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Rolf Steininger : Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958 - 1963

Bis heute wird über die Rolle der westlichen Schutzmächte Berlins in den Tagen des Mauerbaus gerätselt. Nicht selten wurde insbesondere den USA unterstellt, sie wären über die Pläne Ulbrichts durch ihre Geheimdienste vorab bestens informiert gewesen - und ebenso oft ist der Vorwurf laut geworden, der Westen hätte damals dem Mauerbau nicht energisch genug paroli geboten. Zur Rolle der Westmächte in jenen Tagen ist jetzt im Olzog-Verlag eine Dokumentation erschienen, die auch bislang gesperrtes Aktenmaterial auswertet.

Eckhard Jesse | 13.08.2001
    Der Mauerbau hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben. Fast jeder weiß noch, wo er sich seinerzeit aufhielt, als Kunde von den Absperrmaßnahmen zu ihm drang. Das trifft auch auf Rolf Steininger zu, den Verfasser eines neuen, quellengesättigten Buches über den Weg zum Bau der Mauer. Er machte seinerzeit - gemeinsam mit seinem Bruder - zum ersten Mal Urlaub in Spanien. Sie waren auf dem Campingplatz die einzigen mit einem Radio, das deutsche Programme empfangen konnten. So bildete sich um ihr Auto eine Traube Neugieriger. Einige beendeten den Urlaub und fuhren nach Berlin zurück, um gegen die als lasch empfundene Haltung des Westens zu protestieren.

    Der Autor, ein in Innsbruck lehrender Zeithistoriker, vermeidet ansonsten autobiographische Anekdoten. Er geht der Frage nach, wie es zu diesem einschneidenden Ereignis gekommen ist, und untersucht kritisch die Reaktion der Westmächte. Die mit vielen neuen Details aufwartende Arbeit fußt auf amerikanischen und englischen Geheimakten, deren Freigabe nicht immer leicht zu erreichen war. Der chronologisch angelegte Band reicht vom Berlin-Ultimatum Chruschtschows im November 1958 über die Genfer Außenministerkonferenz 1959, die Pariser Gipfelkonferenz 1960, das Treffen Kennedys mit dem sowjetischen Regierungschef im Juni 1961 bis zum Mauerbau und seinen Folgen. Die Berlin-Krise von 1958 bis 1963 wird als einheitliche Phase betrachtet.

    Im November 1958 richtete die Sowjetunion ein Ultimatum an die Westmächte, Westberlin in eine selbständige politische Einheit umzuwandeln. Geschähe das nicht innerhalb eines halben Jahres, werde die Sowjetunion diese Maßnahmen im Einvernehmen mit der DDR treffen. Wie Steininger zeigen kann, war sich der Westen nicht einig, was Chruschtschow mit seinem Vorschlag bezweckte. Adenauer, von de Gaulle unterstützt, befürchtete Konzessionen des Westens und ermunterte Harold Macmillan, den er als das schwächste Glied in der Allianz ansah, zum Durchhalten:

    Wir haben ja die Erfahrung gemacht, dass die Sowjets jedes Mal dann zurückgewichen sind, wenn ihnen energischer Widerstand entgegengesetzt wurde, und ich bin überzeugt, dass die Russen auch im Falle Berlins bei einer klaren und eindeutigen Haltung der für die Freiheit der Stadt verantwortlichen Mächte nichts unternehmen werden, was den Frieden gefährden könnte. Wir haben aber auch wohl die Erfahrung gemacht, dass schon jeder Schein von Nachgiebigkeit bei klarer Rechtslage die Sowjets veranlasst hat weiterzugehen.

    Angesichts der Festigkeit der Westmächte - hinter den Kulissen ging es nicht so einvernehmlich zu - rückte Chruschtschow allmählich von seinen Forderungen ab. Die Westmächte suchten ihre Interessen in Berlin zu wahren, wollten aber die Sowjetunion nicht provozieren.

    Ende Juli 1961 formulierte der neue amerikanische Präsident John F. Kennedy in einer Rede mit Blick auf das westliche Berlin seine drei berühmten "essentials", die es zu verteidigen gelte: Präsenz der Westmächte, freier Zugang nach Berlin, Freiheit für das westliche Berlin. War die Rede einerseits offensiv angelegt (sie kündigte eine Truppenverstärkung an), so enthielt sie andererseits eine Formulierung, die der Sowjetunion angesichts des nicht versiegenden Stroms an Flüchtlingen einen Fingerzeig gab.

