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Romantiker des Terrorismus

Im Gegensatz zur Fiktion einer weltweiten Solidarität haben die Ereignisse immer weniger Sinn für die Zuschauer und nur noch einigen für jene, die sie erleben, im Augenblick, wo sie sie erleben. Über diesen beschränkten Horizont hinaus ist die Resonanz zugleich künstlich und betäubend. Früher hatten die menschlichen Handlungen eine echte Wirkung in einem begrenzten Kreis, in einer organischen Solidarität. Das Europa des 15. oder 18. Jahrhunderts kommunizierte freier und lebendiger als das fernseherische und interagierende des 20. Jahrhunderts. Die so genannte weltweite Information schließt jeden in seinen egozentrischen Kreis ein. Das ist die Tyrannei der Information, die vielleicht heimlicher und unheimlicher ist als die der Diktatoren aus Fleisch und Blut.

Von Klaus Englert | 26.07.2004
    Den französischen Philosophen Jean Baudrillard kennt man gemeinhin als bissigen Medientheoretiker. Als jemanden, der die Herrschaft der virtuellen Bilder, den "Terrorismus der Information und Transparenz" geißelt. Seit seinen ersten Publikationen untersucht er, wie uns die authentischen und unverstellten Bedürfnisse zusehends fremd geworden sind. Wie schließlich, in der globalisierten Warenwelt, die uns vertraute Naturordnung durch die "Idee der Natur" und "das abstrakte Konzept des Kalküls" ersetzt wurde.

    Diesen Übergang beschreibt Baudrillard in Das System der Dinge, erschienen im revolutionären Jahr 1968. Als er 1990 Die Transparenz des Bösen veröffentlicht, befinden wir uns in einer Hyperrealität, die sich vollkommen in ihrer Künstlichkeit und Funktionalität eingeschlossen hatte: die Welt der Werbung, der Kommunikation und der neuen Technologien.

    Selbst die Epoche des Zeichenwertes scheint passé. Auf dem Höhepunkt der Postmoderne spricht Baudrillard vom "fraktalen Stadium des Wertes", einem Stadium, in dem das Kalkül alle gesellschaftlichen Bereiche beherrscht.
    Nun gibt es eine neue Publikation von Jean Baudrillard, die auf eine Gesprächsreihe mit dem Architekten Jean Nouvel zurückgeht. Dieser Gesprächsband Die einzigartigen Objekte und vor allem das Buch Der Geist des Terrorismus, das auf Essays, Vorträge und Interviews Baudrillards unmittelbar nach dem 11. September 2001 zurückgeht, zeigt den anderen Baudrillard – den Anhänger des Situationismus, den Verklärer des Spektakels, den heimlichen Nostalgiker. Aber auch den unerträglichen Romantisierer des Terrorismus!

    Seit den achtziger Jahren beschrieb Baudrillard Amerika als ein saturiertes und perfektioniertes Machtgefüge. Als ein System "radikaler Indifferenz", das alle Gegensätze und Alternativen aufsaugt. Die Gesellschaftsdiagnose Baudrillards lautete in den letzten Jahren immer wieder: Die Utopien sind realisiert, die Befreiungen durchgeführt und die Orgien vergangen. In der Welt der "kommunikativen Gewalt" sei alles gleich nichtig, da sämtliche Bilder austauschbar sind. Anders gesagt, Baudrillard analysierte eine hermetische Ordnung, die anscheinend nur durch eine absolut unvorhergesehene Katastrophe aus den Angeln gehoben werden kann. Für Baudrillard war dies die Attacke auf die Twin Towers, die ein an seine Grenzen geratendes System zur Implosion brachte. Zumindest meint dies Baudrillard.

    Übersetzt in die Sprache der Einzigartigen Objekte lautet dieser anarchistische Nihilismus: Schaffen wir eine "Ästhetik des Verschwindens". Man braucht sich dann nicht mehr zu wundern, wenn Baudrillard das eingestürzte World Trade Center euphemistisch als "schönste unsichtbare Architektur" bezeichnet und damit jeden Durchschnittsamerikaner provoziert, dem die klaffende Baulücke eine tiefe Wunde in der amerikanischen Seele ist.

    Der Terrorangriff wird zum reinen Ereignis erhoben, während die Antwort der Amerikaner nichts weiter sei als ein "dumm-militärischer und technologischer Krieg". Allein das Ereignis ist absolut unvorhersehbar, einzigartig, unverständlich und eruptiv. Nach den heute bekannten Erkenntnissen über die Vorgeschichte des 11. September trifft gerade diese Bewertung nicht zu. Natürlich ist dem französischen Medienphilosoph das zum medialen Spektakel verwandelte Attentat ein Graus. Aber mittlerweile wissen wir ja - Baudrillard träumt vom wahren Spektakel:

    Der Terrorismus ist der Akt, der inmitten des allgemeinen Tauschsystems wieder eine Singularität entstehen läßt, das heißt etwas, dessen Tausch nicht möglich ist. Nur die symbolische Gewalt bedroht das System wirklich, da sie keinen Sinn hat und keine ideologischen Alternativen in sich birgt. Darin wird der Terrorismus zum Ereignis. Es gehört zur Ordnung der Diskontinuität und des Bruchs. In diesem Sinne ist jedes seines Namens würdige Ereignis terroristisch.

    Jean Baudrillard scheint nur die Geschlossenheit des Systems und der Macht zu kennen. Als radikale Alternative erscheint ihm nur der Terrorismus, der diese Hermetik für einen Augenblick durchstoßen kann. Ihn verherrlicht er als das Andere. Weder hat Baudrillard einen differenziert-historischen Begriff vom Islam noch von der westlichen Demokratie. Vieles schuldet seine Philosophie dem französischen Irrationalismus der dreißiger und vierziger Jahre. Dazu passt die Verherrlichung radikaler Phänomene und das Desinteresse für aufklärerische Werte. Deswegen scheint er Freiheit, Demokratie und Menschenrechte nur als Opfer von "polizeilicher Globalisierung, totaler Kontrolle und des Sicherheitsterrors" wahrzunehmen.

    Woran Baudrillard nicht denkt: Die Globalisierung macht auch die Dringlichkeit umfassender Aufklärung deutlich. Sowohl für die bedrohte und älteste Demokratie der Welt als auch für die festgefügt erscheinenden Dogmen des Islam.

    Jean Baudrillard
    Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den all täglichen Dingen, Campus 1991

    Der symbolische Austausch und der Tod
    Matthes & Seitz 1982.

    La transparence du mal. Essais sur les phénomènes extremes
    Galilée 1990.

    Der Geist des Terrorismus
    Passagen 2002

    Jean Baudrillard/Jean Nouvel
    Einzigartige Objekte. Architektur und Philosophie
    Passagen 2004