Montag, 13. Mai 2024


Rolf Biedlingmaier

Persische, mongolische, russische Eroberer - sie alle hinterließen ihre Spuren in den Tälern, Schluchten und Hochebenen Georgiens. Die Trauer um Verschleppte, Vermisste und Gefallene hat sich in vielen Liedern der Kaukasusvölker verewigt, ist weitergegeben worden an die nachwachsenden Generationen. Die biblisch-archaische Klage um den verlorenen Sohn hat dort ihren stets wiederkehrenden, festen Platz eingenommen.

Robert Baag | 16.06.2001
    Immer wieder - bis in die jüngste Vergangenheit - verlor Georgien Menschen, darunter viele, die einst gekommen waren, im sonnendurchglühten Süden ihr Glück zu machen. Tataren, Griechen - und, vor knapp zweihundert Jahren, dann auch Deutsche: Winzer-Großfamilien aus Schwaben, die von den fruchtbaren Weinböden gehört hatten.

    Die Enge der Heimat, der kriegslüsterne französische Kaiser Napoleon... auch dies machte ihnen die Entscheidung leichter, zur langen Reise an den äußersten südöstlichen Rand Europas aufzubrechen. Und nicht zuletzt:

    Die dachten, also die Führer, sie hatten ihnen erzählt, dass im Kaukasus kann man das 1000-Jahrhundert erleben. So wie der Noah auf dem Berg Ararat - da kann man finden die Zukunft.

    Rolf Biedlingmaier hat den Exodus seiner Vorfahren aus dem schwäbischen Plochingen Anfang des 19. Jahrhunderts nachrecherchiert. Er und seine Vorfahren sind Russlanddeutsche, eigentlich: Kaukasusdeutsche. Sie lebten in dem von ihnen 1818 gegründeten Ort Katharinenfeld, etwa 50 Kilometer von der georgischen Hauptstadt Tiflis entfernt.

    Die Hoffnung der Biedlingmaiers auf Wohlstand erfüllte sich. Fotos um die Jahrhundertwende zeigen großzügige dreistöckige Anwesen mit einem umlaufenden Holz-Balkon im kaukasischen Laubenstil - gekrönt indes von drei abgewinkelten, zeltförmigen Dächern, wie sie auch im Voralpenland zu finden sind. Davor: Selbstbewusst blickende Erwachsene, Frauen im hochgeschlossenen dunklen Rüschenkleid, die Männer mit imposanten, üppigen Vollbärten - alles umringt von einer vielköpfigen Kinderschar.

    Doch nur wenige Jahrzehnte sollten vergehen, bis diese Idylle für immer verschwand: Erster Weltkrieg, der kommunistische Oktoberumsturz von 1917, der ohnehin eher schwach ausgebildete russische Mittelstand wird "vogelfrei", als "Klassenfeind" gebrandmarkt. Auch Mittel- und Großbauern wie die Biedlingmeiers in der kaukasischen Provinz geraten ins Visier der neuen Machthaber, der "roten" Zaren.

    "Dies war die Zäsur", sagt Biedlingmeier, "zum ersten Mal, Mitte der 20er Jahre war das, da überlegten sich viele Kaukasus-Deutsche, wieder in die Heimat der Vorväter zurückzukehren:

    Es war ja so: Etliche Deutsche haben noch die (deutsche Staats-)Bürgerschaft gehabt. Und als die Kollektivierung angefangen hat, da wollten ja viele Deutsche nicht ins Kollektiv, in die 'Kolchose'. Und dann haben sie gesagt: Oder rein oder weg.

    Aber bald gab es auch diese Alternative nicht mehr. Die Stalin'schen Massenverhaftungen machten auch vor den Familien der Russlanddeutschen nicht halt. Und die Grenzen der UdSSR waren unüberwindbar geworden.

    Als dann am 22. Juni '41 die deutschen Truppen in die Sowjetunion einfielen, änderte sich zunächst nicht sonderlich viel in "Luxemburg" - denn so hieß Katharinenfeld inzwischen zu Ehren der deutsch-polnischen Radikalsozialistin Rosa Luxemburg.

    An diesen Sommer kann sich der damals knapp 5-Jährige auch nach all den Jahren noch gut erinnern:

    Da war nix los! Da war nix los! - Bis auf einmal - ich weiß nicht - da was vom Himmel fiel. Der Befehl, dass man sich zusammen... drei Tage war das - und (dann) mussten wir weg - der 20.Oktober war das!