    Heute verläuft die gefährdete Grenze der Freiheit quer durch das geteilte Berlin. Wir wollen, dass sie eine Friedensgrenze bleibt.

    Laut Steininger hat maßgeblich die Rede Kennedys Chruschtschow zum Umdenken bewogen. Dieser habe erkannt, dass der amerikanische Präsident zwar nicht zurückweiche, aber zugleich der Sowjetunion einen Freibrief für ihre Interessensphäre ausstelle. Die von Walter Ulbricht gewünschte Abriegelung Ostberlins fand nun die Zustimmung des sowjetischen Regierungschefs. Gegenüber Walt Rostow, einem politischen Berater, hatte Kennedy noch vor dem Mauerbau hellsichtig geäußert:

    Chruschtschow ist dabei, Ostdeutschland zu verlieren. Das kann er nicht zulassen, denn wenn er Ostdeutschland verliert, wird er Polen und ganz Osteuropa verlieren. Er muss etwas tun, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen - vielleicht eine Mauer bauen. Und wir werden das nicht verhindern können. Ich kann das Bündnis zusammenhalten, um West-Berlin zu verteidigen, aber nicht, um den Zugang nach Ost-Berlin offen zu halten.

    Ungeachtet aller Proteste fanden sich die Westmächte mit dem Mauerbau ab und verzichteten auf wirtschaftliche Gegenmaßnahmen. In der Folge klaffte die Interessenschere zwischen den Westmächten und denen der Bundesregierung auseinander - mehr noch als vor dem Mauerbau. Nur mehr halbherzig setzten sich die westlichen Partner für die deutsche Einheit ein. Allmählich versandete die Berlin-Krise. Auch im Schatten des Kuba-Konflikts von 1962 hielt sich die in die Defensive gedrängte Sowjetunion mit einer Verschärfung der Situation in Berlin zurück. Das Atomteststoppabkommen vom Sommer 1963 signalisierte die neue Entwicklung. Entspannung - zumindest ein Modus Vivendi - stand auf der Tagesordnung. Allerdings: Der Westen Berlins, der nicht aufgegeben worden war, blieb ein Pfahl im Fleisch der DDR. Leider wird die Entwicklung bis zum Viermächteabkommen des Jahres 1971 nicht nachgezeichnet.

    Steininger ist ein scharfer Kritiker des Westens, besonders von Großbritannien. Über den britischen Premierminister Harold Macmillan, der die Wiedervereinigung nicht gewollt habe, urteilt er hart und unnachsichtig. Dabei stützt er sich auf zahlreiche Aussagen des konservativen Regierungschefs.

    Macmillan war in vielfacher Hinsicht der beste Verbündete Chruschtschows und betrachtete sich in postkolonialer Überheblichkeit und Selbstüberschätzung geradezu als die Führungsgestalt des Westens.

    Konrad Adenauer, der in früheren Publikationen Steiningers nicht immer gut weggekommen war, weil er nicht entschlossen genug die Wiedervereinigung Deutschlands betrieb, gilt nun als ein Politiker, dem es gelungen ist, das Schlimmste zu verhüten. Der "Alte von Rhöndorf" habe in der Berlin-Krise an Statur gewonnen. Ließ er gegenüber der harten Linie von Außenminister John Foster Dulles Zurückhaltung erkennen, wandte er sich später ebenso gegen die auf einen Ausgleich mit der Sowjetunion bedachte Politik Kennedys und seines Außenministers Dean Rusk, die ihm auf Kosten der Deutschen zu gehen schien. Für Steininger ist die Wendung nach Frankreich im wesentlichen eine Reaktion auf die als enttäuschend empfundene Politik der USA und vor allem Großbritanniens. Da de Gaulle Adenauer unterstützte, wurde auf diese Weise der deutsch-französische Vertrag von 1963 Wirklichkeit.

