektiven" Wahrheit, haben die Vorstellungen von der Neutralität des wissenschaftlichen Instrumentariums noch immer Vorrang. Der Verweis auf die Homosexualität eines Denkers scheint deplaziert; wird als Übergriff auf die Privatsphäre verstanden. Nur im Fall von Sokrates machte man eine Ausnahme, begnügte sich dann aber mit Hinweisen auf die kulturgeschichtlich vorgegebene Homophilie der antiken Intelligentsia.

    Der Schweizer Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler hat darauf hingewiesen, daß der heterosexuellen Liebe drei wesentliche Verhaltensformen zugrundeliegen: die Entscheidung, die Abgrenzung, das Ideal der Autonomie. Im Unterschied dazu sei das homosexuelle Begehren an den Wunsch nach Verschmelzung geknöpft, an das Bild des Übergangs und der Auflösung. Morgenthaler hat mit diesen Begriffen Bedeutungsräume, Felder des Verstehens gemeint. Zugänge. Die innere Dynamik von Wahrnehmungsmustern.

    Solche vorsichtigen Versuche einer Zuschreibung mögen im Hinblick auf einen so formvollendet die Formen sprengenden Denker wie Roland Barthes hilfreich sein. In dessen Werk bilden Figuren der "Verwischung", der Zusammenbruch abendländischer Genrevorstellungen den heimlichen Schwerpunkt. Man mag dies allgemein als eine Konsequenz der zeitgenössischen französischen Philosophie verstehen, die als geistige Zertrümmerungsmaschine über Systeme und Identitäten hinwegfegt. Das Werk Roland Barthes greift aber über diesen antiautoritären Gestus weit hinaus. Seine Sprachmagie, besonders in den Texten der letzten Periode, von 1977 bis 1987, und der poetisch erotische Umgang mit seinen Sujets (Japan, das Theater, die Fotografie und die Autobiografie, Alltagsmythen und Liebesriten) haben das philosophische Sprechen insgesamt in andere Horizonte versetzt. Man kann von einem geistigen Landgewinn sprechen, von neuen Raumbesetzungen des Denkens.

    In der vorliegenden Untersuchung der Berliner Autorin Doris Kolesch, die bereits Veröffentlichungen über Baudelaire, Th.W. Adorno, über Thomas Pynchon und Marguerite Duras vorgelegt hat, erscheint die Signatur der Homosexualität in Verbindung mit Barthes' geschärftem Blick für "Marginalisiertes": für an die Ränder verbannte Phänomene unserer Kultur. Seine Aufmerksamkeit für Ausgrenzungen und klischeehafte Etikettierungen mag an eigene Wahrnehmungen gesellschaftlichen Outsidertums gebunden sein.

    Doris Kolesch rückt die geistige Physiognomie Roland Barthes' in die Nähe des Nietzscheschen "Künstler-Philosophen" und gewinnt damit eine Fülle von Möglichkeiten, die komplexe Gestalt seines Denkens zu beschreiben. Daß nicht eine einfache Verlagerung der Philosophie in das Gebiet des Literarischen gemeint ist, macht die Autorin in ihrem Vorwort deutlich. "'Literatur' meint hier nicht ein geschlossenes sprachliches Kunstwerk, sondern ... ein Schreiben als Ausloten und Erproben des Sagbaren, als Erschütterung sprachlicher Hierarchien ... und als Subversion ihrer Regeln".

    Mehr als die Darstellung von Stoffen und Inhalten geht es hier um Beschreibungen, die die innere Dramatik des Sprechens, das Abenteuer des Expressiven untersuchen. Im Zentrum der Betrachtung steht die plastische, die impulsive, "polyphone" Erscheinung des Bartheschen Ouevres. Sicherlich nicht ohne Bedeutung, daß diese Untersuchung von einer Autorin verfaßt wurde, die als Theaterwissenschaftlerin Einblick in die szenische Struktur, in den theatralischen "Haushalt" kultureller Phänomene hat. Sie rückt die "Kunst der Gebärde", die in den Texten des französischen Philosophen den Reiz instabiler Zustände hervorzaubert, vor die Augen des Lesers. Eher handelt es sich also um Modulationen, um spielerisches Verkoppeln, um Gestik und Körperlichkeit der Motive denn um den Staatsstreich der Benennung; der Bejahung oder der Verneinung. Das Ringen um unumstößliche Erkenntnis wird auf diese Weise unterhöhlt, der Sinn wird durchlässig: ertastbar wie ein Bühnentext.

    Roland Barthes selbst hat seine Texte als "Gewebe" bezeichnet. In diesem Gewebe. so heißt es bei ihm, "löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in den Sekretionen ihres Netzes aufginge". In dieses "Netz"-Werk führt uns Doris Kolesch ein, die vom "Aufbrechen und Zerspielen etablierter Regeln und Codes" schreibt. Ihre Analyse zeigt auf die Minidramen in den Sätzen von Barthes, auf den Taumel des Sinns. Taumel aber heißt bei ihm: tänzerische Qualität.