Rainer Berthold Schossig: Und wir bleiben im musikalischen Ambiente Wiens in der Nachkriegszeit:
Sena Jurinac: "Man kann sich das heute überhaupt nicht vorstellen. Keine Straßenbahn, nichts zu essen buchstäblich, mit meiner Mutter eine halb ausgebombte Wohnung in Miete im sechster Stiege (sechster Stock) gekriegt. Aber wir machten Theater und wir sind selig gewesen, dass wir am Leben sind und dass wir spielen konnten, singen konnten. Das war das Wichtigste."
Schossig: Das war das Wichtigste. So erinnert sich die Sängerin Sena Jurinac. - Sie war Wienerin und Georg Kreislers Zeitgenossin, sicher hat er sie gekannt und geschätzt: Sena Jurinac, die in den späten 40er- und 50er-Jahren als Publikumsliebling der Wiener Staatsoper bejubelt wurde. Gestern ist auch sie im Alter von 90 Jahren in ihrem Haus bei Augsburg in Bayern gestorben.
Am Telefon ist der Opernkritiker Jürgen Kesting in Hamburg. Herr Kesting, diese Sena Jurinac, sie stammte aus Travnik im heutigen Bosnien. Drei Jahre nach ihrem Debüt 1942 am Zagreber Nationaltheater kam diese junge Solistin aus dem tiefsten Balkan schon nach Wien. War das eigentlich – ja fast noch im Zweiten Weltkrieg – ein normaler Vorgang, Herr Kesting?
Jürgen Kesting: Es war ein ganz normaler Vorgang, weil für all die Staaten um Österreich herum Wien ein Sammelbecken war. Es gab Anton Dermota, es gab ganz, ganz viele Sänger, die aus Jugoslawien kamen und in Wien direkt nach dem Krieg – Wien war ein Auffangbecken für junge Künstler.
Schossig: Richtig los ging es dann für die Sängerin Jurinac ab 1945 mit den großen Mozart-Rollen, wo sie wohl sehr beliebt gewesen sein muss. Sie haben sie, Herr Kesting, als junger Mann selbst in Wien gehört.
Kesting: Ich habe an einem Abend darauf gewartet, dass Sena Jurinac – das heißt, ich hatte eine Nacht vorher um Karten angestanden, acht Stunden lang, war am nächsten Tag um 16 Uhr vor der Oper, wo sich eine Schlange bildete, dann wurde man eingelassen und dann kam heraus, dass sie nicht singen konnte, weil sie indisponiert war, und Herbert von Karajan musste ruckzuck eine Tosca auf die Bühne bringen. Und dann habe ich sie aber ein paar Wochen später in mehreren Rollen in Wien gehört, unter anderem als Butterfly und ich habe sie als Elisabetha in Don Carlos gehört, ich habe sie in Mozart-Partien gehört, und sie war in Wien nicht Sena Jurinac, sie war die Sena. Und noch 30, 40 Jahre später haben junge Sängerinnen gesagt, wenn man als Kerubino in Wien sang, wurde man sofort mit der Sena verglichen.
Schossig: Also eine Art Markenartikel, Herr Kesting. – Richtig hören müsste man sie ja, und das wollen wir jetzt auch gleich. Wir hören sie jetzt nämlich mal in ihrer berühmten Rolle im Rosenkavalier, wo sie den Octavian gesungen hat – hier eine Aufnahme 1960 unter der Leitung von Herbert von Karajan. Mit solchen Tönen hat "die Sena", wie Sie sagen, die Sympathien des Publikums damals erobert. Herr Kesting, was war es, mit dem sie das konnte? Wir hören es ja, aber sagen Sie es. Versuchen Sie, es auszudrücken.
