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Romantischer Märchenton

"Anmut und traurigen Übermut" attestiert Peter Handke dem 1983 geborenen Christian Zehnder, und der Ammann Verlag druckt diesen lobenden Werbesatz auf die Cover-Rückseite vom Debüt des in Bern lebenden Autoren: "Gustavs Traum" ist ein schmaler Band mit einer Erzählung, die kaum zu fassen ist, deren Sprache davon zu schweben scheint und deren Bilder doch bedeutungsschwer sein möchten.

Von Ulrich Rüdenauer | 22.09.2008
    Beim Lesen von Christian Zehnders Debüt "Gustavs Traum" ertappt man sich dabei, wie man ein ums andere Mal den autor-biografischen Hinweis auf der Umschlagklappe aufschlägt: Dem lässt sich entnehmen, dass Zehnder 1983 in Bern das Licht der Welt erblickte, also nicht älter als 25 Jahre sein kann. Weil es allerdings sein könnte, dass man statt 1883 vielleicht nur fälschlicherweise 1983 gelesen hat, schlägt man noch einmal nach, und findet doch nichts anderes heraus: Älter als 25 dürfte dieser junge, eher alt oder altmodisch klingende Autor nicht sein. Mit seiner Prosa verhält es sich nämlich so:

    Was für sie einmal die Allee der Verführung gewesen war, wurde später zum Wald, in dem ihr Kind Blätter sammelte. Viele Bäume waren nicht vonnöten. Büsche gab es keine. Der Boden war nicht übersät mit Tannennadeln. Die Steine schimmerten nicht grün von Moos; das Farbigste blieben die gelben Flechten. Zwischen den in zwei Reihen stehenden Pappeln verlief ein schmaler Kanal. So weit das Auge reichte, machte er keine Kurve, auch da nicht, wo er ohne Pappeln weiterfloss.
    Es wäre gar nicht schwer, dem Autor schon anhand dieser ersten Zeilen einen enormen Hang zur Schwülstigkeit nachzuweisen - und auf den folgenden 99 Seiten der Erzählung von "Gustavs Traum" ließen sich noch viele weitere Indizien finden, die Christian Zehnder als Träumer, Märchenonkel oder Epigonen einer im zwanzigsten Jahrhundert nur noch schwer erträglichen romantischen Tradition entlarvten. Aber so einfach liegt der Fall doch nicht: Wo Manierismen blühen, wo das Pathos die Geschmacksnerven des Lesers stark beansprucht, wo sich die Figuren in ihr Schicksal "hineinschicken" und die Herzen "schwer" sind, ist zuweilen auch das Schöne und Poetische nicht allzu fern. In der fast naiven oder vielleicht unschuldigen Form, in der Zehnder sich im romantischen Märchenton und einer ebenso märchenhaften Geschichte verliert, ahnt man den traumverlorenen Blick eines Autors, der nicht gleich begreift, sondern zuerst sieht; dem das Verhangene nicht gleich verdächtig, sondern beschreibenswert scheint; der sich der Zeit enthebt und sich durch ein Niemandsland bewegt. Und das tut er mit Figuren, die fast so ätherisch sind, wie seine Sprache durchscheinend: Da ist erst einmal der traurige Gustav, der im Titel schon auftaucht und durch dessen Traum hindurch wir quasi in das Buch geleitet werden sollen - ein junger Mann, der wie sein Vater Restaurator werden soll und nicht will; der also nicht das Alte einfach wiederherstellen möchte und sich stattdessen in Veronika verliebt und mit ihr einen Sohn hat, Dominik. Dieser Dominik steht im Zentrum der Erzählung, als einer, der dem Leser ähnlich ist, weil er nicht alles versteht und ein wenig verloren in dieser immer schwermütigeren Erwachsenenwelt umher geht. Gustav, der Untätige, Unerreichbare und Untröstliche, löst sich derweil nach und nach auf - bis er gänzlich aus dem Leben und dem Buch verschwindet.

    Viele dachten, Gustav "passe ja ins Jenseits", und entdeckten, wie schlicht sie in Trauer waren.
    Die beiden Zurückgebliebenen - Veronika und Dominik - gehen zunächst gemeinsame, dann einsame Wege, treffen auf eine andere unvollständige Familie, verlieben sich, reisen mit Eseln durchs Land und werden trotz ihres Da-seins immer schemenhafter - und man fragt sich manchmal, ob das wirklich Menschen aus Fleisch und Blut oder doch vielmehr nur Geister aus Papier und Tinte sind. Sie sagen altkluge Sätze und erleben Dinge, die sich kaum zu einer Geschichte zusammentragen lassen, obwohl hier ja wie im echten Leben auch Schul- und andere Prüfungen abgelegt werden.

    Eine komische heilige Familie ist da unterwegs; man fühlt sich beim Lesen oftmals nicht nur an alte Märchen, sondern auch an Mythen und christliche Erzählungen erinnert, ohne dass sich das Zehndersche Ensemble recht greifen und begreifen ließe. Dennoch sind immer wieder schöne Passagen, Bilder und Naturbeschreibungen in diesem schmalen Band zu finden, und die sind es auch, die ihm etwas Schwebendes, Leichtes, fast Durchsichtiges verleihen:

    Wie staunte Dominik am Abend über die Klarheit aller Umrisse. Jeder hatte seine eigene Freude, beinahe bis zur Einsamkeit, aus jedem Mund klangen die Worte anders, der Sonnenuntergang glühte hier orangefarben, da, in alten Fenstern, trüb. Dorthin, zum Wasser des Brunnens, gelangte er nicht, denn er hüllte sich in tiefes Grüngrau.
    Der Titel gibt das Medium vor, in dem dieses fliegende und zugleich poetisch erdenschwere Büchlein spricht: Es ist ein flirrender Traum, dessen Bilder nur in anderer, nicht rationaler Logik aufzulösen wären. Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert, und die Sprache hier folgt der Grammatik des Unbewussten. Das führt unweigerlich dazu, einer leichten Entschlüsselbarkeit zu entgehen und dem Kitsch gefährlich nahe zu kommen, ihn dann aber doch links liegen zu lassen. Die Welt, heißt es einmal, sei ein großes Geheimnis - "wehe, wir decken es auf". Geheimnisvoll bleibt sie in "Gustavs Traum" bis zum Ende. Es geht Zehnder nicht um Konkretes, sondern um Atmosphärisches; und es geht um eine Auflösung des Profanen in einen poetischen Weltinnenraum:

    Wo immer möglich, strebte [Dominik] danach, in Stimmungen aufzugehen. Sah er ein geeignetes Detail, und sei es ein Lichtstrahl, setzte er sich und wartete, bis die Gedanken verschwammen.


    Christian Zehnder: "Gustavs Traum", Amman Verlag, Zürich