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"Romeo und Julia" als Inzestgeschichte

In der afghanischen Hauptstadt beginnt man zaghaft, westliche Stücke am Theater aufzuführen. Die allerdings müssen mehr oder weniger behutsam den Anforderungen des Landes angepasst werden. Konkret sichtbar wird das, wenn Shakespeares Liebesdrama "Romeo und Julia" Premiere haben wird.

    Koldehoff: Wenn in diesen Tagen an den deutschen Theatern die neue Spielzeit beginnt, dann mag damit auch die Debatte über werkgetreue Inszenierungen versus Regietheater wieder neu aufleben. Vielleicht war dieser Exkurs, den unlängst der Bundespräsident höchstselbst angestoßen hatte, allerdings auch schon zu Ende, bevor er begonnen wurde. In der afghanischen Hauptstadt Kabul eine solche Debatte zu führen, wäre absurd. Dort beginnt man zwar zaghaft, westliche Stücke aufzuführen. Die allerdings müssen mehr oder weniger behutsam den Anforderungen des Landes angepasst werden. Konkret sichtbar wird das morgen abend, wenn Shakespeares Liebesdrama "Romeo und Julia" Premiere haben wird. Ein Handkuss ist dann das höchste der Gefühle – und nicht einmal den dürfen sich zwei Liebende geben. Frage an den Kollegen Martin Gerner, der in Kabul die Proben gesehen hat: Was ist denn in Kabul auf einer Theaterbühne möglich – im Jahr vier nach Ende der Taliban-Herrschaft?

    Gerner: Minimalistisch, würde man sagen aus europäischer Sicht, als Versuch, Maximales vorzuführen für ein afghanisches Publikum, würde man aus hiesiger Sicht sagen. Der Regisseur Maurice Durozier, der vom Theatre du Soleil, von dem man auch Adriane Mnouchkine als eigentliche Hauptregisseurin kennt in ganz Europa und weltweit, die hat hier einen zweimonatigen Workshop gehalten und jetzt hat ihr Kollege übernommen. Er hat einiges versucht in diesem Stück in den Proben. Zum Beispiel gibt es dort den Franziskanermönch Lorenzo, und der verkuppelt die beiden ja heimlich in Eile, und den hat er versucht eine Kreuzigung machen zu lassen. Das hat der erste Darsteller in diesem Stück in den Proben nicht akzeptiert. Er wurde auch nicht gezwungen, das zu machen, aber es war ihm nicht wohl dabei, und es wurde ein zweiter Darsteller gefunden. Weiteres Beispiel und vielleicht deutlichstes Beispiel ist, dass Romeo und Julia eigentlich, man könnte es nennen, ein inzestuöses Verhältnis von Beginn an sind, sie sind leibhaftige Bruder und Schwester. Alles andere wäre angesichts des Handkusses und der Umarmung, die auf der Bühne zu sehen sind, hier nicht vermittelbar. In dieser Gesellschaft - und das hängt nicht nur mit dem Islam zusammen, sondern auch mit sehr konservativen Traditionen, gerade was die Darstellung von Liebe und Frau sein in der Öffentlichkeit angeht - ist das doch alles sehr zurückgehalten. Für afghanische Verhältnisse einige ein Fortschritt, dass man so etwas überhaupt zeigt. Das Ganze wird vor einem Publikum von 300 Theaterinteressierten stattfinden. Mehr gibt es wahrlich nicht hier in Kabul. Es ist eine sehr intellektuelle Theaterschau, dieses Festival, und ich denke, es ist insofern ein Test als auch das Theatre du Soleil vielen jungen Darsteller - von Schauspielern kann man nicht reden - einen ersten Ansatz gibt, damit sie möglicherweise mit diesem Stück in Zukunft auch in Europa touren. Das wäre ein positives Zeichen für Afghanistan und seine Kultur, nicht immer nur Zerstörung und Hoffnungslosigkeit zu zeigen.

    Koldehoff: Was würde denn geschehen, würde man westliche Werke werkgetreu in Kabul auf die Bühne bringen, also Romeo und Julia so spielen, wie Shakespeare es eigentlich beschrieben hat?

    Gerner: Na ja, das würde unter, sage ich mal, den normalen Bürgern der Stadt eine gewisse Aufruhe geben, denke ich. Es findet ja so etwas statt, wenn man den Film nimmt - das ist ja verwandt, es geht um darstellende Künste - im Goethe-Institut und in anderen, im französischen Kulturinstitut hier werden Filme gezeigt, wie wir sie auch zu Hause in den Kinos haben. Das ist allerdings für ein sehr ausgewähltes Publikum. Da kommen wöchentlich zwölf Leute, wenn es hochkommt. Das hat mithin wenig Erfolg. Was hier beliebt ist, sind die Bollywood-Filme aus Indien, will sagen, für das Theater bedeutet das, Straßentheater, sehr symbolische, zum Teil nationalistische Darstellung, wie ich sie gerade eben in zwei Stücken gesehen habe, kommt beim Publikum gut an, es wird dann geklatscht. Die Leute, die ein Theater europäischen Zuschnitts gewöhnt sind, das ist mithin die Mittelklasse, die in den 20 Jahren Krieg nach Europa und USA emigriert ist, und jetzt geht es darum, das langsam wiederaufzubauen, unter anderem mit deutscher Hilfe. Goethe-Institut und die Kulturstiftung des Bundes haben nicht nur Gelder für unser Festival gegeben, sondern auch viel Geld gegeben. Das Artcenter an der Universität ist mit deutschem Geld wiederaufgebaut worden.

    Koldehoff: Gibt es denn mit dieser Hilfe so etwas wie eine eigenständige afghanische Theaterszene?

    Gerner: Das wird man nächstes Jahr sehen. Dann nämlich werden viele Afghanen das alleine machen müssen, was jetzt mit Hilfe von Ausländern organisiert wird, und, so komisch es klingt, es hat auch damit etwas zu tun, diese ganzen Anträge, Fördergelder zu bekommen, und das Theatre du Soleil wird weiterhin mit der Schar von 15 bis 20 Leuten, die sie hier rekrutiert haben, arbeiten. Es gibt das Kabul Theatre, was eine gewisse Tradition hat, und ich denke, es gibt einen Anstoß jetzt, aber da muss noch ordentlich gesät werden.

    Koldehoff: Nun haben wir bislang überwiegend über die Theatermacher gesprochen. Wie sieht es denn auf der anderen Seite der Bühne aus? Wird es positiv aufgenommen, dass da nun Theater in der Weise stattfindet, oder hat man eigentlich ganz andere Sorgen?

    Gerner: Man hat im Grunde ganz andere Sorgen. Bei Filmfestivals in der Vergangenheit und auch in diesem Jahr geht das durch die Zensur. Das ist ein Vorteil, Zufall oder nicht, für dieses Theaterfestival gibt es keine Zensur, deshalb auch viele Frauen, viele politische Themen.