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Roman über einen Verlust

"Jene Sehnsucht nach Gewissheit" von Madeleine Thien ist ein Roman gegen das Vergessen. Als Leser hat man Mühe, sich im komplizierten Aufbau des Buchs zurechtzufinden, das ständig zwischen den Kulturen und Kontinenten hin- und herpendelt, dabei auch genaue Zeit- und Ortsangaben vernachlässigt. Man muss sich dem Bewusstseinsstrom einer Erzählerin anvertrauen, die keine historischen Erkenntnisse anstrebt.

Von Marli Feldvoß | 03.09.2007
    Kaum hat der Roman begonnen, schon ist die vermeintliche Hauptfigur, die Rundfunkjournalistin Gail, wieder verschwunden. Nur ein vom vielen Durchblättern abgegriffener Stapel Papier, ein Radiologiebefund, ein EKG der Verstorbenen liegen noch bei Ansel auf dem Schreibtisch. Das Haus, das sich Gail und Ansel vor zehn Jahren im ältesten Stadtteil von Vancouver gekauft haben, ist verwaist.

    "Er begreift, dass sie nicht mehr hier ist, dass es plötzlich und unwiderruflich geschah, doch dieses Begreifen ist wie ein Moment, der sich über tausend Stunden erstreckt, ein fortlaufender Gedanke, der versucht, sich selbst zu vergessen. Und dann, wenn das mißlingt, zu feilschen, alles zu verändern, einzuschlafen und zu einem anderen Zeitpunkt zurückzukehren. 'Zeit', hat Gail einmal gesagt, während er in ihren Armen einschlief, 'ist das einzige, was wir brauchen.'"

    Ganz in der Nähe leben Gails Eltern Matthew und Clara. Seit er seine einzige Tochter verloren hat, scheint Matthew wie verwirrt. Die seit langem vertraute Umgebung in Vancouver, Kanada, seine zweite Heimat, ist ihm fremd geworden. Umso schärfer treten indessen die Erinnerungen an die Kindheit in den 40er Jahren hervor, an die Leila Road, die sich am Stadtrand von Sandakan in Britisch-Nordborneo den Hügel hinaufschlängelt, an die Kautschukplantage des Vaters, an Jugendliebe Ani, mit der er von klein auf herumgezogen ist. "Chaos", die Überschrift des ersten von neun Kapiteln, verweist auf einen Seelenzustand, aus dem sich Stück für Stück die verschiedenen Lebenslinien des Romans herauskristallisieren werden.

    "Für mich stehen die Lebensgeschichten von Matthew und Ani im Zentrum des Buchs. Die Entfernung und die Nähe zwischen ihnen. Die Art und Weise wie sie in ihren jungen Jahren den Krieg erleben, wie sie mit persönlichen Verlusten und der Brutalität des Krieges konfrontiert werden. Auf diesem Hintergrund müssen die beiden dann unterschiedliche Entscheidungen treffen, wie sich ihr Leben weiter entwickeln soll. Man kann sie durchaus als das Zentrum ansehen, um das die anderen Figuren kreisen. Anders gesagt: Wir werden von Matthew oder Ani zu den anderen Figuren des Romans hingeführt. Matthew ist außerdem der Schweigsamste von allen. Er ist am wenigsten in der Lage ausdrücken, was die Kriegsfolgen für ihn und für seine Nächsten bedeutet haben."

    Matthew und Ani sind wie zwei Königskinder, die nach dem Krieg nur noch einmal für kurze Zeit zusammengefunden haben. Wie wir erst später erfahren, wollte Ani dem Werdegang Matthews und seinem Studium in Melbourne nicht im Wege stehen. Matthew hat dann die aus Hongkong stammende Clara geheiratet und ist nach Kanada ausgewandert. Ani zog nach Jakarta. Matthew und Ani sind jedoch das Paar, das den erzählerischen Grundstein für das titelgebende Thema "Gewissheit" legt, das eigentlich den Zustand der Ungewissheit meint: das nagende Gefühl, von dem alle Figuren des Romans mehr oder weniger befallen sind. Alle Beteiligten werden aus ihrer Perspektive und aus ihrem jeweiligen Wissen heraus die Bausteine zusammentragen, die schließlich zur Aufdeckung des von Ani gut gehüteten Geheimnisses führen: dass sie damals schwanger war und dass der von ihr allein aufgezogene Wideh Matthews Sohn ist. Gail ist bei alledem die treibende Kraft. Sie ist zufällig auf einen Brief aus dem Jahre 1992 gestoßen, durch den ihr Vater von Anis Tod erfahren hat. Sie hatte bis dahin noch nie etwas von der Jugendliebe ihres Vaters gehört. All das spielt sich auf dem Hintergrund der politischen Neuordnung Indonesiens nach dem Kriege ab, der Regierung Sukarnos und des Staatsstreichs von 1965, in dessen Verlauf einer der größten politisch motivierten Völkermorde stattfand, der im Anschluss Oberbefehlshaber Suharto an die Macht brachte.

