Freitag, 29. März 2024

Archiv


Romantiker und Gringo-Teufel

Der Leiter des Literaturhauses im bretonischen Saint Nazaire, Patrick Deville, hat unlängst den revolutionären Vorschlag gemacht, Leser für ihre gedanklichen und moralischen Anstrengungen zu bezahlen. Und in der Tat: Patrick Devilles eigene Bücher sind keine leichte Kost. Sein mittlerweile sechster Roman entführt uns in eine Welt der permanenten gewaltsamen Umbrüche: nach Mittelamerika.

Von Christoph Vormweg | 06.07.2007
    "Titel und Untertitel des Buchs sind ein wenig ironisch. Denn "Pura Vida" ergibt im Spanischen nicht wirklich einen Sinn. Das ist eine Wendung, die es nur in Costa Rica gibt und die besagt: Das Leben ist schön, it´s a wonderful life."

    Und gerade die Schönheit des Lebens hat der im Untertitel genannte Abenteurer William Walker aus Costa Rica brutal vertrieben. Mitte des 19. Jahrhunderts zettelte er in dem mittelamerikanischen Staat eine Reihe von Kleinkriegen an. Zehn Prozent der Bevölkerung starben. Ironisch ist am Untertitel "Leben und Sterben des William Walker" aber auch noch die fehlgeleitete Lese-Erwartung. Eine "klassische Romanbiografie" präsentiert uns Patrick Deville nämlich nicht. William Walker ist nur der Aufhänger für ein großes, multibiographisches Romankonstrukt.

    "Ich bin auf die Existenz dieser Person William Walker eher zufällig in Havanna gestoßen. In der ganzen Karibik ist dieser Name bekannt. Er hat dort den Ruf eines Teufels, eines Gringos, der aus dem Norden gekommen ist, um den Einheimischen die englische Sprache aufzuzwingen und die Sklaverei wieder einzuführen. Doch wusste man über sein Leben nicht viel. Also habe ich angefangen zu recherchieren. Ich wollte ihn dem Mann gegenüberstellen, der in Havanna das Gute verkörpert: Che Guevara. Und mein Modell war dieses wunderbare Buch: die parallelen Lebensbeschreibungen des Plutarch."

    Und es bleibt nicht bei der Konfrontation von reaktionärem Visionär und revolutionärer Lichtgestalt. Patrick Deville will in seinem Roman die 200 Jahre vom Beginn der französischen Revolution bis zum Ende des Kalten Krieges 1989 beleuchten: 200 Jahre, in denen der Kampf um mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Vernunft in Mittelamerika immer wieder aufflammte, 200 Jahre, in denen die USA zahllose Umstürze organisierten, um den revolutionären Ideen entgegen zu steuern. Wie Patrick Deville hat auch der Ich-Erzähler seines Romans "Pura Vida" sechs Jahre lang recherchiert. Das logische Hauptproblem: Wie die Masse des gesammeltem Materials in ein Buch von 300 Seiten zwängen?

    "Als ich mein Thema gefunden hatte, galt mein Interesse der, wie mir scheint, einzig wahren Aufgabe der Literatur: der Konstruktion einer Form, dem Erdichten einer Sprache. Deshalb ist das ein Roman - und nicht weil ich Geschichten erfinde, was ja meist zur Definition des Romans dazu gehört. All die Lebensgeschichten, die ich gesammelt habe, sind wahr: ob es sich nun um Bolívar handelt, um William Walker, Sandino, Che Guevara oder Morazan. Die einzige Erfindung ist die Form. Meine Absicht war, über Presse und Literatur zu schreiben - gleichsam als Metaliteratur. Denn im Buch kommen Schriftsteller vor, von denen einige wichtige politische Persönlichkeiten waren: zum Beispiel Sergio Ramírez, der übrigens in Berlin gelebt hat, bevor er Vizepräsident der Republik Nicaragua wurde. Ich habe mich also dafür entschieden, den Roman auf der Lektüre von zwei Tageszeitungen aufzubauen: einer Freitagsausgabe, die im nicaraguanischen Managua, und einer zweiten, die in der Woche darauf in Tegucigalpa, Honduras, erschien. "

    Mit diesem Kunstgriff integriert Patrick Deville eine weitere Ebene: die aktuelle Situation in Mittelamerika im Februar 1997. Wir folgen seinem Erzähler bei der Zeitungslektüre, springen - von seinen Assoziationen gelenkt - durch die Epochen, von Ort zu Ort, von Figur zu Figur. Zudem begleiten wir ihn bei seinen Recherchen. Mal führt er Gespräche mit ehemaligen revolutionären Lichtgestalten, die meist zu eitlen Hütern ihres Ruhmes erstarrt sind. Mal dümpelt er plaudernd in Hotelbars. Mal beschreibt er den improvisierten Alltag der Menschen, die ihm begegnen. Die Folge: "Pura Vida" ist ein ruheloser, kaleidoskopartiger Roman, prall gefüllt mit Informationen, Porträts, Impressionen, Reflexionen, auch Imaginationen, die den Fährten des Wahrscheinlichen nachspüren. Mit Mittelamerika nimmt eine vielfach zersplitterte, durch regelmäßige Kriege ausgezehrte, durch Willkürherrscher ausgesaugte Weltregion Gestalt an, auf die gerade die europäische Linke über Jahrzehnte hinweg ihre revolutionären Traumpotentiale fixiert hat. Der Roman lässt diese Zone der politischen Experimente, der hoch geschraubten Hoffnungen und Aufbrüche - von Fidel Castros Kuba bis zum Nicaragua der Sandinisten - illusionslos wiederauferstehen. Patrick Deville:

