Archiv

Romanbiografie
"Einer dieser seltenen Menschen, die einen verzaubern können"

Nach dem großen Erfolg mit seinem autobiografischen Roman "Tender Bar" hat sich J.R. Moehringer nun mit dem Bankräuber Willie Sutton beschäftigt. Herausgekommen ist eine wohlkalkulierte und durchaus gelungene Mischung aus Fakten und Erfindung.

Vorgestellt von Johannes Kaiser |
    J.R. Moehringer hat sich einen Kriminellen ausgewählt, den man gut als Gentlemen-Verbrecher bezeichnen könnte, denn der Bankräuber Willie Sutton hat bei seinen Raubzügen keinen einzigen Menschen verletzt. Aus den Waffen, die er den Bankangestellten unter die Nase hielt, wurde nie einen einzigen Schuss abgefeuert. Seine konsequente Gewaltfreiheit hat ihm zumindest in der Öffentlichkeit und bei den Medien viel Respekt und Bewunderung eingebracht. Eine Rolle hat dabei sicherlich auch gespielt, dass er Banken überfallen hat, denn die waren während der Wirtschaftskrisen, in denen Willie Sutton vor allem zuschlug, bei der Bevölkerung allgemein verhasst.
    "Ich war ein Kind in New York, als Willie Suttons Erinnerungen 1969 herauskamen und er war der Stolz der Stadt, eine Berühmtheit, trat in Talkshows auf und dann fing er an, im Fernsehen Werbung für Banken zu machen. Ich war ganz verwirrt und habe mein Großvater gefragt, wer ist das und er antwortete: das ist ein berühmter Bankräuber. Sie behandelten ihn allerdings wie einen Diplomaten, wie einen Kinostar. Alle Erwachsenen bewunderten ihn und das sickerte in mein Unterbewusstsein ein. Ich habe aber erst wieder an Willie Sutton gedacht, als es 2008 zur Finanzkrise kam und Banken in Amerika zusammenbrachen. Ich dachte, das ist der geeignete Moment, um ein Buch über einen Bankräuber zu schreiben, denn man war über die Banken empört und zwar nicht nur ich, sondern ganz generell."
    Bei aller Abneigung gegen die Banken, für J.R. Moehringer ist Willie Sutton kein Held.
    "Ich mag weder Bankräuber noch Gesetzesbrecher. Aber ich finde es pervers, dass Willie Sutton für Bankraub die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbrachte, während die echten Bankräuber, nämlich die Banker, die uns ausrauben, nie ins Gefängnis kommen. Das fand ich schrecklich. Die Verbrechen, die er mit einem Revolver beging, kann ich eher vergeben, als die Verbrechen, die Leute mit Computern begehen. Die haben Millionen Menschen die Arbeit gekostet und sehr viel Schaden angerichtet. In seiner gesamten Karriere hat Willie Sutton zwei Millionen Dollar gestohlen. Leute, die fünfzehn mal so viel gestohlen haben, sind nicht einmal bestraft worden, sondern haben sogar noch 15 Millionen Dollar Boni kassiert."
    Als J.R. Moehringer begann, die Geschichte Willie Suttons zu recherchieren, stieß er auf eine Menge Material, zahllose Zeitungsartikel, die jeder ein anderes Bild von ihm entwarfen, alte FBI-Akten, in denen wichtige Passagen auch nach 60 Jahren noch geschwärzt waren und die den Polizeiakten oft widersprachen. Außerdem hatte der Bankräuber selbst zwei Biografien verfasst, aber die waren zu widersprüchlich, als dass man ihnen hätte trauen können. Eigentlich ist das für einen Schriftsteller eine ideale Situation, kann er doch nun seine Fantasie spielen lassen. Die Wahrheit kennt sowieso niemand, das heißt, mit der Einschränkung, dass die im Roman beschriebenen Ereignisse wie Überfälle oder Gefängnisausbrüche tatsächlich stattgefunden haben. Alles Übrige, vor allem Suttons Gefühlswelt hat sich J.R. Moehringer ausgedacht.
    "Man muss kein Freud sein, um sein Leben zu begreifen: seinen erster Job hatte er in einer Bank und dann wurde er aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse gefeuert. Willie Sutton hat uns sozusagen Brotkrümel hinterlassen, den wir folgen und die mir zeigen, dass er die Banken als seine Feinde ansah. Das zentrale Erlebnis seines Lebens war die große Depression 1929, die vor allem von den Banken verursacht worden war und jene Arbeitslosigkeit mit sich brachte, die zur Plage seines Lebens wurde. Wäre er zu einer andern Zeit geboren worden, hätte er mit seiner Intelligenz und seinen Fähigkeiten einen vernünftigen Job bekommen und ein Mitglied der Mittelklasse werden können. Natürlich ist es eine Vermutung, anzunehmen, dass er Banken schädigen wollte, aber ich glaube nicht, dass das allzu weit hergeholt ist."
    Rückkehr an die Orte der Erinnerung
    J.R. Moehringer hat sich eine ungewöhnliche Methode ausgedacht, um die Geschichte zu erzählen. 1969 wird der Bankräuber nach 17 Jahren Haft amnestiert. Ein Reporter und ein Fotograf holen ihn am Weihnachtsmorgen am Gefängnistor ab, bringen ihn nach New York, quartieren ihn in einem Hotel ein. Dafür soll er ihnen seine Geschichte exklusiv erzählen. Sutton verlangt, dass man ihn an all die Plätze fährt, die seinen Lebensweg bestimmt haben und zwar in chronologischer Reihenfolge. Die Reise beginnt in Irish Town, jenem ärmlichen New Yorker Viertel, in dem er in einer Einwandererfamilie in bitterster Armut aufwuchs und sie endet in New York an der Haustür der Enkelin seiner ehemaligen Geliebten. An jedem der Orte hängen viele Erinnerungen, die zwar der Leser erfährt, aber nicht Suttons Begleiter. Den Reporter und den Fotografen speist er jeweils mit wenigen Sätzen ab, gibt ihnen gegenüber nicht zu erkennen, welche Gefühle er mit den verschiedenen Plätzen verbindet.