    "Eines der Dinge, die diese Figuren neben der Historie und der Familienbande zusammenhält, ist die Tatsache, dass ihre Fragen sehr ähnlich sind. Ich denke, dass alle in ihrem Leben an einen Punkt gelangt waren, wo sie eine wichtige Entscheidung zu treffen hatten, eine Entscheidung fürs Leben. Sie hoffen alle, dass es die richtige Entscheidung war. Aber das ist so nicht zu haben. Man muss den Sprung wagen, man muss seine Entscheidung auf Grund dessen treffen, was man weiß und wie man sich die Zukunft vorstellt. Deshalb ist der deutsche Titel 'Jene Sehnsucht nach Gewissheit' näher an der wahren Bedeutung, näher als der englische Titel 'Certainty'. Was im Kern gemeint ist, ist eben diese Sehnsucht nach der richtigen Entscheidung. Mit dieser Gratwanderung müssen wir leben. Wir müssen akzeptieren, dass man es nicht wissen kann, aber wir müssen ebenso akzeptieren, dass man um die Entscheidung nicht herum kommt."

    Die bohrende Frage nach Gewissheit muss man auch als Antriebskraft der Autorin selbst betrachten, die im Frühling 2000 mit 26 Jahren zum ersten Mal am Hafen von Sandakan stand. Sie wollte unter anderem nach ihrem seit dem Krieg verschollenen Großvater forschen, jenem auch in den Roman eingegangenen Plantagenbesitzer, der als Kollaborateur und Geheimnisträger bei Kriegsende mutmaßlich von der japanischen Besatzung liquidiert wurde. Die philosophisch-literarische Metapher "Gewissheit" ist also eigentlich mit der Fragestellung "Identitätssuche" zu übersetzen. Gail wiederum, die durchaus Züge eines Alter ego der Autorin trägt, unternimmt im Rahmen ihrer Arbeit eine Recherchereise in die Niederlande, um den Code eines kanadischen Kriegstagebuchs zu entschlüsseln und Kontakt zu dem mittlerweile über 70-jährigen Kriegsfotografen Sipke Vermeulen aufzunehmen, der Anis Ehemann wurde. Von einem Alter ego namens Gail will Madeleine Thien, danach befragt, aber nichts wissen. Wenn sie allerdings über Gails Montagetechnik für ihre Radiofeatures schreibt, hat man das Gefühl, dass diese auch als Leseanleitung für den Roman gedacht ist.

    "Bei ihrer Arbeit für den Rundfunk, in den unzähligen Skripts, die sie verfasst hat, geht Gail nach dem Glauben vor, dass Geschichten sich berühren. Folge der unterschwelligen Strömung, und du gelangst an den Schnittpunkt. Also verflicht sie Interviews, Erzählungen, Musik und Geräusche miteinander in der Hoffnung, dass sie sich nicht im Chaos der Vereinzelung verlieren, wo sie sich nie wirklich überlappen: jedes Element ein Strang und die Geschichte selbst das Ergebnis künstlerischer Gestaltung, aus grundverschiedenen Teilstücken etwas Pures, etwas Wahres entstehen und sichtbar werden lassen."

    "Etwas Wahres sichtbar werden zu lassen" - diesen Prozess versucht auch Madeleine Thien mit allen Mitteln voranzutreiben. Sie geht dabei wie eine Ermittlerin vor, die unermüdlich neue Spuren im Umfeld ihres ständig wachsenden Personenkreises aufnimmt, die Fakten über Fakten häuft, die sich zu einer schwer überschaubaren Materialfülle verdichten. Der rote Faden des Romans sind die tragischen Ereignisse. Schließlich behauptet sich die gleich zu Romanbeginn verstorbene Gail auch dadurch als zentrale Figur, dass sie sich von Berufs wegen mit Flugzeugabstürzen, gestrandeten Walen im Eismeer oder dem Sinn von Gedenkstätten beschäftigt, während Ehemann Ansel, von Beruf Tuberkulosearzt, einen Aidskranken in der Spätphase betreut und der holländische Kriegsfotograf Vermeulen seine Berichte von den Brennpunkten aus aller Welt beisteuert.

    "Es ist ganz sicher ein Roman über einen Verlust, eine Trauerrede. Das ist auch persönlich zu verstehen. Als ich gerade mit dem Schreiben anfing, so um 2002, ist meine Mutter unerwartet gestorben. Es ist offensichtlich, dass er davon handelt, jemanden zu verabschieden, an ein Leben zu erinnern, davon, zu akzeptieren, dass diese Person auf rein physische Art verschwunden ist."

    "Jene Sehnsucht nach Gewissheit" ist in erster Linie ein Roman gegen das Vergessen. Madeleine Thien unternimmt mit ihrem weitgefächerten Romanwerk eine Trauerarbeit, die einen Teil der Welt ins Blickfeld rückt, in dem diese Art von Geschichtsbewältigung, die Aufarbeitung der Kriegsfolgen - sei es im heutigen Malaysia oder in Indonesien - offenbar keinerlei Tradition besitzt. So stand der Autorin für ihr Projekt nur wenig Quellenmaterial zur Verfügung, sie stützte sich deshalb vor allem auf die Berichte von britischen oder australischen Kriegsgefangenen oder auf Fotodokumentationen. Als Leser hat man Mühe, sich im komplizierten Aufbau des Romans zurechtzufinden, der ständig zwischen den Kulturen und Kontinenten hin- und herpendelt, dabei auch genaue Zeit- oder Ortsangaben vernachlässigt. Man muss sich also dem Bewusstseinsstrom einer Erzählerin anvertrauen, die keine historischen Erkenntnisse anstrebt, sondern den "ungewissen" Gefühlen ihrer Protagonisten nachgeht, die sich alle auf Sinnsuche befinden, aber letztlich ohne Antwort bleiben. Ein hoch ambitioniertes Romandebüt, dem man - trotz dieser Einschränkung - viele Leser wünscht.