    "Sie kennen sicher diesen oft wiederholten Satz, dass die Geographie die Geschichte bestimme. In Mittelamerika ist es aber so, dass die Geschichte die Geographie bestimmt hat. Denn man kann die dortige Geschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts an, der Zeit William Walkers, bis hin zur Zeit Augusto César Sandinos nicht verstehen, wenn man das Kanalprojekt zwischen den Ozeanen außer acht lässt. Es war offensichtlich, dass man diesen Kanal in Nicaragua hätte graben müssen - und nicht in Panama. Denn das wäre viel einfacher gewesen, weil Atlantik und Pazifik dort nur zwanzig Kilometer auseinander liegen. Wegen all der Kriege jedoch ist er in Panama gegraben worden - auch wenn ich kürzlich gelesen habe, dass es das Kanalprojekt in Nicaragua immer noch gibt."

    "Pura Vida” ist kein Roman für Revolutionsnostalgiker. Zu schonungslos konfrontiert der 1957 geborene Patrick Deville Mythen und Wirklichkeit. Wahre Helden, so der Tenor, waren eigentlich immer nur die früh im Kampf Gefallenen oder hinterrücks Ermordeten. Doch unterschlägt Patrick Deville auch bei den "Ungeheuern der Macht" nicht die Phasen des anfänglich ungebrochenen Idealismus: so auch bei William Walker, dem gelernten Journalisten mit gebrochenem Herzen. Wäre er vielleicht ein anderer geworden, wenn seine große Liebe nicht der Cholera zum Opfer gefallen wäre? Hätte sich seine Begeisterung für die Romantiker dann anders ausgewirkt? In jedem Fall: Auf den Grund gehen will Patrick Deville der von Walker-Idol Lord Byron so genannten "sehnsuchtsvollen Leere", die uns antreibt zum Spielen, zu Schlachten, zu Reisen, zu zügellosen, aber heftig empfundenen Unternehmungen jeder Art, deren hauptsächlicher Reiz in der Erregung liegt.

    Der Roman "Pura Vida" ist eine Seelenwanderung in die Abgründe politischer Führer-Persönlichkeiten, politischer Platzhirsche, die dienstwillige Jünger um sich scharen, um die Welt in ihrem Sinne zu verändern - und sei es nur, um die Langeweile durch Machtgefühle auszufüllen. Im domestizierten Kleinformat begegnen wir ihnen jeden Tag im Berufsleben.

    Doch in Costa Rica und Nicaragua hielten sie Waffen in der Hand, hatten sie Schergen, die jeden Kritiker in eine Blutlache verwandeln konnten. Patrick Deville richtet nicht über sie. Er lässt die Fakten sprechen. Dabei operiert er in gekonnter, genau austarierter Romanprosa mit verschiedenen Sprachstilen, verschieden Sprachniveaus und immer wieder: mit Wechseln auf die Ebene der Ironie - literarische Herausforderungen, denen auch der Übersetzer Holger Fock in gewohnter Stilsicherheit gerecht wird.

    "Da der Erzähler allwissend war, Geschichte und Orte kannte, Zeitungen las et cetera, habe ich ihm eine fiktive Figur zur Seite gestellt. Angeblich leidet sie unter Gedächtnisschwund. Und wahrscheinlich ist sie in die politische Vergangenheit verstrickt, in die Revolutionskriege in El Salvador oder Nicaragua. Aber sie hat alles vergessen. Hier gibt es in der Tat ein ironisches Spiel mit einem gedoppelten Erzähler: der eine weiß alles, der andere nichts."

    Patrick Deville erteilt uns historische Lehrstunden der besonderen Art, Lehrstunden, die nie bevormunden, ja, die nicht einmal behaupten, das ein historisches Gedächtnis nützlich sei oder die Bewältigung der Existenz erleichtere. Der Roman, sagt er, versuche "zwischen den beiden großen Strukturen zu vermitteln: der Struktur des Bewusstseins und der Struktur der Wirklichkeit". Patrick Deville setzt dabei nicht auf romaneske Einfühlung und Auswalzung, sondern auf Komprimierung, auf Verdichtung. Deshalb sollte man seinen Roman "Pura Vida" betont langsam lesen. Es lohnt. Denn er erzählt von den Wegen unser aller Träume, von der Unmöglichkeit, ihnen auf Dauer gerecht zu werden, von den verschiedenen Ebenen des Verrats an ihnen. Und doch, daran lässt Patrick Deville keinen Zweifel, sind es vor allem die Träume, die unser Dasein in Bewegung halten - und sei es indirekt, über die Literatur.