Musik von Pete Sinfield, "Under The Sky"
Die großen Erzählungen des Pop, sie sind allezumindest halb erfunden. Jeder halbwegs kritische Pop-Fan ist sich bewusst, dass sie oder er sich beim Lesen einer Pop-Biographie ins Reich der Mythenpflege begibt.
So gesehen ist auch die fiktive Figur des John Nightly real, als ein Pop-Genie der späten 60er- bis frühen 70er-Jahre, das ausschließlich in Form seiner Legende existiert, entsprungen dem Kopf des Komponisten und Galeristen Tot Taylor. Wenn er über die von John Nightly nach seiner Musikkarriere angelegte Blumenzucht spricht, ist es, als hätte er die Tulpen selbst gerochen:
Tot Taylor: "He built a garden in Cornwall in the middle of nowhere for something to do because he needs to be occupied."
Mehr als die klassische Popstar-Biografie
Wir treffen Taylor in seinem Nordlondoner Büro zwischen Büchern, Platten und Gemälden. Hier erwachte John Nightly eines inspirierten Tages zum Leben: Als spontaner 60-seitiger Umriss einer Person, der über viele Jahre zu einem Roman auf mehr als 900 Seiten anwachsen sollte.
"Er war 15 Jahre lang eine Figur in meinem Kopf. In den meisten Popstar-Biographien geht es um Aufstieg und Fall. Im Aufstieg lernen wir die Hauptfigur kennen und entscheiden, ob wir sie mögen oder nicht. Und wenn sie dann fällt, haben wir bereits Gefühle in sie investiert. Ich dachte, ich handle das in 150 Seiten ab, dann bleiben mir noch 700, um über die stille Zeit zu schreiben. Am Ende seiner Karriere ist er 27, und er stirbt mit 58. Was hat er die restlichen 30 Jahre über gemacht?"
Musik von 23rd Turnoff, "Michelangelo": "I read a book, such a wonderful book / Which moved me so much that I undertook / To live my life like the man in the book."
"Kreativität ist destruktiv."
Tot Taylor, sagt, er habe seinen Titelhelden aus etwa 30 real existierenden Personen zusammengesetzt. So wie sie ist John Nightly letztlich ein gescheiterter Charakter, selbst wenn ihm in rein materieller Hinsicht das Glück treu bleibt. Nach den kommerziellen Erfolgen seiner intensiven musikalischen Schaffensperiode flüchtet er sich in sein Hobby der Gärtnerei, das sich prompt zu einem millionenschweren Blumenexportgeschäft auswächst. Doch hinter diesem Erfolg steckt eine grundlegende Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Beziehungen, die der selbst seit sowohl im Kunst- als auch im Musikgeschäft aktive Autor an vielen der kreativsten Geister in seinem Umfeld beobachtet haben will.
"Kreativität ist destruktiv. Wir wissen das, denn wir haben alle kreative Menschen getroffen, die schöne Dinge kreiert haben, aber selbst innerlich nicht so schön sind. Sie verursachen viel Unruhe und hinterlassen ein großes Durcheinander."
Musik von 23rd Turnoff: "Why should it be that a man such as me who cares not for money and fame / Shouldn't be rich with God's natural gifts to have something to show at the end of life's game."
Neben John Nightlys Persönlichkeit spielt seine Musik die zweite Hauptrolle in Tot Taylors Buch. Minutiös detailliert er die Arbeitsweise des jungen Genies im Studio:
"Neue Melodien liefen im Zickzack über die alten; Akkorde wurden in anderen Tonarten übereinandergestapelt, um neue Erweiterungen und Polyakkorde zu erzeugen. Teile zerschnittener Begleittracks wurden entweder beschleunigt oder verlangsamt. Dann setzte John Bandverzögerung, Hall und andere Effekte ein. Auch wenn er es damals noch nicht wissen konnte, war John Nightly seiner Zeit mindestens zwanzig Jahre voraus."
Popgeschichte ohne John Nightly nicht denkbar
In solch klassischen Kritikerphrasen parodiert der Autor die gängige Erzählung der Pop-Historie als schlüssige Abfolge wegweisender Meilensteine. Nach 919 mit John Nightly verbrachten Seiten erscheint eine Popgeschichte ohne ihn kaum mehr vorstellbar. Einer der Handlungsstränge des Romans führt gar von der Wiederentdeckung alter Tonbänder durch einen jungen Fan bis hin zur Rekonstruktion eines verschollenen monumentalen Dreifach Albums "Mink Bungalow Requiem" - gefolgt von glühenden Neueinordnungen von Nightlys Lebenswerk in der Musikpresse.
Musik von Timebox, "Gone Is The Sad Man": "Gone is the sad man / Gone into hiding / Here is the glad man happy and smiling."
Tot Taylors Debüt-Roman hätte wohl auch kürzer ausfallen können, ohne all die in die die Erzählung vermengten Interviews und Kritiken. Anderseits vervollständigen diese Schnipsel die Illusion, John Nightly wäre tatsächlich zwischen den Größen des Pop gewandelt. Nach dem Zuklappen des Wälzers ist die Versuchung unwiderstehlich, auf Youtube nach Hörproben zu suchen. Aber John Nightlys Musik existiert nur in den Köpfen des Autors und seiner Leser. Und in Zeiten, da selbst die die obskursten Marginalien der Frühzeit des Pop noch in Box-Sets verpackt werden, liegt darin doch eine wunderbare Ironie und Richtigkeit.
Tot Taylor: "The Story of John Nightly"
Heyne Encore Verlag München, 2019. 960 Seiten, 28 Euro.
Heyne Encore Verlag München, 2019. 960 Seiten, 28 Euro.
Die im Beitrag zu hörende Musik stammt aus derselben Epoche, zwischen 1966 und 1972, in der John Nightly aktiv gewesen wäre, wenn es ihn denn gegeben hätte. Sie entspricht in etwa der Vorstellung, die unser Kritiker Robert Rotifer nach Lesen des Buchs von der Musik des Künstlers hat, und stammte von Pete Sinfield, sowie den obskuren britischen Bands 23rd Turnoff und Timebox.