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Roman voller Extreme

"Rokland" ist ein Buch, das einen nicht kalt lässt. Der Roman von Hallgrimur Helgason verdient es, mit Hingabe gelesen zu werden. Und er macht schlichtweg Spaß.

Von Annette Brüggemann | 19.12.2006
    "Ich wollte die Leute ein wenig wachrütteln, sie dazu bringen, Fragen zu stellen über ihr eigenes Leben. Wenn du ein politischer Kommentator bist, tendierst du dazu, die Regierung zu kritisieren, den Premierminister, den Präsidenten, was auch immer. Und das ist sehr einfach, die Regierung zu attackieren und alles auf die bösen Politiker zu schieben. Ich wollte wirklich Dich und mich attackieren, uns alle. Was für ein Leben führen wir? Sind wir Opfer einer Konsumgesellschaft? Dieses Buch ist ein Tritt in den Hintern des status quo."

    "Rokland" ist ein Buch, das einen nicht kalt lässt. Schwere Kost, urteilte da so mancher Rezensent und machte aus Hallgrimur Helgason einen grimmigen Houellebecq Islands, eine oberflächliche Lektüre, denn der Roman verdient es, mit Hingabe gelesen zu werden, und macht schlichtweg Spaß.

    Da ist zum einen Bödvar Haldur Steingrimsson, kurz Böddi. Zu klug für Krokur, das isländische Kaff, aus dem er stammt, und zu heimatverbunden, um Island für immer den Rücken zu kehren. Zehn Jahre hat Böddi in Deutschland studiert, deutsche Hochkultur eingeatmet, Höderlin und Nietzsche verschlungen und nun steht er wieder vor der kleinen Gesamtschule in Krokur, in der er unterrichtet und wird just in dem Moment, wo wir zu lesen beginnen, vor die Tür gesetzt. Der Grund: praxisnaher Unterricht. Die isländische Grettis-Sage wollte er seinen Schülern näher bringen und hat sie kurzerhand ein Wochenende in eine Höhle verfrachtet. Ein Mädchen hat sich dabei ein Bein gebrochen, zwei liegen schwerstkrank im Bett. Doch Böddi sagt:

    "'Fucking bullshit!' Als wenn es den Schülern nicht gut täte, das Leben einmal so kennenzulernen, wie es früher war. Und noch immer ist. Wenn man endlich einmal aus dieser Fernheizungshölle ausbricht, zu der sich unsere Gesellschaft entwickelt hat.' Seine Worte flitschten wie Steinchen über den windstillen Schreibtisch des Rektors, ehe sie in dessen spärlich behaartem Schädel einschlugen."

    Böddi kämpft wie ein Don Quixote gegen die Windmühlen unserer bequemen Existenz. Er ist "Rokland", sein Land, ein Sturmland, und unterhält einen Blog mit diesem Namen, in dem er seine Wahrnehmung der Welt kund tut; ein heilloser Romantiker, der dabei so rückständig ist wie Grettis, der Held aus der isländischen Sage selbst.

    "In Island haben wir eine besondere Tradition für schwierige Typen, vermutlich, weil Island ein sehr schwieriges Land ist. Das Wetter ist schlecht, es wechselt ständig, es gibt Vulkanausbrüche, Erdbeben, das Meer überflutet eine Stadt, alles kann passieren. Du kannst es nicht wissen. Deswegen haben wir diese großartige Toleranz entwickelt für unser Land, das Wetter, für alles. Wir warten einfach, bis der Sturm sich gelegt hat. Das Gleiche mit einem schwierigen Typen: Bei fast jedem Familientreffen gibt es jemanden, der total betrunken ist, der rum geht, die Leute nervt und sowas brüllt wie: 'Deine Mutter stinkt! Ich hab die Schlampe immer gehasst!' Solche ungeheuerlichen Sätze halt. Und die Leute sind höflich, sagen nichts, nur: 'Ja, vielleicht hast du Recht. Meine Mutter ist ein bisschen schwierig.' Sie schmeißen so jemanden nie raus. Sie warten einfach, bis er eingeschlafen ist. Wir Isländer haben sogar ein eigenes Genre für diese Typen entwickelt. Das sind die isländischen Sagen. Sie alle handeln von schwierigen Typen und unmöglichen Frauen. Und ich glaube, Böddi gehört zu dieser Tradition. Mein Buch könnte auch 'Böddis Saga' heißen oder 'Grettis Saga'."

    Hallgrímur Helgason besitzt Sinn für einen kruden Humor. Der ehemalige Standup-Comedian und leidenschaftliche Cartoonist zeichnet mit klaren Linien nach, was Böddi an dieser Welt verzweifeln lässt, anfangen bei seiner Mutter, die, in Fernsehsoaps versunken, das Leben vergisst, oder wie es Helgason in kurzen Sätzen auf den Punkt bringt: "Sie filetierte ihre Stunden in der Fischfabrik und nähte sie abends mit der Sharp-Nähmaschine wieder zusammen. Der Faden war aus BBC und Hollywood gesponnen."