    Die Stalin-Verordnung über die - Zitat- "Umsiedlung der Wolga-Deutschen" vom August 1941 griff nun auch brutal nach den Biedlingmaiers. Ihr Leben änderte sich von Grund auf. Sie mussten in die Verbannung, nach Zentralasien - Endstation: Gebiet Pawlodar in Kasachstan. Soldaten des sowjetischen Innenministeriums NKWD trieben die urplötzlich Verfemten an:

    Die ganze Familie saß auf dem Auto, mitnehmen konnten wir nur das, was wir in den Händen tragen konnten, ja? Und ganz gut kann ich mich erinnern an das, dass wir hatten einen weißen Hund, 'Flock'. Und der lief hinterm Auto... lief, lief, lief, bis er nicht mehr konnte - und so ist er zurückgeblieben. Dann kamen wir nach Sandar an und das, was mir so ins Gedächtnis gefallen ist: Ich hab niemals so einen Waggon gesehen, ja? - Den ersten Eisenbahn-Waggon meines Lebens hab ich da gesehen. Und da gingen wir rein.

    Zur gleichen Zeit stieß die Wehrmacht - unaufhaltsam, wie es schien - tief in sowjetisches Gebiet vor. Die Ukraine - bald war sie in deutscher Hand.

    Auch dort hatten mehr als 150 Jahre viele deutsche Kolonisten gelebt. Unter ihnen nicht wenige, die den stürmischen Vormarsch der deutschen Armeen begrüßten, die "heim ins Reich" wollten, wie die damals geläufige Nazi-Parole lautete. Ins besetzte Polen, in den sogenannten "Warthegau" siedelten die deutschen Behörden sie um. Dass dafür aber Polen ihre Häuser, ihre Anwesen räumen mussten, verschwiegen Propaganda-Sendungen wie etwa über diese Feierstunde zu Ehren von Ukraine-Rücksiedlern. Nur das eigene Leid interessierte:

    Außerhalb der Grenze unseres großen, deutschen Vaterlandes haben wir immer uns zum Deutschtum - aufgrund unseres Blutes - bekannt. Es war oft bitter und schwer, wenn oft ganze Familien weit nach Norden verschickt wurden, wo wir Arbeiten verrichten mussten. Es ist durch unseren großen Führer, Adolf Hitler, auch diese Frage gelöst.

    Angesichts solcher Töne: Hatten Stalin und seine Spießgesellen eine vielleicht doch nicht ganz aus der Luft gegriffene Angst vor einer russlanddeutschen "Fünften Kolonne", vor gut anderthalb Millionen potentieller Kollaborateure also, die der Roten Armee in den Rücken fallen konnten? - "Nein." - Biedlingmaier schüttelt den Kopf. Die Russlanddeutschen seien Stalin doch schon vor dem Krieg ein Dorn im Auge gewesen:

    Der Stalin wollte die Deutschen verstreuen im ganzen Land, damit die nicht zusammenleben. Egal, ob Krieg oder nicht. Und als der Krieg war, um das zu lösen, war ihm das gut in die Hände gefallen, das zu machen, ja?

    Kasachstan sollte für Rolf Biedlingmaier und seine Angehörigen bis Anfang der 90er Jahre unfreiwilliges Heimatland bleiben. Hunger und Not prägten zunächst die Kriegs- und die ersten Nachkriegsjahre. Immerhin: Wenigstens sein Vater kehrte 1948 unversehrt aus der sogenannten "Trud-Armija" zurück. Dort hatte er in einem Kohle-Bergwerk Zwangsarbeit leisten müssen.

    1992 dann verließen der Maschinenbau-Ingenieur Rolf Biedlingmeier, seine russische Ehefrau Tamara sowie die beiden Söhne Eugen und Eduard Kasachstan für immer.

    Katharinenfeld im Kaukasus ist für den mittelgroßen, agilen Rolf Biedlingmaier nur noch eine Kindheitserinnerung. Eine Rückkehr dorthin kommt für niemanden aus seiner Familie in Frage. Aber zu Besuch dorthin zu fahren, das hat er fest vor, noch in diesem Sommer. Jetzt, sagt der knapp 65-Jährige und kneift unternehmungslustig die Augen zusammen, jetzt...

    ... möchte ich noch mal reingucken. Ich kenn ja das Dorf von Erzählungen meiner Eltern. Und von den vielen Fotos, die wir haben. Aber persönlich möchte ich's kennen lernen jetzt!