    "Ich kenne die Dynamik der Situation. Ein Kerl, der gerade 20 Jahre im Gefängnis gesessen hat, hat absolut keine Lust, die erste Zeit draußen mit einem Zeitungsreporter zu verbringen. Ich weiß, wie es ist, mit jemandem herumzufahren und ihn dazu zu bringen, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Nach 20 Jahren als Zeitungsreporter kann ich nicht nur ermessen, wie reizbar, müde und sauer die drei im Auto waren, sondern mir wurde auch bewusst, dass Willie Sutton eigentlich sein ganzes Leben mit zwei Jungs in einem Auto verbracht hat, während sie von einer Bank zur anderen fuhren. Er kommt aus dem Gefängnis und befindet sich wieder in derselben Situation. Er auf dem Rücksitz, vorne sitzt ein Kerl am Steuer und daneben ein Kerl mit einem Gewehr. Für mich war das einfach unglaublich, diese Struktur war ein Geschenk: er sitzt genauso wie damals, als er Banken ausraubte, wieder im Auto. Die Symbolik faszinierte mich."
    J.R. Moehringer lässt seinen Räuber nun aber nicht nur in seinen Erfolgen schwelgen. Natürlich berichtet er, wie gründlich und akribisch sich Sutton auf die Banküberfälle vorbereitet, wie er anfängt, sich jedes Mal zu schminken und zu verkleiden, was ihm den Beinamen “Willie, der Schauspieler“ einbringt, wie ihn die Dummheit seiner Kumpane auffliegen lässt und wie seine Ausbrüche gelingen. Doch weitaus mehr Platz nimmt die Seelenschau ein, sein Hass auf die Brüder, die ihn drangsalierten, die wiederkehrende verzweifelte Suche nach Arbeit, seine ebenso bedingungslose wie chancenlose Liebe zu Bess, der Tochter eines Unternehmers, die ihn zu seinem erstem Bruch verführt:
    Willie Sutton ist seine Erfindung, allen nachprüfbaren Fakten zum Trotz
    "Er hat über sie in beiden Erinnerungsbüchern geschrieben, sehr unterschiedlich, aber was die beiden Berichte gemeinsam haben, ist die Zärtlichkeit, die Ehrlichkeit. Das war verblüffend, denn wenn man die Erinnerungen eines Lügners liest, erkennt man rasch, was nicht stimmt. Aber was er für sie empfunden hat, das war echt. Ich habe mir die 100 Jahre alten Zeitungen vorgenommen und war schockiert, dass sie tatsächlich existierte und die Tochter eines der reichsten New Yorker war. Alle Artikel beschrieben ihre Schönheit. Und das Verbrechen hat auch stattgefunden. Er hat den Safe ihres Vaters geknackt, ist mit 60.000 Dollar abgehauen. Das war damals ein Vermögen. Dann habe ich allerdings verblüfft festgestellt, dass es nicht Willie und Bess waren, die da zusammen vorne im Auto saßen, sondern Happy und Bess, Willie nur auf dem Rücksitz. Auch wenn ich wusste, dass er ein Lügner war, das war denn doch zu viel. Warum glauben wir jedem, der uns eine Liebesgeschichte erzählt? Das hat mich umgehauen. Das ist nicht nur ein Kommentar zu Willie Sutton, sondern grundsätzlich zur Literatur. Man bekommt mit, wie er den Reporter oder den Fotografen anlügt, man spürt, dass es eine Lüge ist, und schiebt das alles beiseite und ist bereit, ihm die Liebesgeschichte abzunehmen. So wie Willie sich selbst betrügt, so betrügt sich auch der Leser selbst. Ich fand das wunderbar."
    J.R. Moehringen verschweigt dabei allerdings eine Kleinigkeit: Willie Sutton ist seine Erfindung, allen nachprüfbaren Fakten zum Trotz. Sein Roman ist eine wohlkalkulierte und durchaus gelungene Mischung aus Fakten und Erfindung. Das ist dem Schriftsteller durchaus bewusst:
    "Das ist ein Willie Sutton, den ich mir ausgedacht habe, nicht der wirkliche Willie Sutton. In ihm stecken auch viele der Kerle, die ich in der Bar, in der ich aufwuchs, kennen gelernt habe und er hat auch ein bisschen was von meinem Vater und dann steckt sicherlich auch etwas von mir in ihm drin. Man macht sich schon Gedanken, wonach man sich die Leute aussucht, über die man schreibt. Schreibt man ihnen Eigenschaften zu, die man von Menschen kennt, die uns nahe stehen oder haben sie bereits solche Eigenarten und man wählt sie deshalb? Mein Vater war ein Scheißkünstler, er war ein virtuoser Lügner und war darin so gut, dass es unwichtig war, ob das, was er sagte, stimmte. Es war einfach wunderbar. Ich denke, da gibt es schon einen Zusammenhang, denn das gilt auch für Willie Sutton. Er war einer dieser seltenen Menschen, die einen verzaubern können."
    Wie auch immer Willie Suttons Leben aussah, wenn es so aufregend-abwechslungsreich, so amüsant und pfiffig ausgestaltet daherkommt wie in J.R. Moehringers Roman, fragt man nicht mehr nach dem Wahrheitsgehalt der Geschichte. Man liest und staunt.