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Roland Roth, Dieter Rucht: Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz?

Zunächst geht es heute um Jugendkulturen, dann Biotechnologie und Umweltschutz. Weiter rezensieren wir die Autobiografie von Klaus Staeck, stellen die Biografie über die CDU-Vorsitzende Angela Merkel vor. Und am Ende der Sendung dann die ersten beiden Bände einer geplanten zehnbändigen Edition der Reden und Aufsätze von Willy Brandt. Eine Bestandsaufnahme und Analyse jugendspezifischer Sub- und Gegenkulturen haben Roland Roth und Dieter Rucht herausgegeben. Es handelt sich um einen Sammelband, der deutlich macht, wie sich Jugendkulturen schnell verändern und deren politische Dimensionen den Erwachsenen zumeist verborgen bleiben. Es geht dabei nicht nur um manifeste politische Botschaften von Jugendlichen, sondern auch um verdeckte und subtile Muster von Eigensinn und Widerspruch, die mit einem konventionellen Politikbegriff nicht fassbar sind. "Jugendkulturen, Politik und Protest" - eine Rezension von Stephan Haufe.

Stephan Haufe |
    Musik: Oktoberklub: Sag mir wo du stehst, sag mir welchen Weg du gehst...

    16 Wissenschaftler aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen mögen u.a. diese Fragen an die Jugend von heute gerichtet haben. Herausgekommen ist die Aufsatzsammlung "Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz" (Fragezeichen). Zusammengestellt wurde sie von Roland Roth, Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Magdeburg-Stendal, und von Dieter Rucht, Professor für Soziologie an der University of Kent at Canterbury.

    Die Aufsätze zeigen im wesentlichen auf, wie sich Jugendliche abzugrenzen versuchen von vorgelebten Werten und Normen. Zentral ist für die Wissenschaftler daher die Frage : Wie bilden sich eigene kulturelle Milieus und nicht zuletzt Protestformen unter der jungen Generation heraus? Arnd-Michael Nohl, Erziehungswissenschaftler an der Freien Universität Berlin und einer der Autoren des Buches, erklärt, warum besonders Jugendliche zu Protestformen und Gegenkulturen neigen:

    Arnd-Michael Nohl: "Das liegt daran, dass junge Menschen ohnehin nach Orientierung suchen und dabei nicht unbedingt die Wertmaßstäbe haben, die die Erwachsenenwelt für sie bereithält. Dazu kommt, dass die Jugendphase auch ein - man nennt es - Moratorium ist, eine Phase, in der die wichtigen Dinge des Lebens noch nicht so dringend sind, wie z.B. einen Beruf zu erlernen oder eine Familie zu gründen. In so einer Phase des Moratoriums hat man eher die Freiheit, sich von den Normalitätserwartungen einer Gesellschaft zu distanzieren."

    Zum Beispiel die Weststadtbreakers - eine BreakdanceGruppe aus dem Westen Berlins. Vorwiegend junge Türken gehören der Tanzgruppe an. Nohl hat sie beobachtet und Mitglieder der Gruppe interviewt. Er nennt die Gründe, warum Jugendliche sich häufig ein eigenes, abgegrenztes Milieu schaffen wollen:

    Arnd-Michael Nohl: "Die Jugendlichen, deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind, empfinden in doppelter Weise eine Distanz zu den bereits existierenden Lebensweisen. Zum einen gegenüber der Aufnahmegesellschaft, in der sie unter anderem mit Diskriminierung konfrontiert werden. Zum anderen erleben sie eine Distanz zu ihren Eltern und deren Denk- und Lebensweise, die sich weniger am Leben hier in Deutschland orientiert, sondern viel stärker noch orientiert ist am Leben im türkischen Dorf. In dieser doppelten Distanz von althergebrachten Lebensweisen kann es vorkommen, dass die Jugendlichen eben ein eigene Lebenspraxis finden. Eine solche Praxis finden sie, indem die Jugendlichen ausprobieren, indem sie sich in bestimmte Handlungen hineinbegeben, ohne großartig darüber nachzudenken, aber im Nachhinein sie dennoch reflektieren."