Kesting: Es war eine Stimme – es gibt eine berühmte Metapher -, Romeo und Julia in einer Kehle, also eine Stimme, die durchaus die knabenhaften, androgynen Elemente hatte und auf der anderen Seite die weiblichen. Sie war auf der Bühne in der Darstellung eine eminent weibliche Figur, sie hatte aber auch dieses andere Timbre, und deshalb war sie ideal geeignet für die Hosenrollen, also für die Rollen von Knaben, die von Mädchen gesungen werden, also Kerubino und Octavian. Das ist ja eine berühmte Genialogie von Rollen, die es seit Beginn des 19. Jahrhunderts gegeben hat, bei Strauss eben in dem Octavian kulminiert. Und das hat keiner mehr so gesungen, oder nur ganz, ganz wenige. Christa Ludwig war ein ähnlicher Fall. Aber die Jurinac war in der Doppeldeutigkeit des Timbres ein ziemlich einzigartiger Fall.
Schossig: War sie denn auch eine Konkurrentin für die damals ja mindestens genauso beliebte Elisabeth Schwarzkopf, oder ergänzten beide sich?
Kesting: Ich denke, dass die Jurinac beliebter war als die Schwarzkopf. Die Schwarzkopf war sehr respektiert. Jurinac und Schwarzkopf haben einige Rollen geteilt. Beide haben Elvira in Don Giovanni beispielsweise gesungen. Aber wenn sie gemeinsam gesungen haben, wie in dem Rosenkavalier unter Karajan, war die Schwarzkopf eben der Sopran, die Marschallin, und die Jurinac war die androgyne Rolle, der Octavian. Schwarzkopf hätte bestimmte Partien der Jurinac nie singen können. Butterfly war jenseits der expressiven und stimmlichen Möglichkeiten der Schwarzkopf. Und die Jurinac ist da an die Grenze gegangen. Genauso Elisabetha in Don Carlos, zu der Karajan sie geholt hat. Das war eine einzigartige Rolle. Es gibt nur eine Sängerin in jener Zeit, die vergleichbar war in dieser Partie: das war die Callas.
Schossig: So weit Jürgen Kesting zum Tode der großen kroatisch-österreichischen Sängerin Sena Jurinac, die gestern im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Danke schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sena Jurinac: "Man kann sich das heute überhaupt nicht vorstellen. Keine Straßenbahn, nichts zu essen buchstäblich, mit meiner Mutter eine halb ausgebombte Wohnung in Miete im sechster Stiege (sechster Stock) gekriegt. Aber wir machten Theater und wir sind selig gewesen, dass wir am Leben sind und dass wir spielen konnten, singen konnten. Das war das Wichtigste."
Schossig: Das war das Wichtigste. So erinnert sich die Sängerin Sena Jurinac. - Sie war Wienerin und Georg Kreislers Zeitgenossin, sicher hat er sie gekannt und geschätzt: Sena Jurinac, die in den späten 40er- und 50er-Jahren als Publikumsliebling der Wiener Staatsoper bejubelt wurde. Gestern ist auch sie im Alter von 90 Jahren in ihrem Haus bei Augsburg in Bayern gestorben.
Am Telefon ist der Opernkritiker Jürgen Kesting in Hamburg. Herr Kesting, diese Sena Jurinac, sie stammte aus Travnik im heutigen Bosnien. Drei Jahre nach ihrem Debüt 1942 am Zagreber Nationaltheater kam diese junge Solistin aus dem tiefsten Balkan schon nach Wien. War das eigentlich – ja fast noch im Zweiten Weltkrieg – ein normaler Vorgang, Herr Kesting?
Jürgen Kesting: Es war ein ganz normaler Vorgang, weil für all die Staaten um Österreich herum Wien ein Sammelbecken war. Es gab Anton Dermota, es gab ganz, ganz viele Sänger, die aus Jugoslawien kamen und in Wien direkt nach dem Krieg – Wien war ein Auffangbecken für junge Künstler.
Schossig: Richtig los ging es dann für die Sängerin Jurinac ab 1945 mit den großen Mozart-Rollen, wo sie wohl sehr beliebt gewesen sein muss. Sie haben sie, Herr Kesting, als junger Mann selbst in Wien gehört.