    Der Autor hat in seinem anschaulich geschriebenen Buch eine Fülle neuer Quellen ausgegraben, die kein gutes Licht auf die Wiedervereinigungspolitik des Westens werfen. Allerdings nimmt er die Aussagekraft der Quellen zum Nennwert. Zudem zieht er solche aus französischen und russischen wie auch deutschen Archiven kaum heran. (Freilich ist hier die Quellenlage schlechter.) Insofern dürfte es ratsam sein, hinter manche apodiktisch formulierte Aussage ein Fragezeichen zu setzen. Ein weiteres Manko der ausgiebigen Zitierung von Quellen zeigt sich darin, dass der Leser zuweilen den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Steininger benutzt vor allem solche - keineswegs immer repräsentativen - Dokumente, die Gegensätze zwischen den Westmächten und den Deutschen verdeutlichen. Es bietet sich jedoch auch die Interpretation an, dass es der Sowjetunion letztlich nicht gelungen ist, einen Keil in die westliche Allianz zu treiben.

    Die angedeutete Behauptung, die Westmächte seien vom Mauerbau nicht so überrascht gewesen, wird wenig überzeugend mit Dokumenten aus verschiedenen Jahren belegt: Eine Abriegelung Ostberlins sei möglich. Die Diplomatie der Westmächte musste eine solche Maßnahme in der Tat erwägen. In Wirklichkeit wurde der gesamte Westen von der Aktion überrumpelt, wie Steininger an anderer Stelle selbst einräumt.

    Obwohl der Mauerbau die Spaltung Deutschlands zu zementieren schien, wurde der "antifaschistische Schutzwall", wie das Regime ihn zynisch nannte, nach 28 Jahren hinfällig. Der Freiheit folgte schnell die Einheit. Die Zeit ohne Mauer beträgt - von 1945 an gerechnet - mittlerweile auch 28 Jahre. Die Frage, wieso es trotz aller innen- und außenpolitischen Vorkehrungen dazu gekommen ist, beantwortet Steininger in einem Ausblick leider nicht. Vielleicht war - paradox genug - die Festigung der DDR eine Voraussetzung für ihren Zusammenbruch. Die Geschichte geht manchmal verschlungene Wege. Noch aus einem anderen Grund wäre ein Blick auf 1989/90 sinnvoll gewesen. Dann hätte sich gut zeigen lassen, dass die USA später so an der Seite der Deutschen standen wie Frankreich drei Jahrzehnte zuvor. Die Kontinuität in der britischen Deutschlandpolitik - von Harold Macmillan bis zu Margaret Thatcher - hingegen ist auffallend.

    Rolf Steininger: Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958 - 1963. Das Paperback ist erschienen im Olzog Verlag München. 411 Seiten, Preis: DM 36,-

    "13. August 1961: Mauerbau / Fluchtbewegung und Machtsicherung" ist eine Schrift von Bernd Eisenfeld und Roger Engelmann betitelt, die in der Edition Temmen, Bremen, aktuell erschienen ist. Der reich mit Fotos und Faksimiles illustrierte Band, Umfang 120 Seiten, ist im Buchhandel für DM 19.90 zu haben. Die Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin bietet eine Paperback-Ausgabe für DM 10.- Schutzgebühr an. Eine lohnende Investition, denn die Autoren, beide in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde tätig, haben eine kompakte, fundierte, faktengesättigte Darstellung der politischen Vorgänge um den 13. August 1961 geschaffen. Sie skizzieren die Vorgeschichte der Berliner Mauer - Stichwort: Chruschtschow-Ultimatum! Sie hellen die Hintergründe auf - Stichwort: Fluchtbewegung aus der DDR! Und sie beleuchten Aspekte des Alltagslebens im geteilten Berlin. Schließlich schildern sie eindringlich dramatische, teils tragische Flüchtlingsschicksale wie den Fall Günter Litfin, des ersten Opfers, das elf Tage nach der Sperraktion in der Spree erschossen wurde. Zudem präsentieren sie bislang unveröffentlichte Stasi-Akten, die anschaulich machen, wie auch der Überwachungs- und Unterdrückungsapparat Erich Mielkes in die Bekämpfung der sogenannten Republikflucht eingebunden war. Eine Publikation, die solide informiert und sich daher auch für den Geschichtsunterricht an Schulen und für die politische Bildungsarbeit vorzüglich eignet. Weitergehende Literaturhinweise können Sie im Internet unter www.chronik-der-mauer.de finden.