    Der Band "Jugendkulturen Politik und Protest" liefert dem Leser neben einer Einführung in Begriffe der soziologischen Jugendforschung vor allem Kenntnisse zu zwei Bereichen. Er erfährt zunächst etwas über die Entwicklung der Jugendproteste in der Bundesrepublik. Bestimmte Lebenssituationen und Milieus der heranwachsenden Generationen werden genauer betrachtet. Ein zweites Feld, das in dem Buch erörtert wird, ist die Struktur von Protestbewegungen und basisdemokratischen Organisationen.

    Darauf, wie sich jugendliche Bewegungen in der DDR gebildet haben, geht der Band leider nicht ein. Das ist kritikwürdig, weil das Buch den Anspruch erhebt, in der Hauptsache die Entwicklung deutscher Jugendbewegungen zu skizzieren.

    Das Buch steht unter der Frage, in welche Richtung verwandeln sich Jugendbewegungen. "Vom Widerstand zum Kommerz?" lautet thesenhaft der Untertitel. Wird sich die Demonstrationslust der jungen Generation darauf reduzieren, vor dem Big-Brother-Container aufzumarschieren, um den Auszug eines unbeliebt gewordenen Bewohners zu fordern? Ist die seichte Losung der Love-Parade: "Wir haben uns alle lieb" bereits auf dem Weg, wirklich politische Spruchbänder zu ersetzen? Nein, so einfach ist es nicht.

    Die heutigen Bestimmungen der kulturellen Entwicklung, zusammengefasst unter dem Begriff der Postmoderne, bringen nicht nur die neue Erlebnis- oder Fun-Kultur hervor. Entideologisierung und/oder Globalisierung sind auch an Ängste gebunden. Diese können Ursachen für aggressive politische Bewegungen sein, wie etwa beim Rechtsextremismus. So schreiben es Roth und Rucht in ihrem Beitrag "Jugendliche heute: Hoffnungsträger im Zukunftsloch?". Zu den Einstellungen Jugendlicher von heute meinen die Autoren:

    "Es fällt leicht die veränderten Lebensbedingungen von Jugendlichen in ihren dominanten Orientierungen aufzuspüren. Sie machen z.B. ihre verstärkte Erlebnisorientierung nur allzu verständlich. Wenn ich schon keine rosige Zukunft vor mir habe, dann möchte ich doch wenigstens mein Leben jetzt und hier intensiv genießen. Wenn ich von den Erwachsenen um gesicherte Zukunftsperspektiven betrogen werde, sind mir meine Subkulturen und Musikszenen mit Gleichaltrigen um so wichtiger."

    Und weiter heißt es:

    "Rechte Subkulturen haben Erfolg, weil sie Jugendlichen ein Aufwertungsangebot machen. Sie bieten eine Legitimationsfolie für Ausgrenzungen anhand ethnischer Linien, sichern die alte Geschlechterordnung und preisen das sozialdarwinistische "survival of the fittest" mit seinem Haß auf die Schwachen und die Opfer der neuen Wirtschaftsordnung."

    Die Aufsätze beschwören keine Ursachen für bestimmte negative Entwicklungen innerhalb der Jugendkulturen. Vielmehr wird anhand von Zahlen-Material, Umfrage-Ergebnissen, biographischen Interviews und Feldforschungen versucht, ein objektives Bild davon zu geben, wo und wie Jugendliche für ihre Standpunkte eintreten.

    Und noch ein weiterer wichtiger Aspekt der Untersuchungen sei erwähnt. Am Beispiel der Hausbesetzer-Szene von Leipzig-Connewitz und der Chaos-Tage in Hannover wird gezeigt, wie Politik und Polizei auf jugendlichen Proteste reagieren. Nur selten wird versucht zu begreifen, warum junge Menschen gegen die öffentliche Ordnung aufbegehren. Das zeigen die beiden Beispiele deutlich. Eher reduzieren sich Amtsträger und Ordnungmacht stur darauf, Rebellionen und abweichende Lebensformen im Namen der öffentlichen Ordnung zu bekämpfen. Nicht nur Jugendlichen, sondern auch den Erwachsenen - vor allem Politikern und Polizisten - ist die Lektüre des Buches zu empfehlen. Denn es kommt doch immer wieder darauf an, zu fragen, um zu verstehen...

    Musik: Oktoberklub: Sag mir wo du stehst, sag mir welchen Weg du gehst...

    Der von Roland Roth und Dieter Rucht herausgegebenen Sammelband "Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz?" ist erschienen im Verlag Leske + Budrich. Leverkusen 2000, umfasst 306 Seiten und kostet 48 Mark.