Kesting: Ich habe an einem Abend darauf gewartet, dass Sena Jurinac – das heißt, ich hatte eine Nacht vorher um Karten angestanden, acht Stunden lang, war am nächsten Tag um 16 Uhr vor der Oper, wo sich eine Schlange bildete, dann wurde man eingelassen und dann kam heraus, dass sie nicht singen konnte, weil sie indisponiert war, und Herbert von Karajan musste ruckzuck eine Tosca auf die Bühne bringen. Und dann habe ich sie aber ein paar Wochen später in mehreren Rollen in Wien gehört, unter anderem als Butterfly und ich habe sie als Elisabetha in Don Carlos gehört, ich habe sie in Mozart-Partien gehört, und sie war in Wien nicht Sena Jurinac, sie war die Sena. Und noch 30, 40 Jahre später haben junge Sängerinnen gesagt, wenn man als Kerubino in Wien sang, wurde man sofort mit der Sena verglichen.
Schossig: Also eine Art Markenartikel, Herr Kesting. – Richtig hören müsste man sie ja, und das wollen wir jetzt auch gleich. Wir hören sie jetzt nämlich mal in ihrer berühmten Rolle im Rosenkavalier, wo sie den Octavian gesungen hat – hier eine Aufnahme 1960 unter der Leitung von Herbert von Karajan. Mit solchen Tönen hat "die Sena", wie Sie sagen, die Sympathien des Publikums damals erobert. Herr Kesting, was war es, mit dem sie das konnte? Wir hören es ja, aber sagen Sie es. Versuchen Sie, es auszudrücken.
Kesting: Es war eine Stimme – es gibt eine berühmte Metapher -, Romeo und Julia in einer Kehle, also eine Stimme, die durchaus die knabenhaften, androgynen Elemente hatte und auf der anderen Seite die weiblichen. Sie war auf der Bühne in der Darstellung eine eminent weibliche Figur, sie hatte aber auch dieses andere Timbre, und deshalb war sie ideal geeignet für die Hosenrollen, also für die Rollen von Knaben, die von Mädchen gesungen werden, also Kerubino und Octavian. Das ist ja eine berühmte Genialogie von Rollen, die es seit Beginn des 19. Jahrhunderts gegeben hat, bei Strauss eben in dem Octavian kulminiert. Und das hat keiner mehr so gesungen, oder nur ganz, ganz wenige. Christa Ludwig war ein ähnlicher Fall. Aber die Jurinac war in der Doppeldeutigkeit des Timbres ein ziemlich einzigartiger Fall.
Schossig: War sie denn auch eine Konkurrentin für die damals ja mindestens genauso beliebte Elisabeth Schwarzkopf, oder ergänzten beide sich?
Kesting: Ich denke, dass die Jurinac beliebter war als die Schwarzkopf. Die Schwarzkopf war sehr respektiert. Jurinac und Schwarzkopf haben einige Rollen geteilt. Beide haben Elvira in Don Giovanni beispielsweise gesungen. Aber wenn sie gemeinsam gesungen haben, wie in dem Rosenkavalier unter Karajan, war die Schwarzkopf eben der Sopran, die Marschallin, und die Jurinac war die androgyne Rolle, der Octavian. Schwarzkopf hätte bestimmte Partien der Jurinac nie singen können. Butterfly war jenseits der expressiven und stimmlichen Möglichkeiten der Schwarzkopf. Und die Jurinac ist da an die Grenze gegangen. Genauso Elisabetha in Don Carlos, zu der Karajan sie geholt hat. Das war eine einzigartige Rolle. Es gibt nur eine Sängerin in jener Zeit, die vergleichbar war in dieser Partie: das war die Callas.
Schossig: So weit Jürgen Kesting zum Tode der großen kroatisch-österreichischen Sängerin Sena Jurinac, die gestern im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Danke schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.