    Und wenn Böddi einmal eine Frau abschleppt, dann kann es nicht gut enden - außer im Traum. Und den träumt er von der wunderbar ätherischen, schlanken, hellhäutigen Lara Maria Nachtweih, die in einem Buchladen arbeitet und ihn, so hofft er, blind versteht. Helgason lässt szenische Dialoge mit Monologen Böddis, Einträge für seinen Blogg, abwechseln und durchbricht die Handlung immer wieder mit erstaunlich schönen Beschreibungen der isländischen Natur.

    "Das wollte ich machen, weil Böddi eine romantische Seele ist und die alte romantische Lyrik der deutschen Dichter liebt. Ich wollte diesen Einfluss betonen, da Böddi eine wunderschöne Seele hat und er diese Schönheit einfach nicht übersetzen kann, er ist immer so wütend und bitter. Und er ist sein größter Feind. Er ist wie ein übersteuerter Lautsprecher mit einem dröhnenden Klang. Du kannst nicht wirklich hinhören, du musst dir die Ohren zuhalten. Die Naturbeschreibungen wollte ich parallel setzen mit Böddis Wut, mum den Widerspruch aufzuzeigen zwischen dem oberflächlichen Leben im modernen Island, wo jeder Fernsehen guckt und Popmusik hört und Fast Food isst, und dem, dass wir in diesem wunderschönen Land leben und ihm keine Beachtung schenken. Kurz vor dem Schreiben des Buches habe ich noch einmal, nach vielen Jahren, 'Madame Bovary' gelesen. Flauberts Auge für Details hat mich beeinflusst. Es ist erstaunlich, wie lebendig sein Text beim Lesen wird."

    Die literarische Schule Flauberts in Kombination mit dem komödiantischen Talent Hallgrimur Helgasons haben dafür gesorgt, dass "Rokland" zu einem Roman voller Extreme geworden ist. Das Buch steigert sich zu einem fulminanten Showdown, bei dem Böddi zu einem Ritt auf Islands Hauptstadt ansetzt. Er will eine Revolution anzetteln, die Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien, sprich: Rock'n Roll. Im Geiste malt er sich aus, wie er den Ministerpräsidenten um die Ecke bringt und die Medienwelt endlich eine andere wäre und dass folgende Erklärung an erster Stelle in den Abendnachrichten verlesen würde:

    "Heute Nachmittag hat sich im Land ein bewaffneter Umsturz ereignet. Der bisherige Ministerpräsident ist mit einem wohlgezielten Pistolenschuss des Amtes enthoben worden, seine Leiche befindet sich zur Zeit auf einem Sessellift in der Königsschlucht des Reykjaviker Skigebiets Blafjöll, wo sie bis über das Wochenende öffentlich zur Schau gestellt bleibt. Seine Nachfolge tritt Bödvar H. Steingrimsson an. Bödvars erste Amtshandlung bestand darin, einseitig den Vertrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit dem amerikanischen Filmproduzenten Disney zu kündigen. Aus diesem Grund entfällt am kommenden Freitag die Ausstrahlung der Serie 'Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft'. Stattdessen wird eine deutsche Fernsehdokumentation über das Leben des Dichters Friedrich Hölderlin kurzfristig ins Programm genommen. Außerdem hat die Staatskanzlei stellvertretend für die Regierung ein Eilgesetz erlassen, dem zufolge es vom 1. August dieses Jahres an untersagt wird, in geschlossenen Räumen fernzusehen."

    Das erinnert an den fernsehfreien Tag, verordnet von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Den, so Hallgrimur Helgason hätten die Isländer schwer nötig, die sich im Land der Kaltwetterzonen nur allzu gern hinter der Flimmerkiste verstecken würden, egal bei welchem Programm. Und vielleicht erklärt auch noch etwas anderes den exzessiven Griff zur Fernbedienung: Die uralte Tradition des Erzählens, der isländischen Sagen, die im Fernsehen ihre konsequente Weiterführung erfährt.

    "Der Gedanke ist eine Entdeckung für mich. Ja, wir hatten für Jahrhunderte diese gemeinschaftliche Tradition auf Bauernhöfen. Sie lebten in Torfhütten, primitive Häuser. Und jeden Abend versammelten sich die Menschen nach dem Abendbrot im Wohnzimmer, in dem sie auch geschlafen haben. Ihre Betten standen auf beiden Seiten der Wand, und da saßen sie drauf und haben gearbeitet. Frauen haben gestrickt, Männer haben Wollgarn hergestellt, die hatten ja rund um die Uhr zu tun. Und währenddessen hat jemand aus einem Buch gelesen. Das war wie ein Ritual, wie Fernsehen."

    Und auch Hallgrimur Helgason wird erneut zu einem Stück Fernsehgeschichte. Nach "101 Reykjavik", wird auch "Rokland" verfilmt. Die Bürger von Krokur haben seinen Roman mit Begeisterung aufgenommen trotz aller Bedenken seitens des Autors. Da zeigt sich doch mal wieder die berühmte isländische Gelassenheit für stürmische Gemüter.

    "Rock, Fuck und ruck zuck bist du dein Geld los. Das ist mein Leben. Euer Leben. Das Leben dieser Zeit, die keine Zeit verträgt. Über allen Gipfeln ist Rock und keine Ruh."